Die „goldenen 20 Jahre“ der Karpatenukraine

Karpatenukraine

Im September 1919 kam die heutige Karpatenukraine unter tschechoslowakische Herrschaft. Für 20 Jahre wurden dann von Prag aus die Geschicke in dieser Region bestimmt. Heute erinnert beispielsweise noch ein ganzes Viertel in Užhorod an diese Zeit. Auch das ist in einer Ausstellung des tschechischen Nationalmuseums derzeit zu sehen. Im Folgenden mehr zu den sogenannten „goldenen 20 Jahren“ der Karpatenukraine.

Karpatenukraine

Waldkarpaten  (Foto: Till Janzer)
Über 800 Jahre lang gehört der westlichste Zipfel der heutigen Ukraine zum ungarischen Herrschaftsgebiet. Doch am Ende des Ersten Weltkriegs zerfällt die Doppelmonarchie, und dies führt zu einer Neu-Orientierung vieler Völkerschaften. Das überträgt sich auch auf die Ruthenen, oder wie sie sich selbst nennen: die Russinen. Sie bilden damals die größte Gruppe der Bewohner in der Karpatenukraine. Ondřej Štěpánek ist Kurator beim Nationalmuseum für die Sammlungen zur neuzeitlichen Geschichte:

„Diese Ethnie hat auch heute noch relativ viele Mitglieder. Aber noch mehr waren es zur Zeiten der Ersten Tschechoslowakischen Republik, als sich das Schicksal des neu gegründeten Staates und der Ruthenen miteinander verband. Ihr Hauptsiedlungsgebiet war die Karpatenukraine, das heutige Transkarpatien, das 1918 angeschlossen wurde. Allerdings lebten die Ruthenen sehr verstreut und teilten sich in Untergruppen auf wie zum Beispiel die Huzulen, Lemken oder Bojken. Zwischen ihnen bestanden unter anderem auch sprachliche Unterschiede.“

Diaspora votiert für die Tschechoslowakei

Ondřej Štěpánek  (Foto: Irina Rutschkina)
Nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 sehen sich die Ruthenen verstärkt einer Magyarisierung ausgesetzt. Deswegen will man ab 1918 eine neue politische Heimat. Allerdings gehen die Vorstellungen je nach Gegend und Gruppe stark auseinander. Ein Teil der Ethnie sowie die ungarische Minderheit möchte eine autonome Stellung innerhalb Ungarns, ein anderer Teil ein gemeinsamen Staat mit den Ukrainern oder Russen sowie ein dritter eben den Anschluss an die Tschechoslowakei. Letztere Gruppe erhält Unterstützung aus den USA, konkret von der dort lebenden kleinen ruthenischen Diaspora:

„Es wurden Verhandlungen in Philadelphia geführt, und zwei Drittel der Delegierten in der Diaspora waren dafür, sich der Tschechoslowakei anzuschließen. Dabei war der künftige tschechoslowakische Staatspräsident Masaryk vor dem Krieg noch eher für einen Anschluss der Karpatenukraine an Russland gewesen. Aber die Entwicklung nahm einen anderen Verlauf, auch wegen des Bürgerkriegs in Russland. Und am 8. Mai 1919 entschied sich die Hauptversammlung der ruthenischen Nationalräte für die Tschechoslowakei“, so Štěpánek.

Ausstellung „Podkarpatská Rus – ein Teil unserer Geschichte“  (Foto: Irina Rutschkina)
Allerdings verlangen die ruthenischen Vertreter ganz dezidiert weitgehende Autonomie in dem neuen Staat. Diese wird der Karpatenukraine auch bei den Verhandlungen in Versailles nach dem Ersten Weltkrieg zugestanden. So vereinbaren die Alliierten im Minderheitenschutzvertrag mit der Regierung in Prag unter anderem Folgendes:

„Die Tschechoslowakei verpflichtet sich, das Gebiet der Ruthenen [...] im Rahmen des tschechoslowakischen Staates als autonome Einheit einzurichten, die mit der weitgehendsten, noch mit der Einheitlichkeit des tschechoslowakischen Staates zu vereinbarenden Autonomie ausgestattet sein wird.“

Doch zu der Umsetzung soll es in den folgenden 20 Jahren nicht kommen. Zunächst verhindern dies teils chaotische Zustände in diesem Teil Europas. In der Folge entwickelt aber die Zentralregierung auch wenig Interesse, ihren Verpflichtungen nachzukommen.

„Daraus entstanden in der Zwischenkriegszeit viele Missverständnisse und Streitereien“, so der Historiker Štěpánek.

Bei den Parlamentswahlen von 1935 zum Beispiel stimmt nur ein Viertel der Wähler in der Gegend für Parteien, die die Regierung in Prag unterstützen. Der Rest votiert für die Kommunisten, die Ungarn-Partei oder autonomistische Gruppierungen.

Sprachenstreit und Rückständigkeit

Ausstellung „Podkarpatská Rus – ein Teil unserer Geschichte“  (Foto: Irina Rutschkina)
Ein Hauptproblem der Karpatenukraine ist ihre Rückständigkeit. Es fehlt schon ganz einfach an Bildung. Außerdem bricht ein skurriler Zwist auf: Bis 1939 können sich die Ruthenen nicht darauf einigen, in welcher Sprache eigentlich der Unterricht in ihrem Teil der Tschechoslowakei abgehalten werden soll. Trotzdem ist es gerade das Schulwesen, das sich in der Zwischenkriegszeit enorm entwickelt. Dazu der Fachmann:

„In den meisten Bereichen des Lebens spürten die Ruthenen einen qualitativen Anstieg. Der tschechoslowakische Staat bemühte sich besonders, die Bildung zu verbessern oder zumindest die Bildungsmöglichkeiten. Er gründete Schulen, und die Alphabetisierungsrate stieg ziemlich deutlich an. Er versuchte zudem, die regionale Kultur und den Sport zu unterstützen.“

Laut zeitgenössischen Erhebungen wächst zwischen 1920 und 1936 die Zahl der Schulen in der Karpatenukraine von 475 auf 745. Dabei steigen die Schülerzahlen um das Zweieinhalbfache. Doch nicht in allen Bereichen kommt es zu einem Aufschwung. Besonders eine Industrialisierung gelingt nicht…

„Wie in anderen Bereichen des Lebens war die Gegend auch in der Wirtschaft rückständig. Es gab nur wenige Unternehmen mit mehr als 100 Angestellten. Leider kamen in der Zwischenkriegszeit auch kaum weitere hinzu. Entweder verfügte der tschechoslowakische Staat nicht über ausreichend Mechanismen, oder er hatte nicht genügend Interesse daran, die Gegend in technologischer Hinsicht auf eine höhere Ebene zu hieven“, erläutert Štěpánek.

Schwejk auf dem Geländer  (Foto: Till Janzer)
Zudem wird zwar eine Bodenreform durchgeführt, doch die ärmsten Landbewohner haben weiter zu wenig Land, um ihre Familien zu ernähren. Denn Spekulanten und ausländische Firmen reißen sich große Teile des früheren Großgrundbesitzes unter den Nagel, wie der Historiker Ladislav Lipscher in einem Artikel für die Zeitschrift Bohemia geschrieben hat. Karpatenukrainische Politiker beklagen, dass die notleidenden Bauern steuerlich überlastet sind. Und bei der Eintreibung der Steuerschulden von ihnen werde mit übertriebener Strenge gegen sie vorgegangen, während auf große Besitzer Rücksicht genommen werde, hieß es.

Schwejk auf dem Geländer

Wer allerdings heute die Gegend besucht, wird erstaunt sein, wie positiv das Bild von den 20 Jahren tschechoslowakischer Herrschaft über diesen westlichsten Teil der Ukraine ist. Darauf deutet zum Beispiel hin, dass ein Künstler in Užhorod einen kleinen bronzenen Schwejk auf das Geländer über den Flussauen gepflanzt hat. Auch Ondřej Štěpánek sagt:

Tschechoslowakisches Viertel in Uschhorod  (Foto: Till Janzer)
„Allgemein wird immer wieder darüber berichtet, dass die Ruthenen diese Zeit als die ‚goldenen 20 Jahre‘ bezeichnen. Da die Gegend sehr rückständig war gegenüber dem tschechischen Landesteil, aber auch gegenüber der Slowakei, bestand ein großer Druck, das Leben in der Karpatenukraine zu verbessern. Dass das Gebiet zu einem Teil der Tschechoslowakei wurde, stand nicht nur in den Verträgen, dies konnten auch die einfachsten Menschen auf dem Lande spüren.“

Das Ende dieser Gemeinschaft kommt in mehreren Schritten. Anfang Oktober 1938 proklamiert die Slowakei ihre Autonomie innerhalb des Staates. Darauf bildet Andrij Brodij am 11. des Monats in der Karpatenukraine die erste autonome Regierung. Allerdings verliert man Anfang November durch einen internationalen Schiedsspruch in Wien den mehrheitlich ungarisch besiedelten Südwesten der Gegend mit der Hauptstadt Užhorod und Mukatschewo.

Ausstellung „Podkarpatská Rus – ein Teil unserer Geschichte“  (Foto: Irina Rutschkina)
Als dann Hitler am 15. März 1939 Böhmen und Mähren besetzt und die Slowakei sich für unabhängig erklärt, entsteht für einige Stunden ein eigenständiger karpatenukrainischer Staat. Doch die Ungarn marschieren entgegen dem Schiedsspruch dort ein. Zu Ende des Zweiten Weltkriegs kommt das Gebiet noch einmal unter tschechoslowakische Herrschaft. Das kommunistisch dominierte Volkskomitee in Mukatschewo entscheidet sich allerdings für eine künftige Eingliederung in die Sowjetunion, zu der es Anfang 1946 kommt.

Das vorerst letzte Kapitel wird nach dem Zerfall des sowjetischen Riesenreiches aufgeschlagen. Die Karpatenukraine wird Teil der neuen Ukraine. In einer Volksabstimmung votieren 78 Prozent der Ruthenen jedoch für einen autonomen Status innerhalb diese Nachfolgerepublik der früheren UdSSR. Dennoch wird die Gegend direkt den Behörden in Kiew unterstellt.

Holzkirche in Pylypets  (Foto: Till Janzer)

Die Ausstellung des Nationalmuseums heißt „Podkarpatská Rus – ein Teil unserer Geschichte“. Sie ist im Nationaldenkmal auf dem Vítkov-Hügel zu sehen. Die Öffnungszeiten sind Mittwoch bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr.

Autor: Till Janzer
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