Tschechien und Franz Kafka – eine schwierige Beziehung

Franz Kafka

Am 3. Juni vergehen 90 Jahre seit dem Tod von Franz Kafka. Schon lange wird er zur Weltliteratur gerechnet. Doch ausgerechnet in seiner Heimat war er eher ein verlorener Sohn. Jahrzehnte brauchten die Tschechen für ihren eigenen Weg zu Kafka. Eigentlich geschah das erst so richtig, als die Tschechoslowakei bereits Geschichte war. Und der Impuls kam zu einem Gutteil von den ausländischen Touristen, die in Kafkas Heimatstadt Prag einfach immer wieder nach dem Autor fragten.

Franz Kafka
Für die Prag-Besucher ist klar, dass Franz Kafka hierhergehört:

„Eine ganz bedeutende Persönlichkeit für Prag – und für die Welt auch“, so eine Touristin aus dem deutschen Raum.

Ein weiterer Besucher meint:

„Mir fällt vor allem die Verbindung von Prag als Stadt und der Atmosphäre von Prag – vor allem in der Nacht und in den frühen Morgenstunden – zu Kafkas literarischen Inhalten ein. Das passt sehr gut zusammen.“

Und eine Frau ergänzt:

„Was mir zu Kafka und Prag einfällt: Er hatte wohl auch schon eine innige Beziehung zu Prag und hat das auch in seinen Romamen und in seinen Schriftstücken niedergeschrieben. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Kafka wirklich glücklich war in Prag. Es war wohl eher eine Hassliebe als eine wirklich Liebesbeziehung.“

Kafka-Museum  (Foto: YouTube)
Wie auch immer: Viele deutschsprachige Touristen, die Kafkas Werke im Bücherregal zu Hause stehen haben, wollen nun die Begegnung vor Ort. Vielleicht geht man ins Kafka-Museum auf der Kleinseite oder nimmt an einem der Kafka-Spaziergänge teil. Und dann möchte man gerne auch noch etwas zur Erinnerung mitnehmen. Markéta Mališová leitet die Franz-Kafka-Gesellschaft in Prag, die unter anderem einen Buchladen betreibt. Sie hält diese kommerzielle Seite von Kafka und Prag keineswegs für verwerflich:

Foto: Adam Jones,  Flickr CC BY-SA 2.0
„So wie ein tschechischer Tourist auch aus einer Galerie oder einem Museum im Ausland ein Souvenir mitnimmt, kaufen eben die ausländischen Besucher hier entweder ein Prag-Buch oder ein Souvenir. Dazu gehören auch die berüchtigten Kafka-T-Shirts und Kafka-Becher. Aber das Niveau der Geschenkartikel ist seit den 1990er Jahren deutlich gestiegen. Wir haben zum Beispiel Lesezeichen mit Kafka-Zitaten, mit einem Foto von ihm oder mit seinen schönen Zeichnungen.“

Doch so einfach wie für den ausländischen Besucher verhält es sich mit Kafka für die meisten Tschechen nicht. Und das liegt selbstverständlich an der Geschichte.

Milena Jesenská
Der Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie gehörte, wie bekannt, zur deutschsprachigen jüdischen Bevölkerung Prags. Sein Umfeld war allerdings auch tschechischsprachig. Schon Kafkas enge Freundin Milena Jesenská übersetzte einige Prosatexte von ihm, zum Beispiel die Erzählung „Der Heizer“. Tschechisch war also neben Ungarisch die einzige Sprache, in die der Autor noch vor seinem Tod 1924 übertragen wurde. Dennoch verliert sich danach für eine gewisse Zeit die Fährte. Der Prager Literaturwissenschaftler Josef Čermák:

„Leider hat man die Tat von Weltmaß, die Herausgabe seiner drei Romane, im tschechischen Umfeld nicht rezipiert. Der Übersetzer Paul Eisner übersetzte zunächst nur aus dem Tschechischen ins Deutsche. Erst die 30er Jahre bedeuteten hierzulande eine Popularisierung Kafkas. Im Jahre 1935 wurde ‚Das Schloss’ übersetzt, eben von Paul Eisner. Aber eigentlich hat man Kafka durch Frankreich entdeckt. Denn in Deutschland waren die politischen Umstände sehr ungünstig. Es waren die französischen Surrealisten, vor allem Breton, die einen großen Einfluss in Prag hatten. Man sagte damals: Wenn es in Paris regnet, tragen die Prager Regenschirme. Und dann kam noch eine zweite Welle, das war die existenzialistische – Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Das waren die ‚Gnadenjahre’ nach dem Krieg, also 1945 bis 1948.“

Gnadenjahre, weil schon im Februar 1948 die Kommunisten die Macht ergriffen. Während Kafka in der restlichen Welt postum einen Siegeszug antrat, landete er in der Tschechoslowakei auf der schwarzen Liste. Erst mit dem Einsetzen des politischen Tauwetters änderte sich dies wieder:

„Bereits in der Mitte der 50er Jahre begann es, dass junge Marxisten auch Kafka-Literatur aus Westdeutschland lasen. Sie haben eigentlich für die neue Rezeption von Kafka gesorgt. Später aber geriet Kafka, weil man schon viel über den Boom im Westen wusste, wieder ins politische Gewässer. Sich mit Kafka zu befassen, wurde als Revisionismus des Marxismus eingestuft.“

Doch bevor es dazu kam, wurde die Kafka-Konferenz im Jahre 1963 zu einem Meilenstein. Der Germanist und Vorsitzende des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, hatte zu einer internationalen Tagung geladen. Auf Schloss Liblice nahe Prag diskutierten marxistische Intellektuelle über die Deutung von Kafkas Werk und über das Phänomen der Entfremdung. Der österreichische Schriftsteller Ernst Fischer prägte den Satz: „Kafka bedeutet den Kampf gegen Dogmatismus und Bürokratismus und gleichzeitig den Kampf für soziale Demokratie, Initiative und Verantwortung.“ Gerade bei dieser Konferenz nahm die spätere Reformbewegung des Prager Frühlings ihren Anfang. Bis zum Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im Jahr 1968 kam es zu einem ersten kleinen Kafka-Boom in der Tschechoslowakei. Markéta Mališová von der Franz-Kafka-Gesellschaft:

Markéta Mališová  (Foto: Miroslav Krupička)
„Damals gelang es, Übersetzungen von Kafkas Werken herauszugeben, die schon in den Schubladen lagen, aber zuvor aus unterschiedlichen politischen Gründen nicht erscheinen konnten. Die 1960er Jahre waren die erste Entdeckungswelle. Nach 1968 brach hier aber die bleierne Zeit der Normalisierung an und Kafka war praktisch verboten. Bis zur Wende erschien dann nur noch ein einziges Buch von ihm. 1983 – also zu Kafkas 100. Geburtstag - sollte etwas in den Schaufenstern liegen für die Touristen. Denn im Ausland wurde Kafka immer populärer. Hier wurde er nicht unterrichtet. Einige Bibliotheken hatten ihn, andere nicht. Ein wirklich tiefschürfender Leser hat ihn sicher gefunden. Aber in den Schulen wurde er entweder nur am Rande erwähnt oder gar nicht.“

Erst die Wende von 1989 brachte auch eine Wende in der Wahrnehmung. Kafkas Werk war vom Bann befreit. Doch das bedeutete noch nicht, dass die Tschechinnen und Tschechen die Buchläden gestürmt hätten. Ganz im Gegenteil.

Josef Čermák  (Foto: Archiv Radio Prag)
„Die Ausländer, die hierherkamen, fragten nach Kafka, die Händler betrachteten den Autor vor allem als Ware. Bei den Tschechen hat das erst einmal zu einer weiteren Ablehnung geführt, im Sinn von: Was soll das immer mit diesem Kafka? Er wurde immer noch nicht auf Tschechisch verlegt, man konnte ihn also immer noch nicht lesen, nur die Ausländer interessierten sich für ihn und kauften T-Shirts und Becher. Diese Zeiten sind aber mittlerweile vorbei. Ich denke, alle sind sich mittlerweile bewusst, dass Kafka ein Diamant der böhmischen Kultur ist“, so Mališová.

Ein Diamant vielleicht, aber zugleich aus Sicht vieler Menschen hierzulande auch einer mit ausgesprochen vielen Kanten. Josef Čermák:

„Ich bin traurig, dass hierzulande der Zugang zu Kafka immer sehr schwierig ist. Das hat mehrere Ursachen. Er war lange Zeit verboten. Aber das kann man nicht immer wieder vorschieben. Die Mittelschullehrer kennen Kafka nicht, er ist ihnen zu schwierig. Wenn ich mit deutschen Schülern zusammenarbeite, dann ist das allein schon wegen der Sprache einfacher. Ich empfehle daher meinen Bekannten, wenn sie mich fragen: Lest zum Beispiel die Aphorismen. Oder lest den Brief an den Vater, Tagebücher und Korrespondenzen, bevor ihr mit den Romanen oder den Erzählungen anfangt.“

Foto: S. Fischer Verlag
Markéta Mališová kann Literaturwissenschaftler Čermák nur beipflichten, dass ihre Landleute vor Kafka zurückschrecken:

„Bis heute überwiegt diese Art der Sicht. Und das ist gerade dem Umstand geschuldet, dass nur die Romane herausgegeben wurden, vor allem ‚Der Prozess’ und ‚Das Schloss’, also die schwierigere Literatur. Deswegen haben viele Tschechen Angst vor der Lektüre Kafkas und haben ihn als unlesbar gespeichert. Dabei kann man ihn wirklich lesen, und man kann dabei auch lachen. Damit will ich nicht sagen, dass er ein Humorist ist. Aber er sieht den Allerweltsdingen, die wir an uns vorüberziehen lassen, mit seinem Prisma auf den Grund und beschreibt das. Und man stellt dann fest, dass das Leben teilweise wirklich fast komisch ist.“

Gerade die Franz-Kafka-Gesellschaft hat sich darum verdient gemacht, dass mittlerweile das Gesamtwerk auch auf Tschechisch vorliegt. Aber erst vor sechs Jahren erschien der letzte Band. Die Jugend von heute scheint indes keine Berührungsängste mehr zu haben mit dem großen Schriftsteller. So steht er auch in den tschechischen Lehrplänen. Die Kafka-Gesellschaft veranstaltet zudem seit den 90er Jahren einen Schülerwettbewerb, den so genannten Max-Brod-Preis:

Briefmarke mit Franz Kafka  (Foto: Archiv der Tschechischen Post)
„Von den Themen, die wir ihnen anbieten, wählen die Schüler am häufigsten Kafka. Und sie stellen über ihn Überlegungen an, die manchmal selbst einem Universitätsprofessor gut zu Gesicht stünden. Einige der Schülerarbeiten waren wirklich hervorragend“, findet Mališová.

Zum 130. Geburtstag von Kafka haben auch einige tschechische Zeitungen Artikel veröffentlicht. Die Kafka-Gesellschaft bringt zudem in diesem Jahr mehrere Bücher auf den Markt, unter anderem eine Sammlung von Aphorismen, zusammengestellt von Josef Čermák. Außerdem erscheint eine sehr schöne 20-Kronen-Briefmarke – das ist genau das Porto für Briefe und Postkarten ins EU-Ausland.


Dieser Beitrag wurde am 20. Juli 2013 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.

Autor: Till Janzer
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