„Wir wollen den Begriff Prager deutsche Literatur abschaffen“

Foto: Archiv Radio Prag

Eine neue Forschungsstelle für deutschsprachige Literatur aus Böhmen wurde Ende Mai an der Karlsuniversität in Prag feierlich eröffnet. Einem bedeutenden tschechischen Germanisten und Literaturwissenschaftler zu Ehren trägt sie den Namen „Kurt Krolop Forschungsstelle für deutschböhmische Literatur“. Dieses Phänomen der Literatur- und Kulturgeschichte war seit den 1960er ein Forschungsthema in Prag, von großer Bedeutung waren die beiden sogenannten Liblicer Konferenzen in den Jahren 1963 und 1965. Doch heute stehen neue Themen im Fokus: die Kommunikationsnetzwerke, verschiedene Gruppierungen und der kulturelle Austausch zwischen deutscher und tschechischer Literatur. Die Forschungsstelle wurde von fünf LiteraturwissenschaftlerInnen gegründet. Im Folgenden ein Gespräch mit zwei von ihnen: dem Leiter des Forschungsteams, Manfred Weinberg, und einem der Mitbegründer, Štěpán Zbytovský.

An der Karlsuniversität in Prag wird eine neue Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur gegründet. Diese deutschsprachige Literatur aus Prag und Böhmen war auch schon in der Vergangenheit ein Forschungsthema hier an der Uni. Herr Weinberg, was ändert sich eigentlich mit der Gründung dieser Forschungsstelle?

Manfred Weinberg  (Foto: Archiv der Prager Karlsuniversität)
Manfred Weinberg:„Die deutsch-böhmische Literatur war sowohl an der Universität ein Thema, aber vor der Niederschlagung des Prager Frühlings auch an der Akademie der Wissenschaften der Tschechoslowakischen Republik. Die Voraussetzungen waren damals, dass man gesagt hat, die Prager deutsche Literatur oder die Autoren der Prager deutschen Literatur seien alles humanistische Autoren gewesen. Dagegen gab es die bösen, nationalistischen oder präfaschistischen sudetendeutschen Autoren. Eduard Goldstücker hat geschrieben, dass die Prager Autoren der Prager deutschen Literatur in einem dreifachen Ghetto als Juden unter Christen, als Deutsche unter Tschechen und als sozial Höhergestellte unter sozial Niedrigergestellten gelebt hätten. Alle diese Zuschreibungen haben eigentlich nur dazu gedient, die Voraussetzungen zu klären, warum man als Marxist unter kommunistischen Bedingungen über diese dekadenten bürgerlichen, bourgeoisen Autoren reden kann. Inzwischen ist klar, dass diese harten Abgrenzungen falsch waren, zumindest übertrieben, sodass wir uns einfach um neue Voraussetzungen bemühen. Wir versuchen, das ganze Kommunikationsnetz, in dem die Autoren der Prager deutschen und deutsch-böhmischen Literatur gelebt haben, sehr deutlich zu machen.“

Welche sind die konkreten Ziele der Forschungsstelle? Gibt es zum Beispiel konkrete Bücher, die Sie planen?

Štěpán Zbytovský:„Einerseits sind es Dinge, die auf der neuaufgebauten Webseite zugänglich sind. Das sind zwei Datenbanken. Die eine ist eine bibliografische Datenbank zur deutsch-böhmischen Literatur, in der alle möglichen Anthologien und Zeitschriften allmählich erfasst werden sollen. Daneben gibt es auch eine Textdatenbank, in der eher Texte von Akademikern als von Literaten gesammelt werden, sie waren in Prag und im Umfeld der deutsch-böhmischen, deutsch-tschechischen Kultur und Universitätsbetriebe irgendwie tätig. Für die breitere Öffentlichkeit werden wahrscheinlich die Publikationen dann von größerem Interesse sein. Es entsteht jetzt schon ein Handbuch für die deutschsprachige Literatur in den böhmischen Ländern, das im nächsten Jahr beim Metzler-Verlag erscheinen soll. Daran ist nicht nur unsere Forschungsstelle sondern es sind auch Kollegen aus Olmütz, vom Münchener Adalbert-Stifter-Verein und von der Universität Weimar beteiligt. Im weiteren Horizont planen wir eine umfangreichere akademische Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Böhmen, tatsächlich nur auf Böhmen eingeschränkt, aber desto fundierter und tiefergehend. Und wir veranstalten jetzt schon seit mehr als einem Jahr eine Reihe von Vorlesungen – sowohl im Österreichischen Kulturforum hier in Prag als auch im Prager Literaturhaus. Das sind zwei Reihen. In diesen Veranstaltungen hoffen wir, eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen, was – wie ich finde – auch ganz gut gelingt. Mit dem Prager Literaturhaus besteht eine ganz natürliche Koexistenz und Zusammenarbeit, die wir fortführen wollen.“

Austausch zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Literatur und Kultur

Wollen Sie sich im Rahmen der Forschungsarbeit auch der Beziehung zwischen der deutschen und der tschechischen Literatur und Kultur in Böhmen widmen?

Weinberg:„Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Ich habe vorhin schon einmal deutlich gemacht, dass eine Annahme war, dass die Autoren der deutschen Literatur in Prag mit den tschechischsprachigen Autoren gar nicht kommuniziert hätten. Dies ist inzwischen von HistorikerInnen deutlich als Fehler, als zu harte Abgrenzung nachgewiesen worden. Es geht tatsächlich viel mehr darum, diese Austauschprozesse zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Literatur und auch zwischen deutschgeprägter und tschechischer Kultur, die bisher ignoriert worden sind, viel stärker in den Fokus zu rücken. Das wird eine der ganz wichtigen Aufgaben dieser Forschungsstelle sein.“

Die bekannteste Phase der deutsch-böhmischen Literatur oder der Prager deutschen Literatur liegt am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehungsweise bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Wollen Sie sich auf diese Zeit beschränken, oder dringen Sie noch tiefer in die Geschichte ein?

Štěpán Zbytovský  (Foto: Archiv der Prager Karlsuniversität)
Zbytovský:„Nein, auf diese Zeit wollen wir uns nicht beschränken. Andererseits natürlich ist das eben diejenige Epoche, die das breitere Publikum am meisten interessiert. Von daher wollen wir auch nicht ausweichen. In den ersten Arbeiten fokussieren wir vor allem die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Aber es gibt beispielsweise hier bei uns am Germanistischen Institut zwei entstehende Doktorarbeiten – eine davon ist jetzt frisch abgeschlossen –, die tiefer in das 19. Jahrhundert gehen. Diesen Trend wollen wir stärken. Nicht nur, dass hier plötzlich irgendwann in den 1890er eine großartige Literatur aufgetaucht ist, aber vorher gab es hier auch schon sehr interessante Phänomene der Kultur- und Literaturgeschichte. Diese haben auch in Kontakt mit dem Gesamtkontext der europäischen Literatur gestanden.“

Weinberg: „Ich ergänze dies noch durch eine kleine Anekdote: Lucie Černohousová, die frühere Leiterin des Prager Literaturhauses, hat kurz vor ihrem Ausscheiden sehr viele Kollegen gefragt, was denn für sie die Prager deutsche Literatur wäre. Peter Demetz hat ganz in unserem Sinne – und wir können uns also einfach auf ihn beziehen – geantwortet: ‚alles deutsch Geschriebene in Prag von den Anfängen‘. Das ist unser Forschungsfeld: von den Anfängen bis heute, soweit es nach dem Zweiten Weltkrieg noch fortgeführt worden ist. Das Problem dabei ist, dass wir – sehr vorsichtig gesprochen –mindestens zwanzig Leute für zehn Jahre bräuchten, wenn wir das alles untersuchen wollten. Und die haben wir nicht. Wir haben sogar keine wirkliche Grundfinanzierung für diese Forschungsstelle. Drittmittelanträge hier im Land und in Deutschland sind immer wieder gescheitert, weil sich keiner dafür wirklich zuständig fühlt. Im Moment gründen wir diese Forschungsstelle ohne wirkliche Basisfinanzierung, also mit unserer eigenen Arbeitskraft und unseren Forschungsleistungen. Das heißt umgekehrt, wenn sich irgendjemand dafür engagieren möchte, unsere Forschungsstelle zu unterstützen, ist er uns herzlich willkommen.“

Keine hierarchisierende Abgrenzung „Prag versus Provinz“

Es wurde hier schon mehrere Male das Phänomen der Prager deutschen Literatur erwähnt. Das ist auch der bekannteste Bereich der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern. Spielte Prag wirklich für die anderen Autoren in Böhmen und im Sudetenland die Rolle eines Kultur- und Literaturzentrums? Oder waren es zwei Phänomene, die nicht so ganz miteinander im Zusammenhang standen?

Max Brod
Weinberg: „Also erst nochmal ganz kurz zum Begriff der Prager deutschen Literatur: Eigentlich ist es ein Begriff, den wir gerne abschaffen möchten. Denn dieser Begriff kommt aus der Liblicer Tradition und geht von einem abgegrenzten Einheitsmodell der Prager deutschen Literatur aus. Wir setzen dem gegenüber auf die Darstellung von Kommunikationsnetzen, das heißt auch die Kommunikation zwischen deutsch- und tschechischsprachigen Autoren sowie, und das ist ganz wichtig, keine hierarchisierende Abgrenzung zwischen Sudetendeutschen und Prager deutschen Autoren. Man kann in den Anthologien sehr deutlich nachweisen, dass die Autoren der sogenannten Prager deutschen Literatur und die Autoren der sudetendeutschen Literatur in diesen Anthologien einfach gemeinsam erschienen sind. Sie wussten davon, dass sie in diesen Anthologien gemeinsam erscheinen, und sie hatten offensichtlich kein Problem damit. Das heißt nicht, dass man nicht noch differenzieren müsste zwischen Peripherie und dem Prager Zentrum. Aber es radikal als ‚Prag versus Provinz‘ gegeneinanderzusetzen ist historisch falsch und mit Sicherheit nicht unser Modell.“

Mit der deutschsprachigen Literatur aus Böhmen sind einige sehr berühmte Namen verbunden. Das ist Kafka an erster Stelle, Brod, Werfel und weitere. Wollen Sie sich auch mit diesen Persönlichkeiten, die schon sehr viel erforscht wurden, beschäftigen oder sich eher auf die weniger bekannten Autoren konzentrieren?

Zbytovský: „Es überrascht einen, wie wenig zum Beispiel Max Brod eigentlich erforscht worden ist. Jetzt eben ist ein Sammelband von der Konferenz im Entstehen, die letztes Jahr in Prag stattfand. Dort wird auf einige Lücken in der Erforschung seines Werks oder in der Interpretation des Werks von Max Brod aufmerksam gemacht. Erstens wollen wir also auch auf solche überraschenden Lücken hinweisen, wo man meint, alles sei schon abgedeckt, aber dies ist nicht unbedingt der Fall. Zweitens wollen wir nicht nur die Autoren ins Zentrum stellen. Wir wollen eigentlich auch viel mehr Strukturen, Netzwerke, verschiedene Gruppierungen oder verschiedene Strategien der Interessenvertretung beschreiben und von daher auch der weniger namhaften oder weniger berühmten Autoren mitgedenken.“

Weinberg: „Ich ergänze noch einmal anekdotisch. Mt der Forschungsstelle ist ein interdisziplinärer und internationaler Forschungsverbund ‚Prag als Knotenpunkt der europäischen Moderne‘ verbunden. Den haben wir vor längerer Zeit schon auf den Weg gebracht. Wir hatten eine erste Konferenz und haben uns über die Möglichkeiten dieses Forschungsfeldes unterhalten. Am Ende habe ich die Diskussion so zusammengefasst: Wir forschen jetzt alle zusammen fünf Jahre nicht über Franz Kafka, sondern erstmal über alle anderen. Dazu muss ich sagen, dass ich der Erste war, der sich an die eigene Maßregel und Vorgabe nicht gehalten hat. Denn wenn wir auch Kollegen aus der sogenannten Inlandsgermanistik in Deutschland und Österreich von unseren Forschungsergebnissen überzeugen wollen, dann können wir schlecht mit eher unbekannten Autoren wie Victor Hadwiger, Rudolf Fuchs oder Paul Leppin kommen. Wenn ich eingeladen bin, muss ich dann schon etwas über Franz Kafka machen. Damit ist aber mein Punkt, den Sie angesprochen haben, auch verbunden. Es lässt sich beobachten, dass die Inlandsgermanistik – und man kann es ihr fast noch nicht einmal verdenken, aber das ist ein heikler Punkt – einfach vom kulturellen Umfeld von Franz Kafka so gut wie keine Ahnung hat. Die wissen nicht, wie Prag damals funktioniert hat. Wir werden nicht behaupten, dass wir Franz-Kafka-Interpretationen jetzt neu erfinden. Aber dass Kafka – sehr viel stärker als bisher wahrgenommen – auch mit seinen Texten in dieser Prager Interkulturalität verhaftet ist, das ist durchaus ein neuer Zugang zu ihm. Und es ist einer unserer wichtigen Punkte in der Erforschung und Auseinandersetzung mit Franz Kafka.“

236 Fußnoten für 24 Seiten – deutsch-böhmische Literatur im Detail

Die neugegründete Forschungsstelle trägt den Namen von Professor Kurt Krolop. Warum haben Sie sich für diese besondere Ehrung seiner Person entschieden?

Kurt Krolop  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
Weinberg:„Sie werden sich über die Antwort wundern, weil sie so kurz ausfällt. Ich erkläre Sie aber. Die Antwort ist 236. Kurt Krolop war ja einer der Vortragenden bei der Liblicer Konferenz. Und die Druckfassung seines Aufsatzes funktioniert so, dass es 24 Seiten Haupttext gibt und dann 236 Fußnoten auf nochmal 25 Seiten. Er hat eine Vielzahl an Fußnoten da eingearbeitet, in denen sich dieses enorme Detailwissen von Kurt Krolop niedergeschlagen hat. In diesem Sinn ist er unser ‚Säulenheiliger‘. Kurt Krolop ist derjenige, der die ganzen Zusammenhänge der Prager deutschen und deutsch-böhmischen Literatur im Detail kennt und so auch seine Aufsätze geschrieben hat. Das ist unser Ideal auch, insofern war es überhaupt keine Frage, nach wem diese Forschungsstelle benannt werden muss.“

Zbytovský:„Und außerdem: Wir nehmen dies nicht als eine Ehrung von Kurt Krolop wahr, sondern umgekehrt. Wir fühlen uns dadurch geehrt, dass Kurt Krolop seine Zustimmung gegeben hat, diese Stelle nach ihm zu nennen.“