Leipzig: Was bleibt von Tschechiens Auftritt?

Leipziger Buchmesse (Foto: Markéta Kachlíková)

Das Interesse für das Gastland Tschechien bei der Leipziger Buchmesse war größer als gedacht. Die Organisatoren bezeichneten die Resonanz als „überwältigend“.

Leipziger Buchmesse  (Foto: Markéta Kachlíková)

Trabi auf vier Beinen  (Foto: Markéta Kachlíková)
Dass Tschechien Gastland ist, erfuhren die Messebesucher gleich am Eingang in der Glashalle. Dort zu sehen: ein Trabi auf vier Beinen. Es ist eine Skulptur des tschechischen Künstlers David Černý mit dem Namen Quo vadis, die normalerweise im Garten der deutschen Botschaft in Prag steht. Von dem Kunstwerk wurde man zum Hauptstand der Tschechischen Republik geschickt. Das Programm dort stand unter dem Motto „Ahoj Leipzig“:

„Ahoj ist ein Gruß in Tschechien. Das ist das Allererste, was man hört, wenn man mit Tschechen in Kontakt kommt. Ahoi ist für Deutsche immer mit einer Schifffahrt verbunden – und für uns auch ein bisschen.“

Foto: Markéta Kachlíková
Soweit der Programmkoordinator Martin Krafl bei der Eröffnung. In Anspielung auf den Seemannsgruß wurde der tschechische Stand wie ein Boot gestaltet, mit vielen bunten Masten und Fahnen, auf ihnen standen die Namen tschechischer Autoren. Das Interesse der Messebesucher an den Lesungen war enorm, die Zuschauerarena an Bord des Schiffs platzte bei einigen Auftritten aus allen Nähten.

Literatur im Ausnahmezustand

Dies war unter anderem gleich am ersten Tag der Fall, bei der Debatte über das Thema „Literatur im Ausnahmezustand“. Auf dem Podium diskutierten Jáchym Topol und Radka Denemarková:

Jáchym Topol und Radka Denemarková  (Foto: Markéta Kachlíková)
„Wir leben absolut in einem Ausnahmezustand, was die Zeit, die Politik, Europa und die ganze Welt betrifft. Jetzt geht es um alles: entweder eine geschlossene, autoritäre Gesellschaft oder eine offene Demokratie. Entweder Zensur oder wirklich kreative Freiheit. Es ist sehr wichtig, jetzt Demokratie und Menschenrechte zu schützen und für diese Werte zu kämpfen. Dabei müssen wir alle helfen, auch die Literatur.“

Anders sieht Jáchym Topol die Rolle der Literatur in der heutigen Zeit:

„Ich denke, wir befinden uns in einem Ausnahmezustand wie die Menschheit in jedem Augenblick ihrer Existenz. Wir erleben keine außerordentlich dramatische Zeit. Jeder Einzelne ist aber überzeugt, einen Ausnahmezustand zu erleben, und das ist recht. Die Literatur hat keine Aufgabe. Sie ist ein selbstsüchtiger Strom, der oft von eigenartigen Menschen geschaffen wird. Und gelesen wird sie von Menschen, deren innerliches Leben ziemlich reich ist. Glücklicherweise hat die Literatur heute keine Aufgabe mehr. Sie ist Privatsache.“

Foto: Roman Suhrkamp Verlag
Jáchym Topol hat zudem seinen jüngsten Roman vorgestellt. „Ein empfindsamer Mensch“ heißt das Buch aus dem Jahr 2017. Es liegt nun dank der Übersetzung von Eva Profousová auch in deutscher Sprache vor. Der Autor nennt sein Werk eine Groteske und betont, er habe sich keinesfalls mit der Geschichte befassen wollen:

„Der Roman erzählt von der Gegenwart in Tschechien – und zwar mittels einer verrückten Familie, die aus Westeuropa nach Böhmen zurückkehrt und unglaubliche Abenteuer erlebt.“

Aufbruch und Wandlung – Generation 89

Noch mehr Zuschauer als am Eröffnungstag kamen am Freitag zu einer Lesung des auf der Buchmesse sehr populären Jaroslav Rudiš. Er brachte seinen jüngsten Roman „Winterbergs letzte Reise“ mit nach Leipzig. Es ist das erste direkt auf Deutsch verfasste Werk von Rudiš. Der Autor lebt wechselweise in Tschechien und Deutschland. Und wohin führt diese letzte Reise?

„Sie führt in Richtung Mitteleuropa, mit der Eisenbahn, durch die Geschichte. Dieser Winterberg, die Hauptfigur, 99 Jahre alt, ist eine tragikomische Figur. Er weiß wahnsinnig viel über die Geschichte und geht immer wieder in dieser Geschichte verloren. Er reist zusammen mit seinem Sterbebegleiter Kraus, so heißt die zweite Hauptfigur, einer verlorenen Liebe nach. Sie war eine böhmische Jüdin aus Liberec, also Reichenberg. Die Spuren dieser Frau gehen in Sarajevo verloren. Es ist eine winterliche, melancholische, aber auch eine sehr tragikomische und teilweise sehr lustige Reise.“

Pavel Kohout  (Foto: ČTK / Martin Weiser)
Als Legende wurde der Schriftsteller Pavel Kohout in Leipzig empfangen. Beim Auftritt des 90-jährigen Schriftstellers im „Haus des Buches“ reichten die Stühle vorne und hinten nicht. Kohout stellte seinen Roman „Aus den Tagebüchern eines Europäers“ vor, dieser behandelt die großen Themen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu gehörten auch der Sturz des kommunistischen Regimes und die politische Wende vor 30 Jahren. Dazu sagte Kohout:

„Ich bin glücklich, dass es sie gibt, diese 30 Jahre. Sie sind in meinem Buch beschrieben. Lesen sie das.“

Insgesamt 55 tschechische Autorinnen und Autoren waren an den Tagen zu sehen und zu hören. Sie traten am tschechischen Stand und an mehreren anderen Orten auf der Messe auf sowie beim Festival „Leipzig liest“. Besprochen wurden Erzählungen und Romane, aber auch Theater und Poesie. Der Dichter Petr Váša präsentierte seine Erfindung der physischen Dichtung. Dabei trägt er seinen Text in der fiktiven Sprache Translatein vor und untermalt diesen mit Gestik und selbsterzeugten Tönen.

Gastauftritt – neuer Beginn?

Foto: Markéta Kachlíková
Anlässlich des Gastlandauftritts sind rund 70 neue Übersetzungen tschechischer Literatur auf den deutschsprachigen Buchmarkt gekommen. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu früheren Jahren, da waren etwa fünf Übertragungen aus dem Tschechischen pro Jahr üblich. Mirko Kraetsch ist Bohemist und Übersetzer. Wie er sagt, gab es unmittelbar nach der Wende in Westeuropa ein starkes Interesse für das damals exotische Land Tschechien:

„Dieses Interesse hat abgenommen, weil mittlerweile Tschechien seinen Weg in Europa gefunden hat, es hat sich in den europäischen Kontext eingegliedert. Zwar spezifisch und auf seine eigene Art und Weise, aber die Literatur ist jetzt relativ ähnlich. Man fragt immer, was ist typisch tschechisch an der Literatur? Und das ist schwer zu sagen. Das sind die Persönlichkeiten, die die Literatur ausmachen, und die gibt es natürlich sowohl in Tschechien als auch in den deutschsprachigen Ländern. Das Problem ist: Diese Literatur muss übersetzt werden. Das ist ein Kostenfaktor und, glaube ich, ein wichtiger Punkt: Die Verlage sagen, dann nehmen wir zu dem Thema lieber eine deutsche Autorin, die kostet uns weniger, die können wir zu Lesungen schicken. Bei den tschechischen Autoren ist die Hürde einfach größer, es bedarf mehr Vermittlung. Es gibt genug Übersetzerinnen und Übersetzer, die diese Brücken bauen, aber es ist immer ein bisschen komplizierter.“

Foto: Markéta Kachlíková
Während der Buchmesse wurde wiederholt der Wunsch ausgesprochen, dass der Gastauftritt zu einem neuen Beginn für die Präsenz der tschechischen Literatur in den deutschsprachigen Ländern wird.

„Die Entscheidung, Gastland zu sein, hat einfach den Effekt gehabt, dass sehr viele tschechische Titel auf Deutsch erschienen sind. Es ist einiges dabei, was konjunkturell ist, wo es vielleicht keine Fortsetzung gibt, aber vielleicht sind auch ein paar Leute dabei, die diese Literatur und dieses Land jetzt für sich entdecken. Ich höre diese Stimmen ab und zu. Wir hoffen, dass die Förderung des Kulturministeriums für solche Übersetzungen weiter bestehen bleibt, sie sind in den letzten Jahren sehr ausgeweitet worden. Außerdem ist es ja nicht nur diese Messe, sondern das ganze Kulturjahr, in dem Tschechien in verschiedenen Teilen des deutschsprachigen Raums immer präsent ist. Es ist eine sehr gute Idee, dies nicht nur auf diese vier Tage zu konzentrieren, sondern sich möglichst breit aufzustellen und die deutschsprachigen Leser ständig auf den Geschmack zu bringen. Es könnte klappen.“