„Für viele Tschechen ein Symbol unerfüllter Erwartungen“ - Politologe Pehe über Havel

Václav Havel (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Die vergangenen Wochen standen in Tschechien auch im Zeichen der Erinnerung an Václav Havel: Vor 25 Jahren wurde er zum ersten nicht-kommunistischen Staatspräsidenten nach der „Samtenen Revolution“ gewählt. Wie hat Havel dieses Amt ausgefüllt? Wie hat er die tschechische Gesellschaft nach 1989 geprägt? Jiří Pehe war lange Jahre außenpolitischer Berater Havels und von 1997 bis 1999 Direktor der Politischen Abteilung der Kanzlei des tschechischen Präsidenten. Zur Debatte um das Vermächtnis von Václav Havel nun ein Gespräch mit dem Politologen.

Václav Havel  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Herr Pehe, Sie waren Ende der 1990er Jahre Berater von Václav Havel. Worin sehen Sie Havels größtes Verdienst als Präsident?

„Ich glaube, Havels größtes Verdienst besteht darin, dass er die Tschechische Republik fest in den westlichen politischen Strukturen verankert hat. Dabei hatte er noch als Dissident eine ganze Reihe naiver, zum Teil utopischer Vorstellungen darüber, wie die Welt funktionieren sollte. Aber als Präsident hat er sich sehr realistische Ziele gesetzt, die immer mit seinem Namen verbunden bleiben werden: den Nato-Beitritt Tschechiens und die Einleitung des EU-Beitrittsprozesses.“

Was war in Ihren Augen Havels größtes Versäumnis als Präsident?

Václav Klaus  (Foto: Khalil Baalbaki,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Havel hat den gesamten Zerfallsprozess der Tschechoslowakei nicht richtig im Griff gehabt. Er war ein überzeugter Verfechter der tschechoslowakischen Föderation und sah die Lage sehr stark aus einer Prager Perspektive. Seine Freunde in der Slowakei waren auch größten Teils überzeugt von der Idee des gemeinsamen tschechoslowakischen Staates. Daher hat Havel nicht ganz verstanden, was in der Tschechoslowakei los war und ist in den Strudel der Ereignisse geraten. Letztlich ist er im Auflösungsprozess sogar zu einer etwas überflüssigen Figur geworden. Der Prozess geriet in die Hände von Václav Klaus und Vladimír Mečiar.“

Wie bewerten Sie die gegenwärtige Debatte um Václav Havel in Tschechien?

„Ich denke, Václav Havel ist immer noch für viele Menschen mit großen und zum Teil enttäuschten Erwartungen verbunden. Nicht weil Havel diese Erwartungen selbst enttäuscht hätte, sondern weil er das Symbol für große Veränderungen war, in die viele Menschen sehr viel Hoffnung gelegt hatten. Und dann verlief der Wandel aber nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Die heutige Debatte bewegt sich großenteils entlang dieser großen und zum Teil unrealistischen Erwartungen. Hinzukommt als zweites Problem, dass Havel nicht nur ein Denker und ehemaliger Dissident war, sondern auch ein Politiker, der konkrete Schritte in der Innenpolitik unternehmen musste. Und viele Menschen haben sich diese konkreten Schritte anders vorgestellt. Sie hatten das Gefühl, Havel stehe auf der Seite bestimmter politischer Parteien. Ich glaube, wenn die Generation der unmittelbar Beteiligten gestorben ist, wird das historische Bild Havels, das sich die künftige Generation von ihm macht, noch positiver ausfallen. Es ist auch jetzt schon sehr positiv angesichts der politischen Lage hierzulande und dem Misstrauen der Tschechen gegenüber der Politik generell und gegenüber den Parteien. Aber insgesamt werden Havels Verdienste durchweg positiv gesehen; das hat sich auch bei seiner Beerdigung gezeigt.“

Alexander Dubček  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Havel war über lange Jahre das Gesicht Tschechiens im Ausland. Viele Tschechen aber fühlten sich durch ihn nicht vertreten. Hätte heute ein Politiker wie Václav Havel Chancen, in Tschechien bei einer Direktwahl zum Präsidenten gewählt zu werden?

„In meinen Augen hätte Václav Havel unter normalen politischen Umständen niemals Präsident werden können. Er wurde durch die Geschichte in dieses Amt katapultiert. Es war ein Zusammenspiel von Zufällen. Und die Geschichte hat sich letztlich für ihn, nicht für Alexander Dubček entschieden. Einen dritten Kandidaten gab es nicht. Wenn sich Václav Havel unter heutigen Bedingungen als Schriftsteller und Intellektueller um das Präsidentenamt bewerben würde, hätte er nach meiner Meinung so gut wie keine Chance gewählt zu werden. Denn ein Präsident eines demokratischen Landes macht normalerweise die verschiedenen Phasen von gesellschaftlichem Engagement bis hin zu Erfahrungen in einer politischen Partei durch. Und erst dann kann er Präsident werden. Václav Havel ist also im Grunde zufällig Präsident geworden.“

‚Samtene Revolution‘  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Die Debatte um Václav Havel ist auch eine Debatte darüber, wo die tschechische Gesellschaft heute steht, 25 Jahre nach der „Samtenen Revolution“. Und wie sie mit der neuen Freiheit und Demokratie umgegangen ist...

„Viele Tschechen haben die Tendenz, die Dinge pessimistischer zu sehen, als sie sind. Das hängt wieder damit zusammen, dass viele Menschen unrealistische Erwartungen hatten, was Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft bedeuten. Und vor allem hatten sie die idealisierte Vorstellung, dass es der Tschechischen Republik innerhalb weniger Jahre genauso gehen werde wie Deutschland oder Österreich. Zudem dachten die Menschen, Freiheit bedeute einfach machen zu können, was man wolle, ohne dass diese Freiheit auch mit bestimmten Pflichten verbunden wäre. Und nicht zuletzt haben viele Menschen damals nicht begriffen, dass echte Demokratie nur dann funktioniert, wenn sich die Gesellschaft auch ‚von unten‘ engagiert und nicht nur alle vier Jahre wählen geht. All diese unerfüllten Erwartungen verkörpert für viele Menschen heute noch Václav Havel. Aber bei aller berechtigten Kritik an den Fehlern der letzten 25 Jahre, wie etwa der Korruption, hat sich in dieser Zeit ein überwältigender Wandel hierzulande vollzogen. Das werden sich künftige Generationen noch viel stärker vergegenwärtigen als die heutigen Generationen, die die ‚Samtene Revolution‘ miterlebt haben.“

Jiří Pehe  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Anhänger von Václav Havel kritisieren heute, dass sich die tschechische Außenpolitik von dessen Grundsatz einer menschenrechtsorientierten Politik abgewendet hätte und auch der tschechische Präsident etwa in Russland und China mehr auf wirtschaftliche Interessen achte als auf moralische Prinzipien...

„Ich glaube, es ist ein großer Fehler – auch in symbolischer Hinsicht –, dass sich die gegenwärtige tschechische Außenpolitik vom Erbe Václav Havels distanziert. Es geht dabei nicht darum, wie oft behauptet wird, dass man Havel und seine Politik unkritisch vergöttern müsste. Sondern es geht darum, dass Václav Havel auf symbolischer Ebene etwas verkörpert, das für das Bild Tschechiens im Ausland ungemein wichtig ist. Und zwar, dass wir uns 1989 klargemacht haben, was an dem totalitären Regime so abstoßend war und wogegen wir überall auf der Welt kämpfen sollten. Das ist ein sehr wichtiges Erbe, das die tschechische Außenpolitik in den ersten Jahren nach 1989 geprägt hat. Und wenn wir heute meinen, wir müssten diese Einstellung zu Menschenrechten grundsätzlich umbewerten, dann schütten wir in meinen Augen das Kind mit dem Bade aus. Diese Distanzierung von Havels Politik der Menschenrechte bringt Tschechien auf internationaler Ebene nur Schaden, nichts anderes.“