Meinungsfreiheit auf Zeit

Foto: Tschechisches Fernsehen
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Die Aufhebung der Zensur gilt als Schlüsselereignis des Prager Frühlings. Erst die freien Medien ermöglichten vor 50 Jahren in der Tschechoslowakei eine breite Diskussion darüber, wie ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ aussehen könnte.

Jan Procházka  (links). Foto: Tschechisches Fernsehen
„Freunde, die Zensur existiert nicht mehr. Hurra!“– so der Schriftsteller Jan Procházka am 13. März 1968 vor einem begeisterten Publikum in Prag. Eine Woche zuvor, am 4. März, hatte das Zentralkomitee der kommunistischen Partei unter Alexander Dubček die Zensur aufgehoben. Damit war ein Anliegen erfüllt, um das Reformer wie Jan Procházka lange gerungen hatten:

„Ich denke, die Meinungsfreiheit ist grundlegend für einen zivilisierten Staat. Denn es ist unlogisch, dass der Mensch so lange sprechen lernt und dann nicht sprechen darf.“

Wie die gesamte Reformbewegung, die im Rückblick oft auf 1968 und die Formel „Prager Frühling“ verkürzt wird, war die Aufhebung der Zensur ein langwieriger Prozess. Anzeichen für eine Liberalisierung gab es bereits in den 1950er Jahren. Doch im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten war es eine verspätete Bewegung, sagt der Historiker Vitězslav Sommer:

Vítězslav Sommer  (Foto: YouTube Kanal des Verlags Triáda)
„In der Tschechoslowakei verlief die Entstalinisierung in besonderer Weise – und vor allem das Jahr 1956 ganz anders als in Polen oder Ungarn. In der Tschechoslowakei herrschte damals eine gute wirtschaftliche Lage. Die Führung hatte sehr pragmatisch mit dem Aufbau einer Konsumgesellschaft und Lohnerhöhungen auf die Wirtschaftskrise von 1953 reagiert. Während es in Ungarn und Polen zu großen Unruhen kam, gab es hier erst allmähliche Diskussionen und im Lauf der 1960er Jahre eine gewisse Metamorphose in der Kultur und im Lebensstil.“

Verspätete Entstalinisierung

Der Schriftsteller Ivan Klíma, heute 86 Jahre alt, hat diese graduelle Öffnung miterlebt als Redakteur der Literaturzeitung „Literární noviny“.

Ivan Klíma  (Foto: Jan Bartoněk,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Die ‚Literární noviny‘ waren so etwas wie das inoffizielle Zentrum der Opposition, weil sie ihren eigenen Herausgeber hatten, nämlich den Schriftstellerverband. Dieser war eine relativ unabhängige Organisation mit einer oppositionellen Tradition und garantierte in gewisser Weise, dass sich die ‚Literární noviny‘ etwas mehr erlauben konnten als andere Redaktionen“, so Klíma.

Eigentlich waren die Medien der ČSSR fest in der Hand der kommunistischen Führung. Nach der Machtübernahme 1948 wurde die Zensur zunächst parteiintern eingeführt, 1953 mit einer per Geheimbeschluss gegründeten Presseaufsicht im gesamten Staat. Anfang der 1960er Jahre erreichte die Welle der Entstalinisierung jedoch langsam die politischen Eliten. Nach einem Beschluss auf dem 12. Parteitag der KPTsch im Jahr 1962 fuhr die Zensur zweigleisig: Während Zeitungen, Radio und Fernsehen weiter unter strenger Beobachtung standen, hatten kulturelle Wochenmagazine und wissenschaftliche Organe größere Freiheit. Das habe auch für die Literatur gegolten, erinnert sich Ivan Klíma:

Antonín Liehm  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Es kam eine ganze Reihe guter Bücher heraus, auch weil schon eine relativ freie Atmosphäre herrschte. Das heißt, man konnte kritisch schreiben. Es gab nicht so viele Eingriffe von Seiten der Zensur, und außerdem konnte man mit den Zensoren ganz gut verhandeln. Sie unterstrichen einige Sätze, und der Rest ging durch.“

Für Antonín Liehm gehörten dagegen Querelen mit der Zensurbehörde zum Alltag. Der Schriftsteller und spätere Gründer von „Lettres International“ leitete bis 1967 die „Literární noviny“.

„Jede Nummer musste der Zensur vorgelegt werden. Am Donnerstag erschien sie, und am Mittwoch musste sie die Zensur absegnen. Doch nichts durfte weiß bleiben, und wir hatten für die schlimmsten, provokativsten Beiträge andere Artikel vorbereitet. Dann gab uns die Zensur die Texte zurück mit der Ansage, welcher Text geht und welcher nicht. Aber die Ersatzbeiträge waren noch kritischer, nur dass keine Zeit mehr blieb für die Zensoren. Das heißt, die beanstandeten Texte wurden ersetzt durch solche, die noch viel weiter gingen.“

Spiel mit den Zensoren

4. Kongress des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Auch andere Zeitschriften nutzen den neuen Freiraum, etwa „Tvář“, „Dějiny a současnost“ und „Kultúrny život“ aus Bratislava. Doch es waren Mitarbeiter der „Literární noviny“, die im Juni 1967 für den inoffiziellen Auftakt des Prager Frühling sorgten: Auf dem 4. Kongress des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes übten Autoren wie Ludvík Vaculík, Václav Havel und Karel Kosík Kritik am Regime – so scharf wie nie zuvor. Pavel Kohout forderte öffentlich die Abschaffung der Zensur, und auch Ivan Klíma meldete sich zu Wort:

„Ich habe in meiner Rede zum Beispiel gesagt, dass die Zensur nicht einmal zur Zeit des sogenannten Bach-Absolutismus im 19. Jahrhundert so attackierend und so mächtig war wie unter den Kommunisten.“

Die Staatsführung unter ZK-Chef und Präsident Antonín Novotný ließ die Angriffe nicht auf sich sitzen. Klíma, Liehm und Vaculík wurden aus der Partei ausgeschlossen. Die „Literární noviny“ wurde dem Kulturministerium unterstellt, sämtliche Redakteure entlassen. Dass es nur wenige Monate später zur Aufhebung der Zensur kam, lag an den Veränderungen innerhalb der KPTsch. Im Januar 1968 musste Novotný dem innerparteilichen Gegenwind nachgeben und Platz machen für Alexander Dubček als Generalsekretär des Zentralkomitees. Diese Konflikte, der steigende Druck von Seiten der Journalisten und ein Skandal um einen korrupten General, der sich im Februar in die USA absetzte – all diese Faktoren führten dazu, dass die Zensur am 4. März 1968 aufgehoben wurde. Damit bestätigten die Kommunisten rückwirkend den Status quo. Auch die „Literární noviny“ konnten ab dem 1. März wieder erscheinen, unter dem neuen Namen „Literární listy“. Ivan Klíma wurde wieder Redakteur.

„Literární listy“
„Die Wiederbelebung war recht erfolgreich, wir hatten eine ziemlich hohe Auflage – über 100.000 Exemplare. Für eine literarische Zeitschrift, die eigentlich nicht sehr literarisch war, war das sehr viel. Vor allem im Jahr 1968 wurde sie immer weniger literarisch und immer politischer“, so der Schriftsteller.

Nicht nur die „Literární lísty“ feierten einen Rekordabsatz. Die Gesamtzahl der verkauften Zeitungen lag im März 1968 allein in Prag bei knapp 560.000 Exemplaren. Themen, die jahrelang tabu waren, konnten nun behandelt werden – etwa die Verbrechen und Schauprozesse der 1950er Jahre. Václav Havel, Petr Pithart und andere forderten ein Mehrparteiensystem.

„Häufig ist die Rede davon, dass es 1968 zu einer Erneuerung oder zumindest der beginnenden Erneuerung der Zivilgesellschaft kam, einer funktionierenden öffentlichen Sphäre im liberalen Sinne. Und die Medien spielten dabei eine große Rolle. Sie ermöglichten diesen Meinungsaustausch und diesen Informationsfluss“, sagt der Historiker Vitězslav Sommer.

Radikalität der Meinungen

Jiří Hoppe  (Foto: Archiv des Instituts für das Studium totalitärer Regime)
Diskussionen zwischen Politikern, Experten und Publizisten wurden nun von Rundfunk und Fernsehen übertragen und erreichten die gesamte Bevölkerung der Tschechoslowakei. Die Forderungen, die in der neuen öffentlichen Sphäre laut wurden, gingen oft weit über die Pläne der Reformkommunisten hinaus. Der Historiker Jiří Hoppe schreibt:

„Die Redefreiheit und die mit ihr in Zusammenhang stehenden, den demokratischen Systemen eigenen Aktivitäten der Zivilgesellschaft standen in krassem Widerspruch zum bestehenden politischen Regime, und die ursprünglichen Intentionen der neuen KPTsch-Führung unter Alexander Dubček rückten in die Richtung einer Revolution.“

Dabei gingen die Meinungen innerhalb der öffentlichen Sphäre häufig weit auseinander. Ivan Klíma gehörte damals zu den Vorsichtigeren:

„Manifest der 2000 Worte“
„Ein Teil der Öffentlichkeit war radikaler. Ich hatte das Gefühl, dass es schon zu viel war. Denn natürlich hörte die Sowjetunion nicht auf zu existieren, weil wir nun Dubček hier hatten. Ich selbst habe schließlich einige Artikel geschrieben, in denen ich andere Zeitschriften dazu aufrief, nüchterner und weniger radikal zu schreiben, denn andernfalls würde es zur Katastrophe kommen.“

Das „Manifest der 2000 Worte“ etwa gilt heute oft als Mitauslöser des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen. Der Verfasser Ludvík Vaculík mahnte die tschechoslowakische Staatsführung Ende Juni eindringlich dazu an, den eingeschlagenen Weg der Reformen fortzuführen. Vitězlav Sommer:

Zdeněk Mlynář  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Dieser Strom an Meinungen und Informationen, der auf einmal in der Öffentlichkeit publiziert werden konnte, der hat viele überrascht. Das betraf genauso die Menge wie die Radikalität der Meinungen. Das heißt, die Abschaffung der Zensur spielte auch eine Rolle als Katalysator, sie beschleunigte die Prozesse.“

Der Reformkommunist Zdeněk Mlynář bezeichnete die Medien später als „einzig wirklich funktionierendes Element der demokratischen Pluralität“ im Prager Frühling. Wie gefährlich sie den Kommunisten erschienen, zeigt die Entwicklung nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968. Bereits im September des Jahres wurde die Zensur wieder eingeführt. Sie blieb bis 1989 in Kraft.