Zurück in die Zeit von Zylinderhüten und ungeklärten Morden: Die Tradition der Drehorgeln in Tschechien

Foto: Vladan Dokoupil, Archiv des Tschechischen Rundfunks

Sie haben für Unterhaltung gesorgt, noch bevor Grammophon, Radio und Fernsehen ihren Einzug in die Wohnungen hielten – die Moritaten- und Bänkelsänger mit ihren Drehorgeln. Sie haben dabei ebenso die Rolle der heutigen Boulevardzeitung, des Nachrichtenmoderators und des Alleinunterhalters übernommen. Auch in Tschechien hat der Bänkelsang eine lange Tradition.

Foto: Vladan Dokoupil,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Die Drehorgel ist ein eigenartiges Instrument, wenn man sie überhaupt Instrument nennen kann. Vielmehr ist es ja eine Kiste mit Rädern, die melodische Töne produziert. In jedem Fall aber beschwört die Drehorgel eine längst vergangene Zeit der Zylinderhüte, Smokings, Reifröcke und ungeklärter Morde herauf. Die Geschichte der Drehorgel geht aber noch viel weiter zurück, als in das ausgehende 19. Jahrhundert. Dazu erklärt Patrik Pařízek vom Technischen Museum in Brno / Brünn, der selbst auch Drehorgelspieler ist:

„Die Drehorgeln tauchen im heutigen Tschechien das erste Mal zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf. Sie waren zunächst eine Domäne der Reichen. Diese betrachteten sie eher als Möbel und ließen sie nur zu besonderen Anlässen erklingen. Bei den einfachen Leuten hat sich die Drehorgel tatsächlich erst zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etabliert. Das hängt vor allem mit der verstärkten Produktion des Instruments zusammen, was gleichzeitig den Preis drückte. Nichtsdestotrotz waren die Drehorgeln nicht jedem zugänglich und mussten von ihren Spielern meist ausgeliehen werden. Zu der Zeit nannte man sie auch ‚Kiosk zum schnellen Geldverdienen‘ für Kriegsinvaliden. Diese konnten nur schwer eine Arbeit finden und bekamen deswegen von den Städten eine Drehorgel zur Verfügung gestellt, um sich etwas hinzuzuverdienen.“

Patrik Pařízek  (Foto: Archiv von Patrik Pařízek)
Doch was ist eigentlich eine Drehorgel überhaupt und wie funktioniert sie? Auch das kann Patrik Pařízek erläutern, er selbst spielt eine Harmonipan der Firma Hofbauer aus Göttingen:

„Eine Drehorgel ist ein Musikschrank, der hauptsächlich durch Luftdruck funktioniert. Zunächst wird durch das Drehen einer Kurbel die Luft in einen Ballon gedrückt. Wenn man ein bestimmtes Medium in Drehung versetzt, meist ist es eine Walze mit kleinen Nägeln, werden Ventile an dem Behälter geöffnet, in dem sich der Luftballon befindet. Dadurch wird die Luft in die Orgelpfeifen gedrückt und eine Melodie ertönt. Das ist das Grundprinzip der Drehorgel, mit der ein Drehorgelspieler in die Stadt ziehen und sein Publikum unterhalten kann.“

Drehorgeln – Die Mediathek vergangener Zeiten

Foto: Wellcome Trust,  CC BY 4.0
Für einen Drehorgelspieler ist es aber nicht getan, wenn er nur an einer Kurbel dreht und die Musik abspielt. Ein Musiker dieses Faches muss noch weitaus mehr können, auch wenn dies in der Geschichte nicht immer so gut geklappt hat. Patrik Pařízek:

„Zum Drehorgelspiel gehört ebenso der Gesang. Deswegen wurden die Drehorgelspieler jedoch oft aus den Städten vertrieben. Meist konnten sie einfach nicht gut singen. Auf der anderen Seite gab es nicht selten auch einige Künstler, die ihr Instrument ganz hervorragend begleiten konnten mit ihren Liedern.“

Die Lieder der Drehorgelspieler sind mit der Zeit ein eigenes Musikgenre geworden. Viele ihrer Texte haben sich zu Stadtschlagern gemausert. Im deutschsprachigen Raum ist vor allem eine Moritat, wie die Lieder um ungeklärte Morde im Fachjargon des Metiers heißen, jedem Gymnasiasten bekannt: die „Moritat vom Mäckie Messer“ von Bertolt Brecht, zu der Kurt Weill die Musik komponiert hat. Was aber genau eine Moritat ist, weiß Jan Bondra vom Technischen Museum in Brünn, der ebenfalls Drehorgelspieler ist:

Moritatensänger
„Eine Moritat ist eigentlich eine gesungene Geschichte, die von einer Drehorgel begleitet wird. Daran beteiligt sind also zwei Personen, von denen einer das Instrument bedient. Ein anderer steht vor einem großen Plakat und zeigt mit einem Zeigestab auf Bilder, die das Lied illustrieren. In der Vergangenheit war das im Grunde immer das, was wir heute auch in den Fernsehnachrichten sehen: Wer hat wen umgebracht.“

Aktive Drehorgelspieler sowie Moritaten- oder Bänkelsänger gibt es heute nicht mehr viele in Tschechien. Man könne sie an zwei Händen abzählen, sagt Jan Bondra. Nachdem das Radio in den frühen dreißiger Jahren in Mode gekommen ist, war schlicht kein Bedarf mehr da für die erzählende Straßenmusik. Die Drehorgeln selbst seien aber noch lange nicht ausgestorben, meint Jan Bondra. Und das nicht ohne eine gewisse Begeisterung.

Drehorgel  (Foto: Flominator,  CC BY-SA 3.0)
Er selbst betreut die Abteilung der Drehorgeln im Technischen Museum in Brünn. Es ist eine der größten Sammlungen der Musikschränke in der Tschechischen Republik. Eine weitere befindet sich im Technischen Museum im nordböhmischen Liberec / Reichenberg. Zudem sind viele Drehorgeln im Besitz von begeisterten Sammlern, die sie laut Bondra meist auch in einem ausgezeichneten Zustand halten. Er selbst ist leitendes Mitglied des Freundeskreises mechanischer Instrumente und Drehorgeln. Auch dieser Verein kümmert sich um das Erbe der Bänkelsänger und ihrer Apparate.

Worüber singen aber die modernen Drehorgelspieler, die nach wie vor einer übermächtigen Konkurrenz durch Fernsehen und Radio ausgesetzt sind? Man versuche, alte Traditionen wieder aufleben zu lassen, so Jan Bondra:

Jan Bondra  (Foto: Archiv des Museums Beroun)
„Die klassischen Moritaten- und Bänkelsänger gibt es ja so nicht mehr. Ich und mein Kollege Patrik Pařízek bearbeiten aber zurzeit eine interessante Melodie, die eigentlich etwas mit dem dummen Augustin zu tun hat. Dazu haben wir einen Text gedichtet über eine Fliege, die auf der Mauer sitzt und schläft. Im Grunde wollen wir dadurch den Bänkelsang wiederbeleben. Auch auf dem Drehorgeltreffen in Pekařov stellen wir jedes Jahr eine neue Moritat oder ein neues Bänkellied vor. Damit sind wir wohl auch die einzigen in der Tschechischen Republik.“

„Die Drehorgel lebt!“ – Und das nicht nur in Tschechien

Treffen der Drehorgelspieler in Prag  (Foto: Archiv des Prager Nationalmuseums)
Das Treffen der Drehorgelspieler in Pekařov ist jedoch nicht das einzige in Tschechien. Ähnliche Veranstaltungen finden auch in Brünn und Prag statt. In diesem Jahr lief das Festival in der tschechischen Hauptstadt Anfang August unter dem Titel „Die Drehorgel lebt!“. Es hat zahlreiche Künstler aus Tschechien und aus dem Ausland angezogen.

Auf dem diesjährigen Treffen wurde die Kurbel auch von einer Frau bedient, was in dem sehr männlichen Drehorgelgeschäft eher ungewöhnlich ist. Es handelt sich dabei um Christa Hohenhäuser aus Berlin, die unter dem Künstlernamen Jubel-Jette auftritt. Für das Spielen einer Drehorgel bringt sie aber nicht weniger Begeisterung auf als ihre männlichen Kollegen:

Jubel-Jette  (Foto: YouTube)
„Vor 35 Jahren habe ich in Berlin noch im Tourismus gearbeitet und Veranstaltungen organisiert. Darunter war auch das Drehorgel-Fest in Berlin. Dort habe ich dann diese ganzen liebenswerten Menschen kenngelernt und mir gesagt: ‚Ich pfeif auf den öffentlichen Dienst und werde Leierkastenfrau!‘ Das mache ich jetzt schon seit 33 Jahren und es macht mir nach wie vor sehr viel Freude.“

Von Mord und Totschlag singt Jubel-Jette jedoch nicht unbedingt. Sie möge eher die alten Schlager von Zarah Leander oder Marlene Dietrich, so die lebensfrohe Berlinern. Dennoch bewundere sie auch die Kollegen, die wunderschöne alte Moritaten sängen.

Treffen der Drehorgelspieler in Prag  (Foto: Archiv des Prager Nationalmuseums)
Zum ersten Mal ist das Urgestein der Berliner Drehorgelszene, wie sie die Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ aus der deutschen Hauptstadt genannt hat, jedoch mit ihren Drehorgelfreunden nicht in Prag. Doch immer wieder kommt sie gerne an die Moldau:

„Unsere Premiere hatten wir hier vor zwei Jahren und da habe ich das erste Mal die tschechischen Kollegen kennengelernt. Wir waren uns auch gleich sympathisch damals. Und diesmal habe ich auch wieder gemerkt, dass die Freude riesig ist bei jedem Wiedersehen: Umarmungen, Herzlichkeiten, es macht einfach Freude hier. Das Publikum in Prag ist einfach einzigartig. Man sieht es ja hier auf dem Drehorgel-Treffen: Menschen ohne Ende. Und alle haben ein großes Interesse an uns, das ist wirklich super.“