Textkorpus der tschechischen Sprache - bedeutende Quelle für den Sprachgebrauch

In Deutschland hat man ganz bestimmt die langen Diskussionen über die Rechtschreibreform noch nicht vergessen. Ähnliches haben aber auch viele Tschechen erlebt, die eines schönen Tages mit neuen Rechtschreibregeln konfrontiert wurden. Das längst „Eingefleischte“ zu vergessen und auf das Funkelnagelneue umzusatteln fällt aber schwer. Die Sprache muss aber doch kodifiziert und angepasst werden, sagen viele Sprachwissenschaftler. Andere sind wiederum zurückhaltender. Alle stimmen allerdings darin überein: Die Sprache ist Kulturgut eines jeden Volkes. Wie man in Tschechien damit umgeht, erfahren Sie im heutigen Kultursalon.

Die Fundamente für die Regeln der tschechischen Sprache hat schon der Universitätsgelehrte und Kirchenreformator Jan Hus gelegt, indem er die Rechtschreibung in mancher Hinsicht vereinfacht hat. Tiefere Eingriffe hat die tschechische Sprache in den nachfolgenden Jahrhunderten erfahren. Jede Zeitepoche, vom Humanismus angefangen über den Barock, die Aufklärung und die Periode der so genannten nationalen Wiedergeburt bis 1902, hat in der Sprache ihre Spuren hinterlassen.

Jan Hus
1902 sind nämlich zum ersten Mal „Die Regeln der tschechischen Rechtschreibung“ in Buchform erschienen. Ihr Autor war der bis heute anerkannte Sprachwissenschaftler und Universitätspädagoge Jan Gebauer. Im Lauf des 20. Jahrhunderts haben dann viele Sprachwissenschaftler kontinuierlich am Tschechischen gefeilt. Die letzte der insgesamt Rechtschreibungsreformen kam 1993 und hat viel Unmut nicht nur erweckt, sondern bis heute hinterlassen.

Rechtschreibregeln hin oder her, auch unabhängig von Regeln geht stetig ein Wandel der Sprache vor. Sprachliche Neuerungen und ihre Auswirkungen zu erfassen, hat sich das bei der Prager Philosophischen Fakultät gegründete tschechische Nationalkorpus – so der offizielle Titel - zum Ziel gestellt. Seine Fundamente wurden erst vor ungefähr zehn Jahren gelegt. Mittlerweile hat diese Sammlung von tschechischen Texten und Äußerungen ein recht großes Ausmaß angenommen. Die tschechische Sprache kann somit in verschiedenen Erscheinungsformen und verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Gegenstand einer beliebigen Darstellung oder Untersuchung sein. Lassen wir dazu den Sachkundigen zu Worte kommen. Am Mikrophon ist Professor František Čermák, Linguist, Bohemist, Direktor des tschechischen Textkorpuses. Nun, was ist das eigentlich der Textkorpus?

„Es ist eine ganze Menge von Texten, die sehr sorgfältig nach bestimmten Kriterien ausgewählt werden. Sie reflektieren die Ergebnisse vieler Forschungsarbeiten. Es müssen darin alle Typen von Sprache vertreten sein. Alles ist elektronisch bearbeitet und dadurch ist es möglich, alles, was man braucht, schnell zu finden. Bis vor kurzem, für manche Schule gilt es bis heute, wurde die Sprache etwa so unterrichtet: Man lernte die jeweilige Regel und Ausnahmen von der Regel, damit auch Konjugations- beziehungsweise Flexionstabellen. Man paukte also die Beugung der Verben und der Substantive. Dabei fehlten aber der Kontext und die Kombinatorik. Die Möglichkeiten, wie die Wörter zu verbinden sind, das haben die Schüler nicht gelernt“.

Und das ist eben in dem Sprachkorpus das Wichtigste. Darin kann man sich schlau darüber machen, wie das jeweilige Wort benutzt werden kann. Denn - so Professor Čermák - das Fundament jedes Sprachstudiums sei die Wortverwendung. Tagespresse, Rundfunk, Fernsehen, Internet, politische Reden und Schriften, Werbung, öffentliche Ankündigungen - das sind nur einige Quellen, die Material zum Sprachgebrauch und Sprachwandel gewähren. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Tschechien und die tschechische Sprache:

„Es gibt kaum ein europäisches Land, das keinen Sprachkorpus haben möchte. Ungefähr vor einem Jahr hat man mich nach Lettland zur feierlichen Sprachkorpuspräsentation als Gast eingeladen. Leider hat man dort wenig Geld gehabt, daher ist der Korpus noch sehr klein. Der tschechische Nationalkorpus ist nach dem deutschen der zweitgrößte auf der Welt. Die Amerikaner zum Beispiel haben auf diesem Gebiet verschlafen. Die haben lange nichts gemacht und erst als sie gesehen haben, wie die Korpuslinguistik in Europa blüht, haben sie sich ans Werk gemacht. Aber sie haben immer noch wenig“.

František Čermák ist renommierter Sprachwissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten mit mehreren Fachgebieten befasst: Lexikologie, Lexikografie, Phraseologie, Semantik, Korpuslinguistik – das und vieles mehr ist sein Fahrwasser. Hier auch ein konkretes Beispiel seiner langjährigen Forschungstätigkeit:

„Mit einem Team haben wir im Lauf von etwa 30 Jahren ein Wörterbuch der tschechischen Idiomatik und Phraseologie mit ungefähr 50.000 Stichwörtern zusammengestellt. Meines Wissens nach ist es das größte Wörterbuch dieser Art weltweit. Darin sind höchst eingehende und umfassende Beschreibungen. Die ersten Teile waren schon veraltet, daher mussten wir sie neu verlegen. Mich hat interessiert, in welche Richtung sich die tschechische Phraseologie entwickelt und das war auch einer der Gründe, warum ich auch den Korpus haben wollte“.

Im Unterschied zur konservativen Auffassung der Sprachverwendung geht Čermák davon aus, dass man als Sprachwissenschaftler den aktuellen Stand der Sprache nur beschreiben, und nicht Regeln dafür festlegen sollte, was richtig oder falsch ist. Seine Position ist eigentlich großzügig und unterscheidet sich davon, was man so oft noch heute in der Schule zu hören bekommt:

„Keine Sprache verurteilt sich selbst zum Tod. Es hängt immer von den Menschen ab, wie sie mit der Sprache umgehen. Durch die Entwicklung der Alternativen kommt man immer zu einer solchen Sprachversion, die für die Mehrheit akzeptabel ist. So bewegt sich die Sprache vorwärts. Ich persönlich kritisiere die Regeln der tschechischen Schriftsprache unter anderem deswegen, weil die ‚neueste’ Version am Ende der kommunistischen Ära verfasst und trotzdem auch nach der Wende 1989 durchgesetzt und schließlich auch herausgegeben wurde“.

Professor Čermák und das Team seiner Mitarbeiter repräsentieren einen modernen Trend in der Sprachwissenschaft. Im Vergleich mit der üblichen Schulpraxis klingt aber seine Meinung zum Beispiel über die Fremdwörter beinahe revolutionär:

„Ich konnte mich schon mit vielen Sprachen vertraut machen und in allen findet man Fremdwörter. Es gibt keine Sprache ohne Fremdwörter, auch wenn es Meinungen gibt - wie zum Beispiel in Island oder in Ungarn -, dass man ohne Fremdwörter gut auskomme. Der Einzug von Fremdwörtern in die tschechische Sprache - natürlich neben den Fachausdrücken, deren Anteil am größten ist – ist dann am Platze, wenn man das jeweilige Wort braucht oder es einfach im Vokabular haben will. So sind zum Beispiel Ausdrücke aus der PC-Sprache oder Slangsprache vieler Musiktitel in die gängige Sprachweise gelangt. Das ist meiner Meinung nach in Ordnung. Dasselbe gibt es in anderen Sprachen und die sind dadurch auch nicht in ihrer Existenz gefährdet. Kurzum, es gibt weltweit keine Sprache, die am Übermaß von Fremdwörtern zugrunde geht“.

In den Medien hört oder liest man immer wieder die Meinung, wie sehr Englisch das tschechische Vokabular beeinflusst hat und weiter beeinflusst. Auch darin sieht Čermák keine große Gefahr und hat dazu auch historische Parallelen parat:

„Das ist nichts Neues. Außerdem geht es auch nicht nur um Englisch. Blicken wir kurz in die Zeit der nationalen Wiedergeburt zurück. Das heißt also in den Zeitraum vom dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis 1848. Es ist bekannt, dass damals die größte Phobie etwas kurzsichtig gegen die deutsche Sprache ausgerichtet war. Tschechische Patrioten waren bemüht, sich gegen alles, was deutsch war, abzugrenzen. Aber noch früher tauchten Tendenzen auf, die zwar absolut ernst gemeint, aber dumm waren“.

So entstanden tschechische Neubildungen, mit denen man vor allem viele vermeintlich deutsche Wörter ersetzen wollte. Oft wusste man nämlich nicht, dass sie aus dem Lateinischen, Italienischen oder aus dem Griechischen stammten. Den tschechischen Ohren klangen sie irgendwie deutsch. Zum Beispiel „inspektor“, „logika“, „epigram“ und viele andere. Die neu gebildeten tschechischen Ersatzwörter waren aber für die Tschechen zu kompliziert und oft auch wenig verständlich. Professor Čermák ergänzt noch:

„Dieser Trend hat sich letztlich nicht durchgesetzt. Es ist aber etwas, das die tschechische Geschichte kontinuierlich begleitet. Immer wieder gibt es Menschen, die das ‚Fremde’ verurteilen. Man muss folgendes sehen: Falls das Fremdwort eine Rolle erfüllt, kann man nichts dagegen haben“.

Stichwort „Annäherung der Schrift- und der Umgangssprache“. Oder aber: Sollen sie nicht strikt voneinander getrennt existieren?

„Wir leben in einer Zeit, die – wie kontrovers auch immer sie wahrgenommen wird - demokratisch ist. Und Demokratie bedeutet Toleranz für das Alternative. Also auch für anders Denkende, die wiederum andere anders Denkende leben lassen. Zur Reglementierung der tschechischen Sprache hat maßgeblich der Kommunismus beigetragen, der die Vorstellung unterstützte, über die Sprache kann jemand sozusagen ‚von oben’ entscheiden, Das ist absolut falsch. Seither überlebt immer noch die Überzeugung, die tschechische Schriftsprache sei der Ausdruck der höchsten Wahrheit über die Sprachform. Als Sprachwissenschaftler muss ich sagen, dass dies eine künstliche Sprache ist. Die einzige authentische Sprache ist die, in der man eine Entwicklung beobachten kann, und das ist die gesprochene Sprache. Das gilt für alle Sprachen. Also eine Sprache die nicht offiziell ist, die von niemandem überwacht, kontrolliert oder bestraft wird“.