„Das hungrige Krokodil hat keine Nationalität“

Sandra Brökel (Foto: Archiv von Sandra Brökel)

Eine alte Arzttasche war der Ausgangspunkt. Darin das Skript für eine Autobiographie, verfasst vom Psychiater Pavel Vodák. Der gebürtige Prager war 1970 aus der Tschechoslowakei geflohen, zusammen mit seiner Familie. Es ist aber nicht nur die abenteuerliche Flucht, die die Schreib- und Trauertherapeutin Sandra Brökel begeistert hat. Denn Vodák schildert in seinen Erinnerungen auch, wie er die wichtigen Wendepunkte der tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Geschichte seit 1938 erlebt hat. Sandra Brökel hat Pavel Vodáks Arbeit vollendet und aus dem Skript einen Familienroman gemacht. Dieser heißt „Das hungrige Krokodil“. Wie es dazu kam und was sie an dem Leben des Arztes aus Prag beeindruckt hat, das erzählt die Autorin im Interview für Radio Prag.

Sandra Brökel  (Foto: Archiv von Sandra Brökel)
Frau Brökel, Sie haben einen Familienroman geschrieben, im Mittelunkt steht die wahre Geschichte des tschechischen Arztes Pavel Vodák. Wer war das?

„Pavel Vodák wurde 1920 geboren, als Sohn eines tschechischen Offiziers und einer deutschen Mutter. Er wuchs in Budweis auf, erlebte die Wirren des Zweiten Weltkrieges, den Einmarsch der Wehrmacht. Er konnte sich gar nicht erklären, dass diese Deutschen etwas Böses im Schilde führten. Kurz erzählt: Er entwickelte eine Abneigung gegen alles, was deutsch war. Deswegen kam er dann mit seinen Wurzeln nicht zurecht. Pavel Vodák engagierte sich 1968 während des Prager Frühlings, als in der Tschechoslowakei eine Aufbruchsstimmung herrschte. Nach der Niederschlagung dieser Reformbewegung merkte er aber, dass er keine Zukunft mehr in dem Land hatte. Er liebte sein Prag, seine Tschechoslowakei. Er war der Meinung, dass er ganz viel für sein Land getan habe, trotzdem musste er es verlassen. Ausgerechnet das Land der Täter, Deutschland, wurde dann zum Freund und Retter. Bevor er 2002 starb, hat er zwei Jahre lang damit verbracht, sein ganzes Leben aufzuschreiben. Mit seinen Erinnerungen hat er auch diese erlebte europäische Geschichte hinterlassen. Und das habe ich aufgearbeitet.“

Sie haben andernorts bereits gesagt, einige Zufälle hätten Sie zu dem Thema geführt. Welche waren dies?

Foto: Verlag Pendragon
„Das würde ein eigenes Buch füllen. Es ging damit los, dass ich selbst 2008 mein Leben aufgeräumt habe. Ich bin ein Adoptivkind und habe Wurzeln gesucht – und gefunden. Ich suchte damals nach fundierter Fachliteratur. Eine meines Erachtens wirklich wissenschaftlich anerkannte Publikation gab es nur in tschechischer Sprache, nämlich von Dr. Pavel Vodák. Ich machte dann schweren Herzens einen Haken unter das Buch, weil ich die Sprache nicht konnte. Viele Jahre später, im Januar 2014, war ich mit meiner Freundin, eingedeutscht Paula, original Pavla beziehungsweise Pavlína, in Berlin in einem tschechischen Restaurant. Die Umgebung weckte Erinnerungen, und sie erzählte von ihren Eltern. Da wurde mir schlagartig klar: Das ist die Tochter von Pavel Vodák, was ich vorher nicht gewusst hatte. Sie gab mir daraufhin seine Unterlagen und sagte: ‚Du hast ihn gesucht. Wühl dich da mal durch!‘ Ich habe ursprünglich das Ganze nur für Paula in Form gebracht – damit sie mit ihrer Geschichte ins Reine kommt. Dann war es aber so spannend, dass wir beide beschlossen haben: Das ist ein Roman. Und so ist er dann erschienen.“

Was haben Sie vor der Arbeit an Ihrem Buch selbst über Tschechien und die Tschechoslowakei gewusst? Haben Sie da schon Bezüge gehabt?

„Schon immer. Ich habe viele Jahre vorher schon Václav Havel bewundert. Für mich ist er ein ganz großer Humanist – weil er gelebt hat, was er schrieb. Es gab also immer eine Faszination für dieses Land. Wir hatten ja in Deutschland auch 1953 diesen, sag ich ´mal, Aufstand: Da wurden Steine geworfen. Mich hat aber immer der Prager Frühling fasziniert, denn in der Tschechoslowakei galt das geschriebene Wort als Waffe. Und dafür war ich sehr empfänglich. Und ich habe mich in Prag verliebt. Seitdem zieht es mich immer wieder in die Stadt. Über den Schreibprozess und das Eintauchen in das Leben des Pavel Vodák ist die Verbindung noch stärker geworden.“

„Mich hat immer der Prager Frühling fasziniert, denn in der Tschechoslowakei galt das geschriebene Wort als Waffe.“

In Ihrem Buch erzählen Sie das Leben von Pavel Vodák bis zu seiner Flucht über Jugoslawien und Italien und die Anfänge in Deutschland. Dabei zeichnen sie auch große Teile der modernen tschechischen Geschichte nach. Darf man das auch als Aufklärungsarbeit für Deutsche sehen?

„Ja, absolut. Es sind zwei Gründe, warum der Roman sehr historisch ist. Zum einen steckt die Vorlage voller historischer Fakten und voller philosophischer Gedanken. Das lag Pavel Vodák am Herzen, es ist sein Vermächtnis. Und ich habe versucht, dem gerecht zu werden. Mir liegt aber auch ein zweiter Aspekt wirklich am Herzen – und ich muss jetzt aufpassen, wie ich es formuliere. Denn manchmal nehme ich wahr, dass gerade in Westdeutschland, wo ich lebe, der Ostblock ein bisschen belächelt wird. ‚Ach die da drüben…‘ Für mich ist das aber eine sehr kulturreiche Geschichte, sehr intelligent auch. Und ich ertappe mich immer mehr dabei, dass ich so ein bisschen zur Botschafterin werde. In der Rolle gefalle ich mir aber sehr gut. Bisweilen gelingt mir, dass meine Faszination auch überspringt. Mir liegt einfach am Herzen, dass Prag und Tschechien – platt gesagt – mehr sind als nur billiges Bier.“

Pavel Vodák  (Foto: Archiv von Sandra Brökel)
Sie haben das Buch in Prag geschrieben. Können Sie ein bisschen erzählen, wie das für Sie war…

„Ich habe zunächst versucht, das Buch zu Hause in Deutschland zu schreiben. Das war aber schlichtweg nicht möglich. Wir haben zwei Kinder. Im vergangenen Jahr war die Tochter 16, der Sohn 14 Jahre alt. Und die riefen dann: ‚Gibt’s noch was zum Essen?‘ ‚Fährst du mich zum Training?“ Ich konnte aber auf diese Fragen nicht reagieren. weil ich irgendwo am 21. August 1968 (Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, Anm. d. Red.) unterwegs war und ganz andere Sorgen hatte. Deswegen habe ich mich ins Auto gesetzt und bin nach Prag gefahren. Das Buch habe ich dann im Café Slavia geschrieben. Dort konnte ich in Pavel Vodáks Leben eintauchen. Das ist schwer zu erklären. Es fühlte sich bisweilen auch etwas an wie nah am Wahnsinn. Irgendwie hat er in der Zeit in mir gelebt. In dem Schreibfluss entstanden auch einige Dialoge, die ich ihm quasi in den Mund gelegt habe. Meine Freundin Paula, seine Tochter, sagte: ‚Woher weißt du das? Das war seine Marotte. So war er wirklich.‘ In sein Leben einzutauchen war eine spannende und intensive Erfahrung. Zugegebenermaßen überstieg das manchmal auch meine Grenzen. Deswegen war ich sehr erleichtert, als das Buch fertig war und ich wieder Sandra ohne Pavel wurde.“

„Das Buch habe ich im Café Slavia geschrieben, dort konnte ich in Pavel Vodáks Leben eintauchen.“

Der Titel des Buches ist „Das hungrige Krokodil“, mehrmals greifen Sie im Buch dieses Bild auch wieder auf. Was meinen Sie damit?

„Erstmal das Wichtigste: Diese Metapher des Krokodils ist nicht von mir. Sie stammt aus den Unterlagen von Pavel Vodák. Wenn ein Krokodil am Ufer liegt, dann wirkt es träge, fast schläfrig. Man meint, man könnte mal eben daran vorbeigehen. Doch weit gefehlt. Wenn das Krokodil zuschnappt und jemanden in den Fängen hat, kommt er nicht wieder hinaus. Und so hat Pavel Vodák jene Menschen beschrieben, die erst einmal freundlich zu ihm waren, bei denen er aber spürte, dass da etwas nicht stimmt. Wenn sie zuschnappen, kommt er nicht wieder heraus. Diese Metapher hat er als junger Mann oft in seiner Wahrnehmung der Nationalsozialisten benutzt. Und er hat sie auch später auf die Kommunisten übertragen. Ganz wichtig ist aber auch aus meiner Sicht: Dieses Krokodil hat keine Nationalität. Es ist mal deutsch, mal tschechisch – Stichwort Sudetendeutsche – und auch mal russisch. Das Krokodil ist also ursprünglich seine Idee, ich habe die Metapher nur etwas verfeinert.“

Die Tasche mit dem Manuskript von Vodák  (Foto: Archiv von Sandra Brökel)
An einer Stelle im Jahr 1968 tauchen auch die Sendungen von Radio Prag auf. Das ehrt uns natürlich. Wie Sind Sie darauf gekommen?

„Zum einen aus seinen Unterlagen, zum anderen habe ich auch viel recherchiert. Ich war in Antiquariaten, habe alte Zeitungen durchgewühlt. Denn in Pavel Vodáks Unterlagen heißt es immer nur: ein Radiosender. Bei meiner Recherche bin ich dann auf eine Originalaufnahme gestoßen, in der irgendein mir unbekannter Reporter sagte: ‚Die Welt muss erfahren, was hier geschieht!‘ Dieser Satz hat mich sehr berührt und sich eingebrannt. Diese und andere Aufnahmen habe ich auch seiner Tochter Paula, die im Entstehungsprozess noch lebte, vorgespielt. Und sie, die das 1968 mitbekommen hatte, sagte: ‚Ja, genau das haben wir gehört.‘ So wussten wir dann, um welchen Sender es sich gehandelt hat.“

Sie wollen das Vermächtnis von Pavel Vodák bekanntmachen. Was bedeutet das?

„Er hat sich ja nicht ohne Grund diese unglaubliche Arbeit gemacht. Wir reden über 1000 Seiten maschinengeschriebenen Manuskripts, die er hinterlassen hat. Darin ist eine Botschaft. Es ist ein Aufruf, dass sich die Geschichte nicht wiederholen darf. Jeder macht Fehler. Jeder darf irren. Aber es wird unerträglich, wenn sich die Geschichte wiederholt. Wenn ich heute Nachrichten schaue: Manche Länder riegeln Grenzen ab. Nicht überall ist Pressefreiheit selbstverständlich. Ich finde das auch 50 Jahre später erschreckend aktuell. Und die Themen Freiheit, Mut, Menschlichkeit und Verzeihen sind Botschaften, die er hinterlassen hat und die ich gern verbreiten möchte. Das liegt mir am Herzen.“

Autor: Till Janzer
schlüsselwort:
abspielen