Wie die Tschechoslowakei den Mauerfall beschleunigte

Mauerfall (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0419-014 / Uhlemann, Thomas / CC-BY-SA 3.0)

Mit einer großen Feier wird am Samstag an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren gedacht. Doch wenn die Kommunisten in der Tschechoslowakei die DDR nicht so unter Druck gesetzt hätte, dann wäre es wohl nicht am 9. November 1989 schon zu dem Ereignis gekommen. Deswegen nun mehr über die Botschaftsflüchtlinge in Prag, die Reaktionen der KPTsch und die unhaltbare Lage in Ostdeutschland.

Mauerfall  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-1990-0419-014 / Uhlemann,  Thomas / CC-BY-SA 3.0)

Botschaftsflüchtlinge aus der DDR in Prag  (Foto: Blanka Lamrová,  Archiv der deutschen Botschaft in Prag)
Die Botschaftsflüchtlinge aus der DDR sind seit dem Frühjahr 1989 das große Problem in den deutsch-deutschen Beziehungen. Auch nach der berühmten Genscher-Rede auf dem Balkon der westdeutschen Vertretung in Prag reißen die Ströme nicht ab. Nolens volens befindet sich die kommunistische Führung der Tschechoslowakei mittendrin. Sie lässt sich von einem einfachen Grundsatz leiten, wie der Historiker Oldřich Tůma sagt:

„Die tschechoslowakische Regierung sagte: ‚Das ist eine Angelegenheit der beiden deutschen Staaten, und diese müssen das Problem lösen.‘ Für sie kam der ungarische Weg einer Grenzöffnung in den Westen nicht in Frage. Sie wollte den bilateralen Vertrag mit Ostberlin nicht brechen. Zugleich waren die tschechoslowakischen Polizeiorgane relativ zurückhaltend. Auch das bundesdeutsche Außenministerium merkte später an, dass sich die Tschechoslowakei während der Flüchtlingskrise korrekt verhalten habe. Das heißt, sie hat nicht verhindert, dass die DDR-Bürger in die Botschaft gelangen konnten. Es gibt zwar Bilder, wie die Polizisten jemanden vom Zaun der Botschaft herunterziehen. Da ging es aber darum, den illegalen Zugang nicht zu ermöglichen. Jeder konnte allerdings den normalen Eingang nehmen. Und dies ließ die Polizei bis auf einige wenige Stunden am 1. Oktober auch zu.“

Unruhe und Nervosität in Prag

Oldřich Tůma  (Foto: Anna Duchková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Der Grund ist, dass sich die Tschechoslowakei nicht noch mit einem weiteren Problem belasten will. Denn auch in dem Land in der Mitte Europas habe nur scheinbare Ruhe geherrscht, erläutert der Experte für Zeitgeschichte an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag:

„Häufig wird geschrieben, dass die Lage in der ČSSR stabil gewesen sei – und dann sei im November 1989 die Unzufriedenheit explodiert und das Regime zusammengebrochen. Das stimmt jedoch nicht. Auch in der Tschechoslowakei – wie in der DDR – stand die kommunistische Führung zunehmend unter Druck durch die Unmutsäußerungen der Bevölkerung. Die Proteste waren nicht mehr nur das Werk der traditionellen Opposition wie der Charta 77, sondern es schlossen sich immer weitere Leute an. Ab 1988 kam es im Prager Stadtzentrum sehr häufig zu Demonstrationen gegen das Regime. Zudem wurden mehrere Dutzend nicht-offizielle Zeitschriften im Selbstverlag herausgegeben. Und die Menschen unterschrieben unterschiedliche Petitionen, zum Beispiel im Frühjahr 1989 gegen die Inhaftierung von Václav Havel. Auch Künstler und Wissenschaftler, die sich bisher nicht an oppositionellen Aktionen beteiligt hatten, gehörten zu den Unterzeichnern.“

Doch zurück zu den DDR-Flüchtlingen. Diese zieht es zunächst nach Ungarn. Denn von dort können sie ab August 1989 schon relativ ungehindert in den Westen reisen. Als sich die ungarischen Schlagbäume zu Österreich am 10. September endgültig lüften, macht die Tschechoslowakei ihre Grenze zum südlichen Nachbarland dicht. Und so wächst die Zahl der Flüchtenden aus Ostdeutschland in der Prager westdeutschen Botschaft.

Berlin,  40. Jahrestag der DDR  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-1989-1006-439 / CC-BY-SA 3.0)
Daraus entwickelt sich laut Tůma ein Wettlauf mit der Zeit. Denn die Lage auf dem Botschaftsgelände wird immer dramatischer, Ende September sind dort bereits mehrere Tausend Flüchtlinge. Die Führung in Ostberlin wiederum möchte das Problem noch vor dem 6. Oktober gelöst haben – da sollen die Feiern zu 40 Jahren DDR beginnen.

„Die ersten aber, die die Nerven verloren, waren die Kommunisten in der Tschechoslowakei. Am 29. September tätigte die KPTsch einen Schritt, mit dem sie sich von der Loyalität gegenüber der DDR teilweise verabschiedete. Nach der Sitzung des Zentralkomitees wurde ein Schreiben nach Ostberlin geschickt. In diesem hieß es, dass die Führung der SED sich aktiv an der Lösung der Lage beteiligen müsse. Weiter stand dort: ‚Wir schlagen vor, dass den DDR-Bürgern versprochen wird, nach Westdeutschland ausreisen zu können‘.“

Wie der tschechische Historiker weiter ausführt, geht das Schreiben an Honecker und Co. ins Detail. So steht dort auch, dass die Flüchtlinge mit Zügen oder Bussen ausgefahren werden sollten – und zwar über DDR-Gebiet, wie es dann am 30. September auch geschieht. Dies ist laut Oldřich Tůma die erste Einflussnahme Prags, die später den Fall der Berliner Mauer beschleunigt.

Proteste nach Grenzschließung

Erich Honecker  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R1220-401 / Unknown / CC-BY-SA 3.0)
Denn die weitere Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Ab der Genscher-Rede suchen kontinuierlich Ostdeutsche nach Zuflucht in der Prager Botschaft. Am 3. Oktober schließt die DDR dann die Grenzen zur Tschechoslowakei. Doch die SED-Führungsriege hat die Lage schon längst nicht mehr unter Kontrolle. Historiker Tůma:

„Mehrere Hundert oder Tausend Menschen traf die Grenzschließung noch auf der Fahrt in Richtung Prag. Das führte in Dresden zu wilden und gewalttätigen Demonstrationen. In den folgenden Tagen gab es auch an anderen Orten Kundgebungen. Und die Staatsgründungsfeiern in Ostberlin endeten am 7. Oktober ebenso in Protesten gegen die Regierung. Das DDR-Regime war also am Wanken. Letztlich musste Honecker zurücktreten. Und Egon Krenz wurde Chef des ZK der SED. Er plante einen Perestroika-Kurs, doch dafür war es schon zu spät.“

Zudem liegt die Wirtschaft in Ostdeutschland darnieder. Krenz versucht verzweifelt, Geld zu beschaffen. Woher sollen aber die Kredite kommen? Die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow fühlt sich nicht mehr verantwortlich. Und die Bundesrepublik fordert eine Liberalisierung. Das heißt unter anderem die Freilassung politischer Gefangener und Reisefreiheit. Ab Ende Oktober wird daher über eine Gesetznovelle diskutiert, sie soll allen DDR-Bürgern die Fahrt in den Westen ermöglichen.

Botschaftsflüchtlinge aus der DDR in Prag  (Foto: Blanka Lamrová,  Archiv der deutschen Botschaft in Prag)
„Zugleich wurden die Grenzen zur Tschechoslowakei wieder geöffnet. Aus den Dokumenten lässt sich erkennen, dass selbst SED-Mitglieder und andere loyale Gruppen erbost gewesen waren, dass sie nicht mehr in das Nachbarland fahren konnten. Es war damals der einzige Staat, in den sie als Touristen noch visumsfrei hatten reisen können. Daher protestierten sie, auch wenn sie nirgendwo hin wollten“, so Tůma.

Die Grenzöffnung am 1. November lässt die Flüchtlingswelle aber noch weiter anschwellen. Erneutes Ziel ist das Botschaftsgelände der Bundesrepublik in Prag. Am 3. November sind dort bereits 4000 DDR-Bürger, weitere 8000 befinden sich auf dem Weg. Deswegen schlägt der tschechoslowakische KP-Chef Milouš Jakeš dem neuen SED-Vorsitzenden Krenz vor, doch die Leute einfach aus der ČSSR direkt in den Westen ausreisen zu lassen. Damit fällt nun für die Ostdeutschen praktisch der Eiserne Vorhang. Und die Dämme brechen. In einem Bericht des RIAS vom Montag, 6. November, heißt es:

Egon Krenz  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-1984-0704-400 / CC-BY-SA 3.0)
„Weit über 10.000 DDR-Bürger haben am Wochenende die überraschend freizügige Neuregelung genutzt, um ihr Land ohne besondere Formalitäten über die ČSSR in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Trotz der Ankündigung von Reformen durch Staats- und Parteichef Egon Krenz machten sich auch heute Tausende DDR-Bürger auf den Weg.“

Die Tschechoslowakei macht Druck

Die Trabis und Wartburgs verstopfen mittlerweile die Fernstraßen in Nord- und Westböhmen. Es herrscht ein Verkehrschaos. Oldřich Tůma:

„In dieser Situation verlor man in Prag zum zweiten Mal die Nerven. Und es wurde in weniger diplomatischem Ton interveniert als noch zuvor. Jakeš und Honecker waren freundschaftlich miteinander verbunden gewesen und hatten sich gegenseitig immer die Partnerschaft ihrer Länder versichert. Doch Krenz mit seiner Reform-Rhetorik traf in der Tschechoslowakei nicht mehr auf dasselbe Verständnis. Deswegen lautete die Empfehlung aus Prag nun: ‚Wenn ihr schon die Menschen in den Westen lassen wollt, dann macht das auf direktem Weg und nicht über die Tschechoslowakei.‘ Das führte dazu, dass sich das DDR-Politbüro für eine Übergangsreiseordnung entschied, noch bevor am 1. Januar das neue Reisegesetz in Kraft treten sollte.“

Günter Schabowski  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-1982-0504-421 / CC-BY-SA 3.0)
Die Entscheidung fällt am 9. November. Und am Abend kommt es zur berühmten Pressekonferenz mit den folgenreichen Worten von Politbüro-Mitglied Günter Schabowski:

„Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen… Also: Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden erteilt… Das tritt… Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Die weitere Entwicklung mündet knapp ein Jahr später in der deutschen Wiedervereinigung. Aber auch in der Tschechoslowakei ist das kommunistische Regime nicht mehr zu halten. Die Ironie der Geschichte will es, dass die späteren Köpfe der Prager Studentendemonstration in der DDR Anschauungsunterricht erhalten. Und zwar durch die Massenkundgebungen, die die Prager KP-Führung mit ihrem Druck auf Ostberlin zu Teilen mitprovoziert hat, wie Oldřich Tůma anmerkt:

„Es gibt Berichte darüber, wie die tschechischen Studenten nach Leipzig fuhren. Sie hatten dort Freunde, mit denen sie dann darüber debattierten, wie man die Menschen zum Protest anstiften könnte. In den Gesprächen, die später publiziert wurden, sagte einer der Ostdeutschen, dass dies einfach sei. Man müsse die Menschen nur auf die Straße bringen, dann würde von selbst eine Demonstration gegen das Regime entstehen. Und genau das geschah am 17. November in Prag.“

Foto: Writtenby,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0
Letztlich bringt der Historiker die Entwicklung im Herbst 1989 auf folgende Worte:

„Auf der einen Seite waren die kommunistischen Regimes nicht mehr bereit, sich gegenseitig zu unterstützen. Auf der anderen Seite waren die Oppositionellen der jeweiligen Länder in der Lage, miteinander zu kommunizieren und Erfahrungen auszutauschen. Das schuf einen Druck in den einzelnen Ostblockstaaten, der dann zum Erfolg führte.“

Autor: Till Janzer
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