Camillo Sitte – Visionär der Stadtplanung

Grab von Camillo Sitte auf dem Zentralfriedhof Wien (Foto: Andreas Faessler, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Seinerzeit hat Camillo Sitte vielen Städten Österreich-Ungarns ein neues Gesicht gegeben. So hat der Architekt und Maler auch im heutigen Tschechien seine Spuren hinterlassen. International wurde der gebürtige Wiener vor allem durch sein Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ bekannt.

Camillo Sitte
Camillo Sitte wurde 1843 in Wien geboren. Er war einer der ersten Architekten, die sich theoretisch und kritisch mit der Stadtplanung im Industriezeitalter auseinandersetzten. Wegen seiner baulich-ästhetischen Vorschläge gilt er sogar als „Wiederbegründer der Stadtbaukunst“. Der Historiker Stefan Scholz von der Prager Karlsuniversität dazu:

„Camillo Sitte war Professor, Architekt und Städteplaner. Er hat in der sogenannten Gründerzeit gearbeitet, also in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Der Urbanismus dieser Epoche, wie er vor allem von Otto Wagner geprägt wurde, war nicht sehr menschenfreundlich. Die Zeit war bestimmt von Spekulanten, vom Gewinn und von der Sucht. Man wollte aus jedem einzelnen Quadratmeter teuer gekauften Baugrund so viel wie möglich Gewinn und Kapital herausschlagen. Das heißt, man hat alles versiegelt und so hoch wie nur möglich mit Mietskasernen verbaut. Die Bebauung war in den inneren Bezirken Wiens oder etwa den Prager Stadtteilen Karlín und Vinohrady sehr schön. Kennzeichnend dafür waren die Schachbrettbebauung und der Mangel an Grünflächen.“

Städtebau als Kunst

Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain
Sitte veröffentlichte 1889 sein Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ und erlangte damit hohes Ansehen über die Grenzen Österreich-Ungarns hinaus. Er prägte die Idee, dass der Städtebau als Kunstwerk verstanden werden müsse und nicht nur als Sache der Technik. Vorbilder für seine Projekte und theoretischen Arbeiten suchte er in antiken, mittelalterlichen und barocken Städten. Er wandte sich von der pragmatischen Planung seiner Zeit ab, die ganz von der Hygiene, dem Verkehr und dem wirtschaftlichen Nutzen abhing. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stand der zentrale Stadtplatz. Er betonte zudem die Bedeutung von Freiflächen, Gärten, Höfen und gekrümmten Straßen für ein positives von Stadträumen mit Atmosphäre.

„Camillo Sitte war ein Dissident in dieser Zeit, ein Rebell. Er hat den Grundsatz geprägt: ein Quadratmeter Grün auf einen Quadratmeter verbaute Fläche.“

Seine Prämissen hatten aber Folgen für seine Karriere:

„Das hat in der damaligen Zeit bedeutet, dass man keinen Auftrag in der Hauptstadt bekommt. Er hat zwar in Wien gelebt und gelehrt, dort aber nie planen dürfen. Und auch nicht in anderen bedeutenden Städten der Monarchie wie in Prag oder Budapest. Das heißt, er war verbannt in die Peripherie, und das hieß damals Nordmähren und Nordböhmen.“

Přívoz: einzige Stadt nach Sittes Konzept

Ostrava-Přívoz  (Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain)
Die einzige Stadt, die wirklich nach dem urbanistischen Konzept von Camillo Sitte errichtet wurde, ist Přívoz / Oderfurt. Heute ist sie ein Teil von Ostrava / Ostrau. Die wichtigsten Bauten von Sitte dort sind das Neubarock-Rathaus und die Pfarrkirche im Stil der Neugotik. Die Mariä-Empfängnis-Kirche bildet eine Dominante des Zentrums. Sitte hat das Gotteshaus nicht nur entworfen, sondern sich auch als Maler am Interieur beteiligt. Die Mitte von Přívoz komponierte der Architekt als einen Komplex von sieben Häuserblöcken rund um einen rechteckigen Zentralplatz. Dieser war über eine Straße mit dem Bahnhof verbunden. In seinem Projekt wollte der Stadtplaner die Architektur mit der angewandten Kunst vereinigen.

„Přívoz ist für die moderne Stadtökologie das Mekka und Medina. Man darf nicht vergessen, dass wir heute in einer Zeit leben, wo dieses Thema angesagt ist. Für die heutigen Studenten in Wien, und ich nehme an auch in Prag, ist Camillo Sitte der Visionär schlechthin.“

Auch mehr als hundert Jahre nach seinem Tod wird dem Werk von Camillo Sitte viel Aufmerksamkeit gegönnt.

„Sitte hat seinen ganzen Nachlass, etwa 50.000 Schriftstücke, darunter viele Pläne und technische Beschreibungen, der Technischen Universität in Wien vermacht. Dort wurde dann die Camillo-Sitte-Gesellschaft gegründet, die den Nachlass verwaltet. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren kam es zu einer gründlichen Bearbeitung dieser 50.000 Dokumente.“

Plan der königl. Hauptstadt Olmütz. Die Stadterweiterung nach dem Entwurfe des Architekten Camillo Sitte  (Quelle: Museum der Kunst in Olomouc,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0 CZ)
Stefan Scholz ist Mitglied eines Teams, das an einer Gesamtausgabe von Sittes Schriften und Entwürfen arbeitet. Herausgegeben wird sie von der Technischen Universität in Wien. Die Aufgabe für den österreichischen Historiker war es, in der Tschechischen Republik nach Spuren von Sitte zu suchen.

„Es ging darum, in tschechischen Archiven nach Camillo Sitte zu suchen. Vor allem in den Städten, in denen er seine Pläne umgesetzt hatte. Das betraf ganz konkret Ostrava, also Mährisch Ostrau und Schlesisch Ostrau, die Stadterweiterung in Olomouc / Olmütz, die teilweise realisiert wurde, und dann den nicht realisierten Erweiterungsplan von Liberec / Reichenberg und von Dubí / Eichenwald bei Teplice. Da waren sehr reiche Funde.“

Die Ergebnisse der Forschung, die Scholz in den tschechischen Archiven durchführte, sind im sechsten Band der Camillo-Sitte-Gesamtausgabe zusammengetragen:

Dreiröhrenschloss im Brdy-Gebirge  (Foto: Mojmír Churavý,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)
„Die ersten Bände enthalten seine Architekturprojekte und seine Schriften. Die berühmte Programmschrift ‚Städtebau nach künstlerischen Grundsätzen‘ aus dem Jahr 1889, die schon bis Ende des 19. Jahrhunderts in sehr viele Sprachen übersetzt wurde, wurde hier im Band drei noch einmal herausgegeben. Interessant ist zweifellos der sechste Band. Dieser entstand auf Grundlage der Archivforschungen in tschechischen Archiven.“

Spuren in tschechischen Archiven

Stefan Scholz konkretisiert, was genau im letzten Band der Gesamtausgabe zu finden ist:

„Hier sehen wir zuerst die Architekturentwürfe von Sitte, vor allem in den böhmischen Ländern. Es sind Einzelbauten, die wirklich nach Sitte errichtet wurden. Viele wissen nicht, dass darunter etwa das Zámek Tři trubky ist, also das Dreiröhrenschloss im Brdy-Gebirge. Außerdem noch viele Projekte in Schlesisch Ostrau.“

Das romantische Jagdschloss Tři trubky nahe Plzeň / Pilsen wurde für Hieronymus Colloredo-Mannsfeld erbaut, den Besitzer der umliegenden Wälder. Das Gebäude diente zu repräsentativen Zwecken und wurde mit zahlreichen Trophäen sowie Kunststücken mit Jagdmotiven ausgestattet. Zudem gehörten ein eigenes Wasserwerk und Wasserkraftwerk dazu, und im umliegenden Wald wurden wertvolle exotische Bäume gepflanzt. Nach der Gründung der Tschechoslowakei wurde das Jagdschloss verstaatlicht und seit 2014 gilt es als Kulturdenkmal. Der Staat plant in Zukunft eine Instandsetzung und Umwandlung des Schlosses in ein Zentrum für Waldpädagogik und Tourismus.

Grab von Camillo Sitte auf dem Zentralfriedhof Wien  (Foto: Andreas Faessler,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)
Zurück aber zu Camillo Sitte und seinen Spuren in den tschechischen Archiven:

„Das wichtigste sind die städtebaulichen Projekte. Es gibt hier Těšín / Teschen, das zentrale Projekt Přívoz und die Erweiterung von Mährisch Ostrau. Wenige wissen, dass er sogar zur Parzellierung von Konstantinopel eingeladen wurde. Und er hat auch den Plan für Laibach gemacht.“

Trotz der Aufträge in aller Welt hatte eine enge Beziehung von Camillo Sitte zu Böhmen und Mähren nicht nur mit seinem Beruf etwas zu tun, sondern auch mit seinen familiären Wurzeln:

„Wir wissen, dass sein Vater Franz Sitte in dem kleinen Dorf Neukirchen nordwestlich von Liberec geboren wurde. Schon vor 1848 kam er nach Wien. In der Gründerzeit war er dort als Architekt und Baumeister tätig. Er gehörte nicht zur Spitze wie Semper oder Förster, aber immerhin zur gehobenen Mittelklasse der Gründerzeit-Baumeister in Wien. Camillo Sitte wurde in Wien geboren und ist dort aufgewachsen. Er hat zwar nordböhmische Wurzeln, war aber ein gebürtiger Wiener.“