1937 war das letzte Jahr der Tschechoslowakei in ihren ursprünglichen Grenzen. Hitler-Deutschland setzte seinen Nachbarn immer mehr unter Druck – einen Nachbarn, der in seinen Plänen nicht existieren sollte. Zugleich verschärften sich in der Tschechoslowakei die politischen Spannungen wegen der Sudetendeutschen Partei, deren Vertreter immer mehr Autonomie für die deutsche Minderheit forderten. Aber auch vor diesem Hintergrund geschahen immer noch ermutigende Dinge. Im Dezember 1937 belohnte der Tschechoslowakische Rundfunk seinen Millionsten Gebührenzahler - und dies war ein Sudetendeutscher: Julius Richter aus Bohosudov / Mariaschein am Rand des Erzgebirges.
Die Regeln für den Empfang der Rundfunksendung waren vor dem Zweiten
Weltkrieg in der Tschechoslowakei ähnlich wie heute in Tschechien. Jeder
Hörer musste sein Radiogerät registrieren lassen und eine Rundfunkgebühr
entrichten. Als die Zahl der registrierten Hörer sich der Millionengrenze
näherte, schrieb der Rundfunk einen Wettbewerb über den Millionsten
Gebührenzahler aus. Der Sieger wurde unter etwa 24.000 neuen Hörern
ausgelost, die sich in dem damals festgelegten Zeitraum angemeldet hatten.
Das Los fiel auf Julius Richter, einen Angestellten der Elektrizitätswerke
in Bohosudov, damals Mariaschein, nordöstlich von Teplice / Teplitz
gelegen. Sein Name wurde feierlich am 9. Dezember 1937 im Gebäude der
damaligen Staatslotterie in Prag bekannt gegeben - und der Rundfunk war
natürlich dabei. Julius Richter hielt bei dieser Gelegenheit eine
Dankesrede aus Deutsch:
„Meine Damen und Herren, vor allem danke ich dem Radiojournal in Prag für das Entgegenkommen, mich ihnen als der Millionste Rundfunkhörer der Tschechoslowakischen Republik persönlich vorstellen zu können. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass die launische Glücksgöttin mich in so reichem Maße bedenken würde. Schon als der Rundfunk noch in den Anfängen war, ist es mein sehnlichster Wunsch gewesen, einen Empfänger zu besitzen. Aber die hohen Preise derselben und mein kleines Einkommen waren miteinander nicht in Einklang zu bringen. Mit zunehmender Vervollkommnung und der dadurch bedingten bedeutenden Verbilligung der Apparate entschloss ich mich, angeregt durch die Werbeaktion des Radiojournals in Prag, an dieser Aktion teilzunehmen. Wie erstaunt aber war ich, als ich im Rundfunk von meinem großen Glücksfall hörte. Ganz besonders freut es mich, dass es mir als Sudetendeutschen vergönnt ist, im Prager Rundfunk zur Welt zu sprechen. Auf Wiederhören bei der nächsten Werbeaktion, der zweimillionste Rundfunkhörer der Tschechoslowakischen Republik!“
Das Ereignis war eine echte Sensation in Nordböhmen. Manche Zeitungen berichteten ausführlich über den Sieg des Bewohners aus Mariaschein. Sie beschrieben seine persönliche Geschichte, druckten Fotografien von ihm ab und hoben dabei hervor, dass es sich um einen Sudetendeutschen handelte. Auf einem der abgedruckten Fotos ist der Gewinner mit seinen zwei Kindern zu sehen. Die Blätter brachten unter anderem auch eine Aufzählung der Geschenke, die Julius Richter bekam. Es waren vor allem mehrere Radioapparate von verschiedenen Firmen. Weiter berichtete zum Beispiel Teplitz-Schönauer Anzeiger am 10. Dezember 1937:
Hohe Tatra
„Ganz abgesehen von der Barsumme von 5.000 Kronen, die von den
Rundfunkhändlern bereitgestellt wurde, hat eine Reihe von Firmen
Sachpreise verschiedenster Art zur Verfügung gestellt. So zum Beispiel
einen Aufenthalt in der Tatra mit allem Komfort, einen Konferenztisch,
Konfektionserzeugnisse. Das Elektrizitätswerk der Stadt Prag hat gleich
zehn elektrische Bügeleisen gewidmet. Auch ein Grundstock für eine
Briefmarkensammlung wird ihm durch den Vorsitzenden des deutschen
Philatelistenverbandes, Alfred Taschke aus Warnsdorf, überreicht werden.
Die Baťa-Filiale in Teplitz will den Gewinner auf besonders nette Weise
beschenken.“
Bohdan Ostroveršenko
Nordböhmen war vor dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend von Deutschen
besiedelt. In der Stadt Graupen, tschechisch Krupka, die heute mit
Mariaschein vereinigt ist, lebten damals etwa 3500 Einwohner. Nur rund 400
davon waren Tschechen. Die Verhältnisse zwischen beiden Nationen waren
hier wohl nicht so schlecht, wie in Tschechien allgemein überliefert wird.
Bohdan Ostroveršenko ist zwar nicht in der Gegend geboren, lebt aber schon
seit Jahrzehnten dort und gilt als örtlicher Kulturträger. Er weiß viel
über die Geschichte des Ortes und engagiert sich auch
grenzüberschreitend:
Erzgebirge
„Es mag hie und da zu Auseinandersetzungen zwischen den Tschechen und
Nazi-orientierten Deutschen aus der Sudetendeutschen Partei gekommen sein,
aber grundsätzlich verlief das Leben hier damals ruhig. Es gab viele
gemischte Ehen, was nationale Spannungen eher verhinderte. Sowohl die
Tschechen, als auch die Deutschen verrichteten schwere Arbeit in den
Erzbergwerken. Die Förderung von Erz gab dem Gebirge ja auch seinen
deutschen Namen. Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg auf Tschechisch als
´hartes Gebirge´ bezeichnet wurde, zeugt nur vom tschechischen
Chauvinismus. Das Leben war für alle gleich hart, und die Leute mussten
das gemeinsam ertragen. Ich habe auch nichts davon gehört, dass hier im
Krisenjahr 1938 geschossen worden wäre. So etwas geschah an anderen Orten,
aber hier in Krupka sicher nicht.“
Krupka / Graupen und Rosenburg
Bohdan Ostroveršenko weist zudem auf eine heute fast vergessene Sache
hin: 1937 bauten die deutschen und tschechischen Bewohner des nahegelegen
Dorfes Rtyně nad Bílinou / Hertine an der Bilin ein Denkmal für den
ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten, Tomáš Garrigue Masaryk.
Die Spenden dafür hatten sie gemeinsam gesammelt. Nach der deutschen
Besatzung der Sudetengebiete und damit auch dieses Teils des Erzgebirges
infolge des Münchner Abkommens wurde das Denkmal zerstört. Es sind nur
ein paar Fotografien in privaten Sammlungen erhalten geblieben. Auf den
Webseiten des Dorfes wird heute davon nichts erwähnt.
Aber zurück zu den Verhältnissen in Graupen. Walter Eichler wurde 1929
in dem Ort geboren und 1945 dann mit seinen Eltern und Verwandten
vertrieben. Er sagt, dass es damals zu tschechisch-deutschen Spannungen
gekommen ist, aber nur aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage. Die
Sudetendeutschen begannen für das Nazi-Regime zu schwärmen, weil sie ihm
eine Lösung für die hohe Arbeitslosigkeit in der Gegend zutrauten, meint
Eichler:
Es gab finanzielle Probleme wegen der großen Arbeitslosigkeit
„Ich habe Erinnerungen an die Zeit vor 1938, weil mein Vater hier ein
kleines Lebensmittelgeschäft hatte. Bei uns waren sowohl Deutsche wie
Tschechen Kunden. Es gab eigentlich keine Probleme, wer Deutscher ist und
wer Tscheche. Das war kein Unterschied. Das einzige, was ich aus den
Erzählungen und Diskussionen weiß: Es gab finanzielle Probleme wegen der
großen Arbeitslosigkeit – sowohl bei den Deutschen, als auch bei den
Tschechen. 70 Prozent der Arbeitslosen waren Deutsche, was natürlich zu
Spannungen führte. Dann kam in Deutschland die Hitler-Zeit und man hat
dort gleich mit der Rüstung angefangen, was Arbeit und Brot brachte. Aber
bei den Sudetendeutschen muss man differenzieren: Sie waren nicht alle für
den Einmarsch von Hitler.“
Bohosudov / Mariaschein
Genau diese Details werden in Tschechien häufig auch noch heute
übersehen. Selbst der Bürgermeister von Krupka, zu dem der Wallfahrtsort
Bohosudov gehört, zeigte sich erstaunt darüber. Auf Bitte von Radio Prag
ließ er im Stadtarchiv suchen, um etwas über das Schicksal von Julius
Richter nach dem Zweiten Weltkrieg herauszufinden. Allerdings ohne Erfolg.
Kein Wunder, meint Peter Reinert von der sudetendeutschen Heimatgruppe
Graupen, Mariaschein und Umgebung: Richter sei mit seiner Familie 1945
vertrieben worden. Reinert ist es gelungen, das Einwohnerverzeichnis dieser
Ortschaften ausfindig zu machen:
Wehrmacht
„Diese Leute mussten sofort weg, weil sie Eigner eines Hauses waren.
Schon am 11. Juni 1945 wurden sie bei der so genannten ´wilden´
Vertreibung auf die Straße gesetzt. Wer in einem Mietshaus wohnte, der
konnte noch bleiben. Das war aber nicht erste Ungerechtigkeit gegenüber
Julius Richter. Die Radiogeräte, die er 1937 mit großen Fanfaren bekommen
hatte, musste er ein Jahr später bereits wieder an den Staat zurückgeben.
Kurz vor dem Münchner Abkommen zwang die tschechoslowakische Regierung
alle Deutschen, ihre Geräte abzugeben. Als die deutsche Wehrmacht kurz
danach ins Land einmarschierte, wurden diese Geräte wieder zurückgegeben.
So steht es in der Chronik.“
Das erwähnte Haus, in dem Julius Richter mit seiner Familie bis 1945 wohnte, steht immer noch. Die Adresse war damals Graupner Weg 438.
Wir haben noch eine Bitte an Sie, liebe Hörerinnen und Hörer. Wir sind
auf der Suche nach Hinweisen, wo sich Julius Richter nach der Vertreibung
angesiedelt hat bzw. wo seine Nachkommen heute leben. Falls Sie etwas
darüber wissen, dann schreiben Sie doch bitte eine Nachricht an unsere
Redaktion: per Post an Radio Prag – Deutschsprachige Redaktion,
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