Sudetensprecher Bernd Posselt: „Ich bin keine nachgeborene Generation“

Bernd Posselt

Bernd Posselt ist der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe und damit der höchste Repräsentant der verschiedenen sudetendeutschen Organisationen. 1956 in Pforzheim geboren gehört er zu einer Generation, die nicht mehr in den Sudetengebieten aufgewachsen ist. Christian Rühmkorf hat im Gespräch mit Bernd Posselt nachgefragt, wie tief seine sudetendeutschen Wurzeln wirklich gehen und wie er damit klarkommt, dass man ihn in der Heimat seiner Vorfahren nicht besonders mag.

Herr Posselt, den jüngsten Kampf um die Rechte der Sudetendeutschen haben Sie verloren: Die Olmützer Quargeln sind laut EU eine geschützte geografische Angabe beziehungsweise eine geografisch geschützte Marke und damit in Tschechien beheimatet. Ist das schmerzhaft für Sie, oder ist das schon alter Käse?

„Also ich glaube nicht, dass wir diesen Kampf verloren haben. Diesen Kampf haben die verloren, die eine gute Gelegenheit haben vorübergehen lassen. Eine Gelegenheit, ohne große Schmerzen und ohne große Kosten ein Zeichen der Versöhnung und Wiedergutmachung zu setzen. Warum haben wir nicht die Chance genutzt – wie das übrigens tschechische Beamte und Politiker regierungsintern vorgeschlagen haben – um unsere gemeinsamen Spezialitäten zu schützen? Das wäre ein Stück Versöhnung gewesen. Die Chance ist leider vertan worden.“

Olmützer Quargeln  (Foto: Tomáš Blaha,  www.regionmohelnicko.cz)
Kommen wir zu Ihnen persönlich: Sie sind in Pforzheim geboren, Ihr Vater ist Sudetendeutscher, Ihre Mutter stammt aus der Steiermark. Was waren das für familiäre Verhältnisse, in denen Sie aufgewachsen sind?

„Ich bin in einer sehr bewusst alt-österreichisch orientierten Familie aufgewachsen. Meine beiden Großväter waren in der k. u. k. Armee. Insofern ist das natürlich schon mal eine gemeinsame Geschichte der beiden Familienzweige. Dann kennen auch beide Seiten die Vertreibung. Ein Teil meiner steirischen Familie wurde aus der Untersteiermark, aus dem heutigen Slowenien vertrieben. Ein anderer Teil war slowenisch. Ich habe auch tschechische Vorfahren. Der väterliche Teil wurde aus Böhmen vertrieben – auch hier gibt es wieder eine Parallele. Und natürlich wächst man so vielleicht auch in bewusster Weise als Europäer auf. Unsere Eltern haben uns von Kindheit an zu bewussten Christen und zu bewussten Europäern erzogen und haben gesagt: Eure wichtigste Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass euch und euren Nachkommen nie wieder so etwas passiert, wie es uns passiert ist.“

Ihr Vater stammt aus Gablonz / Jablonec in Nordböhmen. Was verbindet Sie heute persönlich mit Gablonz, was mit Tschechien?

„Mein Großvater hat in den Zwanziger Jahren als Sohn eines Glasknopfmalers eine große Etui- und Kartonagenfabrik für die Gablonzer Schmuckindustrie im Isergebirge aufgebaut. Mit der waren und sind wir sehr verbunden. Für mich sind so prägende Erinnerungen alles, was mit böhmischem Glas zusammenhängt. Das hat unsere Familie Jahrhunderte lang geprägt. Und das prägt auch uns als nächste Generationen, denn bei uns sind auch schon die nächsten Generationen schon wieder engagiert und aktiv. Das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt. Auch die Sagen und Märchen des Isergebirges, mit denen ich groß geworden bin. 1979 waren wir das erste Mal wieder da. Unser Vater wollte eigentlich nicht mehr fahren. Wir Kinder haben ihn aber gezwungen. Wir haben darauf bestanden und gesagt: Wenn du uns das nicht zeigst, dann werden wir nie wissen, wo wir eigentlich herkommen. Und seit 1979 haben wir dann eine sehr enge persönliche Bindung auch zur Landschaft gehabt. Einer der Söhne meines Bruders ist zum Beispiel in Haindorf (Hejnice), unserem Wallfahrtsort im Isergebirge, getauft worden. Da hat also schon die nächste Generation wieder einen persönlichen Bezug. Und ich gehe zum Beispiel jedes Jahr am 2. Juli zur deutschen Wallfahrt dort hin. Ich bin natürlich auch viel in Gablonz, in Reichenberg (Liberec) und der ganzen Region. Also wir haben alle eine enge persönliche Bindung dazu, und für uns alle bedeutet das sehr viel.“

Vielleicht ist es für Sie eine banale Frage - Ihre Identität ist: Sie sind waschechter Sudetendeutscher?

„Ich bin ein waschechter Sudetendeutscher und dadurch Angehöriger des vierten Stammes Bayerns. Das ist eine bestimmte Idee Bayerns, die schon König Ludwig I., der Schöpfer des modernen Bayern, begründet hat. Damals wurde ja Bayern um Schwaben, Franken und die Pfalz vergrößert. Da hat man dann gesagt, dass man Schwabe und Bayer sein kann, oder Franke und Bayer. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte dann der sozialdemokratische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner die Idee mit dem vierten Stamm. Er war der einzige sozialdemokratische Ministerpräsident, den Bayern je hatte. Der hat dann gesagt, dass es genauso den vierten bayerischen Stamm gibt – statt der Pfälzer, die ja abgetrennt wurden. Das sind die Sudetendeutschen und so kann man eben Sudetendeutscher und Bayer sein.“

Wilhelm Hoegner
Sprechen Sie Tschechisch?

„Ich verstehe relativ viel Tschechisch. Als Politiker mit einer 80 bis 100 Stunden-Woche habe ich nicht die Zeit, die Grammatik zu lernen. Und die tschechische Grammatik ist nun wirklich nicht leicht. Mein Bruder hat wesentlich mehr Tschechisch gelernt und mein Vater kann ein bisschen Tschechisch. Mein Großvater konnte es aber fließend sprechen und war sehr stolz drauf, weil er in der k. u. k. Monarchie aufgewachsen ist. Und da war es üblich, dass man den so genannten ´Handel´ über die Sprachgrenzen hinweg betrieben hat. Er war fast ein Jahr in Tschechien, um perfekt Tschechisch zu lernen. Und das als Sohn eines ganz einfachen Handwerkers aus dem Isergebirge. Und bei seiner sudetendeutschen Familie waren wiederum regelmäßig tschechische Kinder, um Deutsch zu lernen. Das war damals selbstverständlich. Als Kind habe ich von ihm ordentliche Aussprache und das ordentliche Grüßen gelernt. Später kam dann ein passiver Wortschatz dazu, weil ich viel in Tschechien bin. Ich kann also Zeitung lesen, aber nicht sprechen, weil ich keine Grammatik kann.“

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
Sie haben sich sehr früh für Europa engagiert. Schon 1975 haben Sie die als recht konservativ geltende Paneuropäische Jugend in Deutschland gegründet. Wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Thema Sudetendeutsche und in erster Linie mit dem Thema Vertreibung in Berührung gekommen?

„Mit dem Thema Vertreibung bin ich bei meiner Geburt in Berührung gekommen. Seit meiner Geburt ist das eines der tragenden Themen um mich herum gewesen. Ich bin in einer Familie im Isergebirge aufgewachsen, mit dem ganzen Dialekt und den Traditionen. Mit jedem Onkel und jeder Tante, die gestorben sind, ist ein Stück davon unwiederbringlich verschwunden. Ich bin insofern keine nachgeborene Generation, sondern ich habe in der eigenen Familie ständig einen enormen Kulturverlust erlebt. Ich habe erlebt, wie das immer weniger wurde. Und da haben wir Jungen uns entschlossen, dass wir das, was davon für die Zukunft erhaltenswert ist, erhalten wollen.“

Vertreibung der Deutschen
Haben Sie selbst Kinder?

„Ich habe selbst keine Kinder, aber mein Bruder hat vier Kinder. Die sind alle engagiert.“

Wenn Sie Kinder hätten, was würden Sie ihnen als Botschaft mitgeben?

„Das Allerwichtigste ist, zu wissen, dass Nationalismus die größte Dummheit der Menschheitsgeschichte ist. Dass es das Schlimmste ist, wenn man dem anderen einfach ein Etikett anheftet und ihn dann bekämpft und ausgrenzt. Ich würde meinen Kindern mitgeben, dass Tschechen und Deutsche Nachbarn, Freunde und Partner sind. Wir waren das in der Geschichte immer und werden das auch immer bleiben. Und ich sage immer: Tschechen und Sudetendeutsche sind eigentlich Verwandte, sind Cousins und Cousinen. Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Verwandten nicht. Deswegen gibt es manchmal Spannungen und manchmal nicht. Aber ich glaube, dass wir wirklich schauen sollten, dass wir unser Familienleben zwischen Tschechen und Sudetendeutschen in Ordnung halten.“

Franz Neubauer
Sie haben es schon angesprochen: Familie kann man sich nicht aussuchen. Können Sie eigentlich gut damit leben, dass die breite tschechische Öffentlichkeit Sie nicht besonders mag?

„Also ich kann Ihnen ehrlich sagen: Zunächst mal habe ich das nie erlebt. Ich bin ja sehr viel im Land und ich erlebe meistens das Gegenteil. Und zwar nicht nur bei den Menschen, die ich kenne, sondern auch bei wildfremden Leute. Ich gehe in irgendein Gasthaus, da kommen die Leute und setzen sich an den Tisch. Mir ist es schon passiert, dass ich in einem Gasthaus war und dann gegangen bin und dann hat man mir gesagt: ´Das Bier hat der Herr am Nachbartisch bezahlt, aus Sympathie für Sie´. So Sachen passieren mir ununterbrochen. Ich glaube eher, dass das ein gewisses politisches und mediales Phänomen ist. Natürlich gibt es Leute, die irgendwas gegen einen haben. Zum Teil sind das auch Zerrbilder, die noch aus der Zeit des Kommunismus kommen, die mit einem selbst wenig zu tun haben. Ich erinnere mich gut an die Zeit, als der Franz Neubauer dasselbe Zerrbild war. Da war ich der Gute. Vorher war der Walter Becher der Böse, da war der Franz Neubauer der Gute. Also immer der, der an der Spitze steht, der ist für gewisse Leute böse. Damit muss man leben. Das gehört zu der Spitzenfunktion. Aber persönlich habe ich viel mehr Positives als Negatives erlebt. Ich könnte Ihnen jetzt stundenlang ergreifende Erlebnisse erzählen, die ich mit Tschechen hatte. Ich habe eigentlich fast nie etwas Negatives erlebt.“

Walter Becher  (links)
Sind Sie Optimist, Herr Posselt?

„Ich bin ein genetischer Optimist. Ich kann überhaupt nicht pessimistisch sein, bin zum Pessimismus unfähig.“

Welchen Stand werden also die sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen einmal erreichen?

„Ich hoffe, dass wir es lernen, die Wunden der Vergangenheit so zu heilen, dass wir auch wieder gemeinsame Zukunftsprojekte entwickeln können. Und noch einmal: Kein Sudetendeutscher und kein Tscheche kann die eigene Identität wirklich verstehen, wenn er nicht den jeweils anderen kennt.“

Bernd Posselt, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.