Für die Kinder oder für das Regime? Die Geschichte des Pionýr

Pioniere

2010 feiert die Bürgervereinigung Pionýr 20 Jahre ihres Bestehens. Der heutige Pionýr hat jedoch einen Vorgänger: die gleichnamige kommunistische Massenorganisation, ein Instrument der politischen Manipulation von Kinder und Jugendlichen.

„Ferienlager oder überhaupt Freizeitaktivitäten mit Kindern sind in Tschechien überdurchschnittlich weit verbreitet, dafür, dass wir ein relativ kleines Land sind. Es ist eine bestimmte Tradition, aber ich bin ehrlich gesagt nicht in der Lage zu sagen, warum. Ich weiß es nicht. Wir haben das wohl einfach gern“, sagt Jakub Kořínek, der als Vorstandsmitglied der Organisation „Pionýr“ schon aus beruflichen Gründen Ferienlager einfach gerne haben muss.

Historisches Aufbauplakat
Pionýr feiert in diesem Jahr ein 20-jähriges Jubiläum. Zwar veranstaltet die Organisation schon seit 1949 Ferienlager für Kinder und Jugendliche in Tschechien beziehungsweise der Tschechoslowakei. Das Jahr 1990 stellt jedoch für Pionýr eine entscheidende Zäsur dar, es gilt als das Jahr der Erneuerung. Kořínek kann das näher erläutern:

„Im Wendejahr 1989 kam es zu relativ grundlegenden Veränderungen in der Gesellschaft, und der Sozialistische Jugendverband, dem auch der Pionýr als Unterorganisation angehörte, stellte seine Tätigkeit ein. Bei den Pionieren existierten eine Menge Abteilungen, die weitermachen wollten, aber ohne eine Dachorganisation und ohne politische Zielrichtung. Wir wollten einfach eine offene Organisation sein - für die Kinder. Deshalb also Erneuerung.“

Offizielles Pioniersymbol  (links) in der Vergangenheit
Dennoch haftet dem Wort Pionýr – und damit auch der gleichnamigen Organisation – für viele Tschechen ein bitterer Beigeschmack an. Pionýr – das stand für kommunistische Indoktrinierung von Minderjährigen.

„Die Pionierorganisation des Sozialistischen Jugendverbandes war genau wie ihr Vorbild, die Pionierorganisation in der Sowjetunion, ein Bestandteil des totalitären Systems. Sie sollte treue, dem Regime ergebene Bürger erziehen“, urteilt Jiří Pernes, der Leiter des Instituts für das Studium totalitärer Regime. Pernes geht sogar soweit, Pionýr in seiner Zielrichtung mit der Hitlerjugend zu vergleichen. Wagen wir also einen Blick zurück.

Jiří Pernes
Unmittelbar nach der Machtübernahme in der Tschechoslowakei im Februar 1948, versuchten die Kommunisten unter Klement Gottwald die Gesellschaft einem radikalen Umbau zu unterziehen. Der sollte dauerhaft sein. Gesucht wurde daher eine Organisation, die als Instrument zur Manipulation von Kindern und Jugendlichen dienen konnte. Diese glaubte man in dem damals etwa 180.000 Mitglieder zählenden Pfadfinderverband Junák gefunden zu haben. Doch der Junák ließ sich nicht so leicht vereinnahmen. Nach Massenaustritten hatte er im April 1949 nur noch 30.000 Mitglieder. Pfadfinder-Gruppenleiter, die sich der Zusammenarbeit mit den Kommunisten widersetzten, wurden drastisch bestraft. Einer von ihnen war Jiří Navrátil. Er wurde 1949 zu 20 Jahren Haft verurteilt, von denen er elf in verschiedenen Gefängnissen und Arbeitslagern durchlitt. Navrátil erläutert, warum der Junák nach dem erfolglosen Übernahmeversuch der Kommunisten verboten wurde:

„Was die totalitären Machthaber an den Pfadfindern gestört hatte war vor allem, dass dies eine Bewegung war, die in der amerikanischen und britischen Demokratie groß geworden ist. Und sie förderte die Individualität. Und Individualität kann keine Diktatur gebrauchen.“

Das kommunistische Regime gründete daher am 24. April 1949 seine eigene Kinder- und Jugendorganisation, den Pionýr. Der offizielle Name lautete Pionierorganisation des Tschechoslowakischen Jugendverbandes. Pionier wurde man mehr oder weniger automatisch, war die Organisation doch eng mit dem Schulwesen verbunden. Mit dem Eintritt in die Grundschule wurden die Kinder Jiskry (auf Deutsch: Funken); ab der dritten Klasse, also mit etwa 9 Jahren, wurden aus den Funken die Pionýři - Pioniere. Sie bekamen dann ein rotes Halstuch und mussten einen Eid auf den Staatspräsidenten leisten:

„Dass ich ein rotes Halstuch hab,
dass ihr es nur ja erfahrt,
inbrünstig danke ich dafür
dem Genossen Gottwald.“

Der Höhepunkt im Jahr waren für die Pioniere die Sommer-Ferienlager, in denen sie auf Gleichaltrige aus dem ganzen Land trafen. Neben dem gemeinsamen Singen am abendlichen Lagerfeuer wurde viel gespielt, man trieb Sport oder unternahm Ausflüge. Generationen ehemaliger Pioniere erinnern sich auch heute noch gerne an die Ferienlager, in denen sie lernten zu schwimmen oder ein Lagerfeuer anzulegen. Unter die vielen schönen Erinnerungen mischen aber sich nicht selten auch unschöne, an Heimweh zum Beispiel oder an den üblichen Lagerkoller. Im Erwachsenenalter stoßen vielen Teilnehmer der Pionierlager im Nachhinein aber auch ein geradezu militärischer Drill und die politische Manipulation sauer auf. Zdeněk Šaroch war seit den 60er Jahren Leiter in Pionierlagern. Er erinnert sich:

„Über die Leiter musste ein Gutachten erstellt werden. Darin wurde festgehalten, wie sich die Person politisch engagiert, ob sie Mitglied in der Kommunistischen Partei ist und solche Sachen. Leiter wurden also sozusagen nur amtlich beglaubigte Personen.“

Nur in der kurzen Zeitspanne zwischen 1968 und 1970 konnte sich die Pionierorganisation aus der politischen Umklammerung lösen. Die im Prager Frühling 1968 eingeleiteten gesellschaftlichen Reformen hatten es möglich gemacht. Zu dieser Zeit nahm sogar der einstmals verbotene Pfadfinderverband Junák seine Tätigkeit wieder auf. Das Ende ist bekannt. Mit der einsetzenden Normalisierung, wie die neue moskautreue Führung ihre Repressionen euphemistisch nannte, wurde Anfang der 70er Jahre sämtlichen pluralistischen Tendenzen ein Riegel vorgeschoben. Der Junák wurde abermals verboten und auch der Pionýr wurde wieder gleichgeschaltet und der neu gegründeten Dachorganisation, dem Sozialistischen Jugendverband, einverleibt. Fortan hatte der Pionýr wieder die Vorgaben des Regimes zu erfüllen: kommunistische Gehirnwäsche an Grundschulkindern. Doch das bedeutete nicht unbedingt, dass jedes Pionierlager ein kommunistisches Erziehungscamp war, sagt Šaroch:

„Es war früher so, dass der Rahmenplan der Aktivitäten noch vor dem eigentlichen Lager von einem Bezirksgremium genehmigt werden musste. Aber da wurde die ideologische Seite nicht ganz so streng gesehen, wie das hätte sein sollen. Da ging es eher um das Lager an sich.“

Und gerade an die Lager an sich und an andere gemeinschaftliche Aktivitäten für Kinder und Jugendliche ohne politische Hintergedanken wollten einige Pioniere auch nach der Wende 1989 anknüpfen. Das Ende des Kommunismus ging jedoch auch bei der Massenorganisation mit einem erheblicher Aderlass einher, erzählt das heutige Vorstandsmitglied Jakub Kořínek:

Pioniere
„Viele Leute traten aus, entweder traten sie anderen Vereinigungen bei oder sie hörten völlig mit ihren Tätigkeiten auf. Leute, die nur in der Organisation waren, um irgendwelche politischen Punkte zu sammeln, die traten natürlich auch aus, denn es gab keinen Raum mehr, um solche Punkte zu sammeln.“

Etwa 16.000 Mitglieder hat der Pionýr heute, weitaus weniger als allein die Zahl der Gruppenleiter vor 1989 (im Jahr 1975: über 115.000 Leiter bei über 1,2 Millionen Mitgliedern). Auch wenn Pionýr heute vom Schulministerium als gemeinnützige, demokratische Organisation für Kinder und Jugendliche anerkannt ist, kämpfen seine Mitglieder wie Jakub Kořínek immer noch mit den historischen Altlasten:

Pionierlager
„Viele Leute denken, wenn sie den Namen Pionýr hören, wir seien der kommunistische Nachwuchs. Sind wir nicht. Bei uns sind Leute, die Wähler und Mitglieder verschiedenster Parteien sind. Aber im gegenwärtigen Pionier spielt die politische Präferenz keine Rolle. Wir bemühen uns immer, das zu erklären. Viele wollen das verstehen. Und die, die das nicht verstehen wollen, die verstehen das natürlich nicht, unabhängig davon, was man ihnen sagt.“