„Sprache in Notenschrift übersetzt“ – Dramaturg Füting über Janáček

Foto: Verlag Transit

Am kommenden Mittwoch jährt sich der Todestag von Leoš Janáček zum 87. Mal. Bekannt ist der mährische Opernkomponist vor allem für seine späten Opern wie das „Das schlaue Füchslein“. Michael Füting hat 2013 eine Biografie über ihn geschrieben – und das als Dramaturg ohne Musikstudium und ohne Tschechisch-Kenntnisse, aber mit Blick für Janáčeks Lebensthema, das Verhältnis von Sprache und Musik. Im Folgenden ein Gespräch mit Michael Füting über „Das Operngenie“.

Michael Füting  (Foto: Archiv von Michael Füting)
Michael Füting, Ihre Biografie zu Leoš Janáček handelt schwerpunktmäßig vom Spannungsverhältnis zwischen Musik und Sprache. Welche Dimension gewinnt Sprache in einer Vertonung von Janáček?

„Man kann sagen, Janáček hat den Musikbegriff erweitert, indem er sagt: Hört mal genau zu, bereits in der gesprochenen Sprache ist Musik. Kinder zum Beispiel müssen alle musikalisch sein, sonst würden sie ihre Muttersprache nicht lernen. Sonst würden sie die Frageform oder Ironie und diese ganzen Dinge nicht lernen. Und als Janáček seine erste wirklich große Oper ‚Jenufa‘ geschrieben hat, hat er in Brünn und überall auf dem Land den Menschen beim Sprechen zugehört. Natürlich konnte er das beim Komponieren nicht eins zu eins übernehmen. Aber er hatte damit so etwas wie einen Setzkasten in Notenschrift für die ganzen vielen Situationen – zum Beispiel für Stimmungen, für Vogelstimmen oder für das Wetter.“

Illustrationsfoto: Alan D. Wilson,  CC BY-SA 2.5
Was denken Sie ist ursprünglicher: die Musik oder die Sprache?

„Das ist eine wirklich interessante Frage. Ich denke, dass letztlich die Musik ursprünglicher ist. Auch deshalb, weil ja Tiere wie zum Beispiel Vögel ebenfalls Musik haben. Sprache kommt, glaube ich, in der Evolution des Menschen später. Und dann gibt es noch den Subtext, der ja auch musikalisch ist.“

Was ist Janáčeks Anspruch ans Publikum, und an welchen Hörer richtet er sich?

Foto: Verlag Transit
„Janáček war ja nicht nur ein tschechischer Nationalist. Er war ein mährischer Nationalist. In seiner Jugend gehörte Mähren zur österreichischen k. u. k. Monarchie, dort wurde Deutsch gesprochen. Das ist sein ganzes Leben lang ein Problem für ihn gewesen, und indem er von seiner Frau verlangt hat, dass bei ihm zu Hause nur Mährisch gesprochen wird und nicht Deutsch, hat er sogar seine Ehe ruiniert. Deswegen denke ich: Er wollte, dass seine Musik jeder verstehen kann. Darauf komme ich, weil sie so eng an die Sprache gebunden ist.“

Und aus welcher Sicht haben Sie Ihr Buch geschrieben?

„Der Beruf, den ich mein ganzes Leben ausgeübt habe, ist Film- und Fernsehdramaturg. Und ein bisschen Regie habe ich auch gemacht. Also aus der Sicht eines Theatermenschen. Ich würde über keinen anderen Komponisten schreiben. Ich habe mir erlaubt über Janáček zu schreiben, obwohl ich kein Musiker bin, aber weil ich ein Theatermensch bin und ein Dramaturg.“

Milan Kundera | Foto: Elisa Cabot,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 2.0
Ist es nicht paradox, dass dieser Komponist unbedingt die tschechische Sprache propagieren wollte, seine Musik aber erst in der Übersetzung von Max Brod bekannt wurde?

„Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte. Ich als Dramaturg und Theatermann würde sagen: Das entscheidende Musikalische, das Janáček aus der tschechischen Sprache übernommen hat, ist übertragbar in andere Sprachen. Wenn ein Schauspieler zum Beispiel einen Film synchronisiert, dann hört er sich die entsprechenden Stellen vorher in der Originalsprache an. Dort holt er sich den Ausdruck, die Musik, den Ton, der die Musik macht. Milan Kundera ist übrigens ein ganz interessantes Beispiel für jemanden, der stark für Janáček gekämpft hat. Kundera hat einen Essay über Janáček geschrieben: ‚Verratene Vermächtnisse‘. Dort setzt er sich nur damit auseinander, wie Kulturkritiker und Literaturkritiker nicht erkennen, was bei einem Künstler, wenn er – wie zum Beispiel Janáček – etwas Neues bringt, das Wesentliche ist. Milan Kundera hat etwas Irres gesagt: literarisch gesehen sei jede Übersetzung von Sprache bereits eine Verfälschung.“

Und das verratene Vermächtnis Janáčeks ist dann die Übersetzung durch Max Brod ins Deutsche?

„Einen Künstler retten oder verteidigen zu wollen, ist Verrat.“

„Nein, das ist es nicht. Damit hat er sich abgefunden. Er ist dann auch nach Wien gefahren, hat neben Max Brod gesessen und hat sich dort die deutsche Erstaufführung von ‚Jenufa‘ angeschaut. Wahrscheinlich hat er dabei gedacht: Oh mein Gott, in Tschechisch! Der Verrat ist noch etwas anderes. Der gute Janáček hat ein Testament geschrieben – er war ja 74 Jahre alt, als er starb – und hat darin das viele Geld, was er hatte, verteilt. Einmal auf seine Ehefrau, dann auf seine Geliebte, und den dritten Teil des Geldes hat er an das Musikwissenschaftliche Institut der Brünner Universität vermacht. Er war der erste Ehrendoktor dieser neu gegründeten Brünner Universität. Und er hat gesagt: Bitte untersucht mit diesem Geld das Verhältnis von Musik und Sprache. Sein großes Lebensthema. Die Musikwissenschaftler haben dies aber nicht gemacht. Ein Musiker kapiert das nicht. Für ihn ist Musik etwas Tolles, etwa Heiliges. Er bildet sich etwas darauf ein, dass er sie spielen kann. Und dabei merkt er nicht, wie nah die Musik an der Sprache ist. Das eben meint Kundera: Wenn man Künstler nicht versteht, wenn man sie falsch beschreibt oder wenn man meint, sie retten oder verteidigen zu müssen, dann handelt es sich um Verrat.“

Leoš Janáček  (Foto: ČT24)
Hätte Janáček das Geld besser der Theaterfakultät vermacht?

„Ja, das wäre auch gegangen. Aber eigentlich hätte er es an das Psychologische Institut geben sollen, die Psychologen haben sich mit dem Thema sehr stark beschäftigt. Wenn man Menschen so beobachtet, wie er das gemacht hat, dann ist das bereits Psychologie. Janáček hat ja überall sein Notizheft aufgeschlagen. Und wenn er gesehen hat, wie sich im Café zwei Menschen unterhalten, dann hat er das Charakteristische in Notenschrift fixiert. Dabei hatte er schöne Beispiele: Es hört sich anders an, wenn ein Professor mit seinem Studenten spricht, als wenn der Student mit seiner Freundin spricht. Den Unterschied hat Janáček für sich als Musiker in Musik übersetzen können und dann benutzt, um seine Opern zu schreiben.“

Also Musik als Erkenntnismethode?

„Mit der Opernmusik ist der größte Teil der Inszenierung schon gemacht.“

„Ja, als Erkenntnismethode der Seele des Menschen. Ist man dann Psychologe, Theatermann oder Musiker? Man ist alles drei. Wenn ich so genau Menschen in die Seele schauen will, dann bin ich natürlich auch ein Theatermann. Der berühmte Opernregisseur Peter Konwitschny, der übrigens auch Janáček-Opern inszenierte, hat gesagt: In der Musik ist der größte Teil der Inszenierung schon gemacht. Alles, was man hören kann, hat der Komponist vorgegeben: lauter, leiser, langsamer, schneller, Pause. Ein Schauspielregisseur erzeugt Musik, er komponiert das Stück. Da ist zunächst einmal nur ein geschriebener Text und sonst gar nichts. Er ist noch nicht lebendig. Ein Opernregisseur muss sich nur um das kümmern, was man sehen kann. Also zum Beispiel wie die Opernsänger als Schauspieler spielen, und auch das Bühnenbild ist ja extrem wichtig bei der Oper.“

Und weil Janáček als Opernkomponist Regiearbeit geleistet hat, haben Sie sich bereit gefühlt, das dem Publikum zu erklären?

„Ja, ich habe gedacht, wenn er einen so weiten Begriff von Musik hat, dann darf ich als Dramaturg über ihn schreiben. Einen normalen Opern- oder Theaterbesucher interessieren Tonart und Taktwechsel überhaupt nicht. Er hört das, aber er weiß es nicht, es interessiert ihn nicht. Damit beschäftigen sich nur die Musiker und Musikwissenschaftler. Bei Janáček sind ja die großen Opern zentral, und diese werden bei mir unter dramaturgischen Gesichtspunkten abgehandelt.“

‚Glagolitische Messe‘  (Foto: Supraphon)
Sie haben auch ein Kapitel über das Streichquartett „Intime Briefe“ geschrieben…

„Außer den Opern habe ich nur vier Werke besprochen: die ‚Glagolitische‘ Messe, das ‚Tagebuch eines Verschollenen‘, das Streichquartett ‚Intime Briefe‘ und den Klavierzyklus ‚Auf verwachsenem Pfade‘. Ich wollte den Leuten, die das Buch lesen, auch eine Möglichkeit auftun, wie man ohne in die Oper zu gehen oder bevor man in die Oper geht, sich vertraut macht mit dieser Musik. Und diese vier Sachen sind gute Beispiele. Bei den ‚Intimen Briefen‘ kommt aber noch etwas hinzu: Sie beziehen sich auf Briefe, die Janáček mit seiner Geliebten Kamila Stösslová gewechselt hat. Es gibt also einen konkreten Bezug. Er war ja auch der Meinung, dass es absolute Musik gar nicht gibt. Musik komme aus dem Leben, ob es dem Komponisten bewusst sei oder nicht, und Musik bilde etwas aus dem Leben ab. Wenn also ein Maler eine schöne Frau portraitiert, dann kann man sich vorstellen, dass das vielleicht die Lebensgefährtin, Frau oder Geliebte war. Aber die Dramatiker und die Komponisten sagen ja gar nicht, wo etwas herkommt. Janáček gesteht aber: Hier geht es um Kamila Stösslová.“

Inwiefern war Janáčeks Musik damals avantgardistisch, und inwiefern ist sie es heute noch?

„Das Problem ist: Janáček ist nicht den normalen Weg der Weiterentwicklung der Musik gegangen, der sich mittlerweile als ein Irrweg erwiesen hat. Damit meine ich die Zwölftonmusik, Schönberg. Der berühmte Musikwissenschaftler und Philosoph Adorno hat ja sozusagen entschieden, was modern ist und was nicht. Als Marxist meinte er auch, dass die Musikentwicklung einer Linie entspricht, die zu irgendetwas hinführt, die ein Ziel hat. Adorno zufolge konnte die Entwicklung nicht mehr so weitergehen wie vorher, sie musste atonal werden oder zwölftonartig. Genau das hat Janáček nicht gemacht. Besonders interessant finde ich: Adorno, der selbst auch Musiker war, gut Klavier spielte, ein wenig komponiert hat, konnte Janáčeks Musik in keine Schublade stecken. Weder zu den traditionellen Komponisten noch zu den Zwölftönern. Aber er hielt sie für gute Musik. Janáček kann also für Komponisten, die nicht Zwölftonmusik machen wollen, als Beispiel dienen, wie man komponieren kann.“

Und wenn man Janáček heute hört, ist das dann für unsere Ohren überhaupt noch avantgardistisch oder ungewohnt?

„Die Leute haben Janáček nicht nur gemocht, weil er Mähre war, sondern weil sie die Musik verstanden haben.“

„Ich glaube, dass die Leute mit Janáčeks Musik nicht so viele Schwierigkeiten hatten. In Brünn wurde damals jede Oper gefeiert, ob sie nun gut aufgeführt war oder schlecht. Das Orchester war viel zu klein, die Orchestermusiker nicht wahnsinnig gut, die Theatermittel beschränkt. Aber die Leute haben Janáček nicht nur gemocht, weil er Mähre war, sondern weil sie die Musik auch verstanden haben. Wenn Janáček jetzt gespielt wird, empfindet diese Musik keiner mehr als modern. Die Musik war damals zunächst ungewohnt und etwas fremd. Aber modern, in dem Sinne, in dem wir das Wort im Zusammenhang mit Kunst und Musik gebrauchen, war seine Musik wohl nie.“

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