Brandt und die ČSSR: „Komplizierter als die DDR“

Willy Brandt (Foto: Karl-Heinz Münker-Appel, Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 DE)

Im Oktober vor 50 Jahren wurde Willy Brandt zum deutschen Bundeskanzler gewählt. Der Sozialdemokrat brachte frischen Wind in die deutsche Politik, vor allem in Richtung Osten. So erreichte er mit dem Prager Vertrag von 1973 auch eine erste Annäherung zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei. Doch ganz ohne Hindernisse kam man damals nicht zur Einigung. Der Historiker Tomáš Malínek vom Institut zum Studium totalitärer Regimes hat sich unter anderem mit der Rolle Prags in der deutschen Ostpolitik beschäftigt.

Willy Brandt  (Foto: Karl-Heinz Münker-Appel,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 2.0 DE)

Tomáš Malínek  (Foto: Archiv des Instituts zum Studium totalitärer Regimes)
Herr Malínek, Willy Brandt hatte ja schon seit Anfang der 1960er Jahre eine Öffnung der Bundesrepublik in Richtung Osten im Blick. 1969 wurde er schließlich Kanzler. Wie reagierte man denn in der Tschechoslowakei auf diese Wahl? Also in einem sozialistischen Land, das zu jener Zeit eher abkühlte…

„Im Jahr 1969 gab es sehr viel Misstrauen auf der tschechoslowakischen Seite. Man darf da den Prager Frühling nicht vergessen, der von zentraler Bedeutung für die Beziehungen Prags zu Westdeutschland war. Für die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik, aber auch die Linke in ganz Westeuropa, war der Prager Frühling etwas Faszinierendes – insbesondere die Idee eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes war dann eine tiefe und bittere Enttäuschung. In der späteren offiziellen Darstellung des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei wurde die sowjetische Intervention dann als notwendig betrachtet, da ja der Prager Frühling auch als eine Einmischung Westdeutschlands in die Politik der Tschechoslowakei bewertet wurde. Diese Haltung hielt sich bis 1989 nicht nur in den Medien und der Politik. Sie war auch im Vertrag mit der Sowjetunion festgeschrieben, der den Aufenthalt der Roten Armee in der Tschechoslowakei regelte.“

Der Prager Vertrag 1973 war eigentlich der letzte aller Ostverträge. Warum hat dieser Schritt der Annährung so lange gedauert?

„Die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei waren eigentlich komplizierter, als die mit der DDR.“

„Erstens gab es da dieses Misstrauen in der Tschechoslowakei. Zweitens lag es daran, dass gerade der Prager Vertrag juristisch sehr kompliziert war. Am Anfang der sogenannten ‚Neuen Ostpolitik‘ stand die Tschechoslowakei eigentlich im Abseits. Bonn verhandelte nämlich zunächst mit der Sowjetunion. Dass Prag erst einmal außen vor blieb und abwarten musste, war eigentlich ein Befehl des sowjetischen Außenministers Gromyko. Im September 1970 war schließlich der Moskauer Vertrag fertig, und erst dann hat die Tschechoslowakei mit verschiedenen Vorbereitungen für die Verhandlungen mit der Bundesrepublik begonnen. Die Gespräche starteten im Frühjahr 1971, wobei das Ganze bis 1973 dauerte. Man kann eigentlich sagen, dass die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei komplizierter waren, als die mit der DDR.“

Veröffentlichung der Bekanntmachung über das Münchener Abkommen  (Foto: A. Wagner,  Wikimedia Commons,  Public Domain)
Das lag auch daran, dass das Münchner Abkommen von 1938 sich als juristisch harte Nuss herausgestellt hat…

„Die Bundesrepublik und die Tschechoslowakei hatten ganz andere Vorstellungen, wie der Prager Vertrag aussehen sollte. Westdeutschland hatte dabei eher die Zukunft im Blick und wollte nicht so viel über die Vergangenheit reden. Die Tschechoslowakei wollte hingegen, dass der Text auch etwas über das Münchner Abkommen sagt. Der tschechoslowakische Außenminister und die Kommunistische Partei forderten eine Regelung, wonach das Abkommen von 1938 von Anfang an ungültig sein sollte. Prag wollte nämlich eine ungebrochene Souveränität über die Gebiete, die man damals als Sudetenland bezeichnet hatte. Nach der Vorstellung der Tschechoslowakei sollte es also so sein, als ob es das Münchner Abkommen nie gegeben hätte. Für die Bundesrepublik war das aber inakzeptabel. Nach drei Jahren Verhandlungen kam man letztlich zu dem Kompromiss, dass beide Seiten das Münchner Abkommen als nichtig betrachten, wobei man sich auf viele Ausnahmen einigte. Diese betrafen vor allem die Flüchtlinge und Vertriebenen, denn zum Beispiel deren Hochzeiten und Erbansprüche sollten weiterhin bestehen bleiben. Die juristische Situation der ehemaligen tschechoslowakischen Bürger sollte irgendwie gesichert sein. Aber auch nach 1973 war die Unwirksamkeit des Münchner Abkommens keine richtige Lösung, denn jeweils die Bundesrepublik und die Tschechoslowakei hatten eine ganz eigene Auslegung dieses Begriffs. Es war also vielmehr ein interessanter Kompromiss.“

Die Ostverträge zwischen der BRD sowie der DDR,  VR Polen,  ČSSR und den Viermächten  (Quelle: IMre,  Wikimedia Commons,  Public Domain)
Welche Rolle haben denn eigentlich die Sudetendeutschen bei den Verhandlungen gespielt? Denn am Ende sahen sie sich ja brüskiert durch den Vertrag…

„Die meisten von ihnen hatten nicht nur mit dem Prager Vertrag ein Problem, sondern mit dem gesamten Konzept von Brandts Ostpolitik. Für die SPD bedeutete das, dass einige Deutschen aus der Tschechoslowakei die Partei verließen. Außerdem orientierten sich die Landsmannschaften ab Ende der 1960er Jahre viel mehr an der konservativen Seite des deutschen Parteispektrums, also an der CDU und vor allem der CSU in Bayern. Extrem schwierig war die Situation für die Seliger-Gemeinde, also die sudetendeutschen Sozialdemokraten. Die Gemeinde selbst blieb Willy Brandt treu und unterstützte seine Ostpolitik. Gleichzeitig gab es aber auch viel Enttäuschung.“

Wir haben jetzt viel über die Vergangenheit gesprochen, aber im Prager Vertrag gab es tatsächlich auch einen Blick in die Zukunft. Man sicherte sich nämlich eine engere Zusammenarbeit beispielsweise in der Wissenschaft, Kultur oder im Sport zu. Gab es denn tatsächlich konkrete Projekte in der Folgezeit?

„Ja, aber das alles lief sehr langsam. Man kann sagen, dass eigentlich nur die wirtschaftlichen Beziehungen vorangingen. Denn sowohl die Bundesrepublik als auch die Regierung in Prag hatte ein Interesse daran, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit gut funktioniert. In diesem Bereich verbesserte sich die Lage in den 1970er Jahren auch tatsächlich. Was die anderen Bereiche betrifft, also Sport, Jugendaustausch oder Kultur, da hatte die tschechoslowakische Seite kaum ein Interesse, dass sich die Menschen da näher kommen. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Prager Vertrag für die Wirtschaft viel gebracht hat. Bei den anderen Themen war alles aber viel langsamer und schwieriger.“

„Was den Sport, Jugendaustausch oder die Kultur betrifft, da hatte die tschechoslowakische Seite kaum ein Interesse, dass sich die Menschen da näher kommen.“

Im Jahr 1989 kam schließlich die Wende, und in den 1990er Jahren dann die Deutsch-Tschechische Erklärung zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und nunmehr Tschechien. Wie viel Prager Vertrag steckte denn da eigentlich drin?

„Relativ viel. Die Deutsch-tschechische Erklärung von 1997 hat sich aber ein Stückweit mehr mit der Geschichte beschäftigt. Denn dort wurden zusätzlich Dinge geregelt, die keinen Platz im Prager Vertrag von 1973 gefunden hatten.“

Zum Abschluss vielleicht noch eine etwas spekulative Frage. Willy Brandt ist letztlich über den Osten gestolpert, und zwar in der Guillaume-Affäre. Wusste oder ahnte denn die Tschechoslowakei, dass die ostdeutsche Stasi einen Maulwurf im Bundeskanzleramt hatte?

„Nein, das wusste die Tschechoslowakei tatsächlich nicht. Der damalige Premierminister, Lubomír Štrougal, sagte später, dass er vom Sturz Brandts durch die Stasi sehr überrascht war. Gleichzeitig meinte er aber, dass diese Aktion sehr unprofessionell gewesen sei, da sie dem Ostblock selbst massiv geschadet habe.“