„Ein normales Umgangsdeutsch musste her“ - Antonín Brousek hat den Schwejk neu übersetzt

Antonín Brousek (Foto: Archiv des Verlags Reclam)

Vor über neunzig Jahren schuf der Prager Jaroslav Hašek seine bis heute wohl bekannteste literarische Figur: den Soldaten Schwejk. Seit seinem Erscheinen wurde Hašeks Werk in zahlreiche Sprachen mehrfach übersetzt. Auf Deutsch existierte bisher nur eine einzige Fassung. Dem gebürtigen Prager Antonín Brousek gelang nun hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Neuübersetzung.

Antonín Brousek  (Foto: Archiv des Verlags Reclam)
Herr Brousek, nicht nur in Tschechien kennt ihn wohl fast jeder, den Soldaten Schwejk. Hašeks Roman zählt zu den Klassikern der Weltliteratur. Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg“ gelesen haben?

„Ja, ich erinnere mich ganz gut daran. Ich weiß nicht genau, wie alt ich war, ich muss acht oder zehn, maximal zwölf Jahre alt gewesen sein. Mein Vater hatte eine alte Nachkriegsausgabe, die auf sehr schlechtem Papier gedruckt worden war. Als Kind blätterte ich immer in dieser Ausgabe, schaute mir die schönen Bilder von Josef Lada an und wunderte mich über das grauenhafte Papier. Deshalb bekam ich zuerst eine optische und haptische Verbindung zu Hašeks Roman. Ich fing dann auch an, das Buch Stück für Stück zu lesen, jedoch nicht von Anfang an. Ich las immer die Passagen zu den Bildern. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich das Buch auf dem Klo gelesen habe, denn bei uns im Badezimmer stand direkt gegenüber der Toilette die Waschmaschine, sodass man dort bequem ein Buch ablegen konnte. Ich sehe mich noch, wie ich als Kind auf der Toilette sitze, und auf der Waschmaschine liegt der ‚Schwejk’, den ich lese. Das war sozusagen meine erste Begegnung mit diesem Roman.“

Foto: Archiv des Verlags Reclam
Der Schwejk gilt als einer der ersten Antikriegsromane. Inwiefern wurde er damals bei seiner Veröffentlichung auch als solcher wahrgenommen, wissen Sie etwas darüber? Und was macht den Roman aus heutiger Sicht zu einem Antikriegsroman?

„Ich glaube, er wurde nicht in erster Linie als Antikriegsroman wahrgenommen. Es lässt sich allerdings auch heute noch darüber streiten, ob es sich beim ‚Schwejk’ um einen Antikriegsroman handelt. Ich glaube, damals wurde er als politischer Roman wahrgenommen: gegen die Zeit vor 1918, gegen Österreich, gegen die damals vorherrschende Gesellschaft, gegen Militarismus, gegen Bürokratie und als ein Roman über das Überleben des ‚kleinen Mannes’. Die Wahrnehmung des Werks als Antikriegsroman kam erst in den 1920er Jahren auf und wurde durch den Zweiten Weltkrieg verstärkt. Ich glaube, deshalb herrschte diese Interpretation ab 1945 vor. Ich denke jedoch nicht, dass sie unbedingt zutreffend ist, und meiner Meinung nach ist es auch nicht Hašeks Intention gewesen. Hašek wollte keinen Antikriegsroman schreiben, vielmehr wollte er die Dummheit und Bosheit des Menschen vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs zeigen. Doch bei ihm ist der Erste Weltkrieg nur die Folie, somit ist der ‚Schwejk’ kein Roman über den Krieg, sondern der Krieg bildet den Hintergrund des Buchs - und im Vordergrund behandelt Hašek ganz andere Probleme.“

Jaroslav Hašek | Foto: public domain
In diesem Jahr jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal, war dies für Sie der Anlass, Hašeks Roman neu zu übersetzen?

„Ja und nein. Als ich die Idee hatte, den Roman neu zu übersetzen, spielten die Jahreszahlen 1914 und 2014 erst einmal gar keine Rolle. 2012 nahm ich mir vor, den Roman neu zu übersetzen, ohne jedoch an dieses 100-jährige Jubiläum zu denken. Als sich mein Vorhaben jedoch konkretisierte, habe ich mir gesagt, wenn ich den Roman ins Blaue hinein übersetze und Verlagen anbiete, dann bietet sich das 100-jährige Jubiläum natürlich als Anlass an. Denn auch die Verlage brauchen einen konkreten Grund, damit sich ein Buch letztlich verkauft, damit es gelesen wird und damit es wieder ins Bewusstsein der Menschen gelangt. Dann wurde mir klar: Der Sommer 2014 ist genau der Zeitpunkt, zu dem der Roman fertig übersetzt sein muss. Dieses Vorhaben habe ich dann 2012 begonnen umzusetzen, damit der Roman möglichst bald im Jahr 2014 neu übersetzt erscheinen konnte.“

Grete Reiners Übersetzung des Romans
90 Jahre lang war die Übersetzung der Prager Deutschen Grete Reiner die einzige im deutschsprachigen Raum. Können Sie sich erklären, warum es so viele Jahre keine Neuübersetzung gab?

„Ja, ich habe verschiedene Erklärungen. Zunächst einmal galt Grete Reiners Übersetzung als ‚kongenial’, wie es immer wieder hieß. Deswegen sah man gar keinen Anlass für eine Neuübersetzung. Zweitens wäre es für Verlage sehr teuer gewesen, das Werk neu übersetzen zu lassen. Da es die alte Übersetzung gab, bot es sich an, diese weiterhin zu verlegen. Im gewissen Sinne war es Nachlässigkeit. Drittens lag es wahrscheinlich meiner Meinung nach am Desinteresse an diesem Buch in deutschsprachigen Raum. Ein Desinteresse, das speziell im deutschen Sprachraum vorhanden war, weil andere europäische Völker, die den Tschechen wesentlich weniger nahe stehen als die Deutschen, mehr Interesse an Neuübersetzungen zeigten. Norweger, Engländer oder Italiener hatten beispielsweise auch moderne Übersetzungen aus den 1970er und 1980er Jahren, es gab natürlich auch noch alte Fassungen aus den 1920er Jahren. Doch diese ersten Übersetzungen wurden in ein modernes Norwegisch, Englisch und Italienisch übertragen. In Deutschland hingegen gab es diesen Schritt nicht, weil das Buch gar nicht gelesen wurde, da man davon ausging, dass Grete Reiners Übersetzung in ihrer lustigen Sprache das Original abbilden würde. Genau darin lag das Problem.“

Kurt Tucholsky  (Foto: Archiv von Sonja Thomassen,  GNU Free Documentation License)
Der Schriftsteller und Zeitgenosse Kurt Tucholsky bezeichnete Reiners Übersetzung als „unmöglich“. Herr Brousek, Sie haben sich mit der ersten deutschen Übersetzung ausführlich beschäftigt. Grete Reiner schuf einen „böhmakelnden“ Schwejk, das heißt in ihrer Übertragung spricht der Antiheld ein fehlerhaft gesprochenes Deutsch mit stark böhmischen Akzent, was der Originalfassung des Buches jedoch nicht entspricht. Was haben Sie in ihrer Übersetzung im Vergleich zu Grete Reiner anders gemacht, was wollten Sie unbedingt ändern?

„Gut, dass Sie Kurt Tucholsky zitieren, denn er wird meiner Meinung nach viel zu wenig erwähnt. Ich finde es erstaunlich, dass Tucholsky damals fast als Einziger dies bemerkte, obwohl er kein Tschechisch sprach. Den meisten gefiel Reiners Übersetzung bei der Veröffentlichung. Bert Brecht fand die Übersetzung beispielsweise urkomisch. Doch Kurt Tucholsky hat es richtig beschrieben, die Übersetzung ist in gewissem Sinne ‚unmöglich’. Zweitens muss man sagen: Grete Reiner hat sich mit ihrem ‚Böhmakeln’ etwas Neues ausgedacht. Dabei hat sie das Buch nicht übersetzt, sondern interpretiert und umgeschrieben und damit ein eigenständiges Werk geschaffen. Das bedeutet, die deutsche Fassung entsprach nicht nur nicht der tschechischen, sondern war auch noch eine eigenständige neue Interpretation, die mit dem Original nur bedingt etwas gemeinsam hat. Das war immer das Problem dieser Übersetzung. Hierbei spielt also nicht vordergründig die Frage nach veraltet oder nicht veraltet eine Rolle. Ich fand Reiners Interpretation und Rezeption immer zutiefst unangenehm. Ich habe das Buch schon als Schüler und Jugendlicher sowie als Student immer weiterempfohlen, doch keiner mochte es lesen. Darüber habe ich mich gewundert und gefragt, warum gefällt es den Leuten nicht - bis ich die deutsche Übersetzung von Grete Reiner selbst las und mir klar wurde, so etwas würde ich auch nicht lesen wollen. Dabei fiel mir auf, dass Reiners Übersetzung nichts mit dem Original zu tun hat. Dieses Erlebnis war sozusagen der Ausgangspunkt. Man musste für die deutsche Fassung nicht nur ein zeitgemäßes Deutsch applizieren, das ist ja selbstverständlich nach 90 Jahren, man musste dieses ‚Böhmakeln’ herausfiltern und man musste einfach - und dies war das Allerwichtigste - das Buch eins zu eins übertragen. Denn Hašeks Roman ist im Original in einem modernen Umgangstschechisch geschrieben. Es musste also ein modernes Umgangsdeutsch her. Das Buch enthält teilweise altertümelnde Begriffe, aber in der Regel reden alle Leute völlig normal. Das heißt, es ist genau umgekehrt zu Grete Reiner. Bei Grete Reiner ist es so, dass die Sprecher alle ‚böhmakeln’, das heißt sie sprechen dieses komische böhmische Deutsch, das in Österreich gesprochen wurde, und wenn man Reiners ‚Schwejk’ liest, fragt sich der Leser immer wieder, sprechen die Leute einen Dialekt oder können sie nicht richtig Deutsch oder warum ist das so seltsam. Doch im tschechischen Original sprechen alle völlig normal. Alle Dialoge sind in einem normalen Umgangstschechisch verfasst, das auch ‚Schwejk’ spricht. Die einzigen, die im Roman komisch sprechen, sind die Deutschen, denn diese können kein richtiges Tschechisch - und sobald sie versuchen Tschechisch zu sprechen, hört sich dies lächerlich an. Doch im Buch sind nur wenige solcher Dialoge. Das heißt, man musste das Buch sozusagen umdrehen, um es in seine ursprüngliche Fassung zurückzuschreiben. Das ist indes eine sehr komplizierte Sache, weil ja Grete Reiner nicht ‚kongenial’ war, aber sich ihre Übersetzung im Bewusstsein der Leute eingeprägt hat, so wie die aus meiner Sicht grauenhaften Verfilmungen mit Heinz Rühmann, mit Fritz Muliar und sogar mit Peter Alexander. Es gibt ja ganz grauenhafte Filmemachwerke, die genau dieses Klischee bedienen und gerade beim Film- und Fernsehpublikum der 1950/60/70er Jahre in Deutschland und in Österreich unheimlichen Erfolg hatten. Das war es, was die Leute sehen wollten und wie sie das Buch verstanden hatten - und das war leider von Grete Reiner vorbereitet worden.“

Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1960 mit Heinz Rühmann
Max Brod bezeichnete Hašek als einen „Humoristen allergrößten Formats“ und verglich ihn mit Cervantes und Rabelais, und er nannte ihn einen Schriftsteller, der seiner Zeit voraus war. Können Sie sich erklären, warum der Roman in Tschechien bis heute immer noch als politisch-gesellschaftlich modern wahrgenommen wird, wohingegen in Deutschland die Romanfigur des Schwejks lediglich durch filmische Adaptionen (wie die Verfilmung aus dem Jahr 1960 mit Heinz Rühmann) als gutmütig-harmloser, gewitzter Volksheld Bekanntheit erlangte?

„Ein böhmischer Depp. Doch ‚Schwejk’ ist kein böhmischer Depp. Er ist manchmal ein Depp, und Tscheche ist er auch, aber diese Kombination stimmt nicht. Es ist sehr interessant, was Max Brod über Hašek sagt, ich habe mehrfach darüber nachgedacht. Max Brod hatte ja ein Gespür für gute Literatur. Er hat nicht umsonst Kafka entdeckt. Brod hat zwar nicht auch Hašek entdeckt, dies wurde vielmehr von der Leserschaft übernommen, denn vor allem die Tschechen haben ihn von Anfang an gelesen. Aber ich glaube, der Vergleich mit Rabelais und Cervantes ist gar nicht verkehrt, in gewissem Sinne stimmt er. Es gibt nämlich zeitlose Werke, die zum Beispiel nicht gelesen werden, aber trotzdem im Bewusstsein der Menschen verankert sind. Er schuf also eine Figur, die über ihr Werk hinaus existent ist, die Leute nehmen sie vielleicht anders wahr. Ebenso ist dies bei ‚Don Quijote’ der Fall, der auch nicht außerhalb Spaniens gelesen wird. Rabelais liest sowieso keiner, weil er schwer zu lesen ist, trotzdem weiß man ganz genau, wer ‚ Gargantua und Pantagruel’ sind oder zumindest dass sie existieren. Man weiß, dass es ‚Don Quijote und Sancho Panza’ gibt, und genauso ist ‚Schwejk’ als Figur der Weltliteratur von ihm geschaffen worden. Deshalb ist Hašeks Werk auf der gleichen Ebene anzusiedeln und das seit seinem Erscheinen. Ich finde es unwahrscheinlich toll, dass der Reclam-Verlag nicht nur meine Übersetzung angenommen und unheimlich sorgsam lektoriert und herausgegeben hat, sondern dass der ‚Schwejk’ bei ihnen in die Klassiker-Reihe gestellt wurde. Hašeks Roman steht nun tatsächlich neben Rabelais, zusammen mit Vergil, Proust und all diesen bekannten Schriftstellern. Ich glaube, Hašek hätte sich das nie träumen lassen und ebenso auch Max Brod nicht - andererseits gehört Hašek genau dorthin. Ich freue mich immer für ihn, wenn ich mir vorstelle, er wüsste, dass auf der einen Seite Rabelais und in der gleichen Reihe auch noch Shakespeare neben seinem Werk stehen. Das ist eine wahnsinnig tolle Sache.“


Dieser Beitrag wurde am 4. Oktober 2014 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.

Autor: Theresa Arlt
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