75 Jahre nach dem Massaker: Lidice soll heutigen Opfern Hoffnung geben

Bronzestatue mit den 82 überlebensgroßen Kinderfiguren (Foto: Ondřej Tomšů)

An diesem Samstag jährt sich zum 75. Male ein schreckliches Ereignis, das – nach Ansicht des ehemaligen tschechischen Premiers Petr Nečas – einen Wendepunkt im Kampf gegen den Nationalsozialismus darstellte. Es ist die Zerstörung von Lidice, einem kleinen Dorf unweit von Prag. Dabei wurden alle männlichen Dorfeinwohner über 15 Jahre erschossen, die Frauen und Kinder wurden in Konzentrationslager verschleppt. Das Massaker der Nazis war eine Vergeltungsaktion für das erfolgreiche Attentat tschechischer Widerstandskämpfer auf SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Seit Jahrzehnten erinnert eine Gedenkstätte im früheren Lidice an die Gräueltat der Nazis und an die Opfer.

Zerstörung von Lidice  (Foto: ČT24)
„Auf höchstem Befehl wurde im Zusammenhang mit dem Attentat auf Gruppenführer Heydrich, die böhmische Gemeinde Lidice dem Erdboden gleichgemacht. Die gesamte männliche Bevölkerung wurde erschossen. Die Frauen wurden in ein Konzentrationslager auf Lebenszeit überführt. 90 Kinder werden mit einem fahrplanmäßigen Zug nach Litzmannstadt (Łódź, Anm. d. Red.) gebracht. Der Zug trifft am Samstag, 13. Juni `42 in Litzmannstadt ein. Die Kinder bringen nichts mit als das, was sie auf dem Leibe haben. Ein besondere Fürsorge ist nicht erforderlich.“

Diese und weitere Tondokumente der nationalsozialistischen Propaganda, vor allem aber eine Vielzahl von Erinnerungen an die Opfer, sind im Museum der Nationalen Gedenkstätte Lidice zu sehen oder zu hören. Zu ihnen gehören auch Zitate der verschleppten Dorfkinder aus den Briefen, die sie an die ihnen entrissenen Eltern und Großeltern geschrieben haben. Ein Beispiel:

Mauer der Opfer in Lidice  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Liebe Großmutter, ich bitte Sie, könnten Sie mir ein Kleid zum Anziehen schicken, wir sind hier alle barfuß. Sind Sie mir bitte nicht böse, dass ich Sie belästige. Ich will viel, doch ich verspreche Ihnen, dass ich das wieder gutmache.“

Diese und weitere Dokumente belegen die menschenverachtende Grausamkeit der NS-Schergen. Weshalb ist es noch heute wichtig, daran zu erinnern? Und welche Lehren können aus diesem düsteren Kapitel der Vergangenheit gezogen werden? Dazu mehr im Interview mit der Leiterin der Gedenkstätte, Martina Lehmannová.

Das grausame Verbrechen vom 13. Juni 1942 in Lidice hat damals die Welt erschüttert. Warum ist es wichtig, dauerhaft an diese Gräuel zu erinnern?

Initiative „Lidice Shall Live!“  (Foto: Archiv der Gedenkstätte Lidice)
„Das Wichtigste, was wir tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass sich solche Massaker wie in Lidice nicht wiederholen. Dennoch, wenn wir derzeit in die Welt schauen, herrscht nach wie vor in vielen Ländern Krieg. Ich muss da vor allem Syrien nennen. Aus diesem Bürgerkriegsland wissen wir, dass es dort mindestens zwei Dörfer gibt, in denen so etwas wie in Lidice geschehen ist. Dort wohnten ebenso unschuldige Menschen, die ermordet wurden. Und auch diese Dörfer wurden zerstört und eingeebnet.“

An das Massaker von Lidice erinnert seit Jahrzehnten eine Gedenkstätte. Wer hat ihre Errichtung geplant, und wann wurde mit dem Bau begonnen?

Lehmannová: „Das Wichtigste, was wir tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass sich solche Massaker wie in Lidice nicht wiederholen. Dennoch, wenn wir derzeit in die Welt schauen, herrscht nach wie vor in vielen Ländern Krieg. Ich muss da vor allem Syrien nennen.“

„Was in Lidice geschehen ist, war ein Schock für die ganze Welt. Schon im Jahr 1942 hat Sir Barnett Stross in England die Initiative „Lidice Shall Live!“ (Lidice soll leben!) ins Leben gerufen. Aus dieser Initiative wurde die Idee geboren, ein neues Lidice zu errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die wiedervereinigte Tschechoslowakei dann auch Kraft und Geld in die Hand genommen, um ein neues Dorf namens Lidice aufzubauen, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft des ursprünglichen Ortes. Dort aber, wo das einstige Lidice stand, wurde eine Gedenkstätte geschaffen. Sie beginnt mit einem großen Torbogen, von dem aus man in das ehemalige Lidice eintreten soll. Der Architekt dieses Denkmalgebäudes ist Marek Prokop. Er hat es nach dem Krieg entworfen, der Bau selbst wurde 1962 fertiggestellt. Im Jahr 2002 kam schließlich noch das Museum von Lidice hinzu.“

Also 1962 öffnete die Gedenkstätte ihre Pforten. Wann aber wurde das neue Dorf Lidice fertiggestellt?

Gedenkstätte in Lidice  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Die Bauarbeiten für beide Vorhaben liefen gleichzeitig. Ein bisschen später ist Stross noch mit einer anderen Idee gekommen: Im Raum zwischen der Gedenkstätte und dem neuen Dorf wollte er ein Rosarium entstehen lassen. Und dieser Rosengarten gehört heute sogar zu den größten seiner Art weltweit. Wenn man folglich heute nach Lidice kommt, kann man dort über 24.000 Rosenstöcke sehen und bewundern. Das ist wirklich eine einzigartige Anlage in der ganzen Welt.“

Wie viele Menschen haben die Gedenkstäte seitdem besucht? Oder anders gefragt: Wie viele Besucher haben sie jährlich im Schnitt? Und aus welchen Ländern kommen sie vor allem?

Bronzestatue mit den 82 überlebensgroßen Kinderfiguren  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Wie viele Menschen Lidice seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besucht haben, das wissen wir wirklich nicht genau. Doch ich kann sagen: Es waren Millionen. Die Besucher kamen nämlich schon im ersten Nachkriegsjahr 1946 – da hat man in Lidice den Frieden gefeiert, und zu dieser Feier sind Zehntausende Menschen gekommen. Für die Gegenwart kann ich sagen: Im Jahr 2016 haben mehr als 100.000 Menschen die Gedenkstätte Lidice besucht. 40.000 von ihnen waren dabei sowohl im Museum als auch der Galerie. Ich muss indes hinzufügen, dass die Nationale Gedenkstätte Lidice auch den Ort Ležáky mit einschließt. Dieses kleine Dorf liegt zirka 200 Kilometer östlich von Prag. Zwei Wochen nach dem Massaker von Lidice wurde auch Ležáky von den Nazis total zerstört.“

Wie man bei jeder Gelegenheit sehen kann, wird das sogenannte Denkmal für die Kinderopfer des Krieges besonders oft besucht. Die Bronzestatue mit den 82 überlebensgroßen Kinderfiguren wird von allerlei Puppen und Spielzeug gesäumt. Das zeigt, dass hier offenbar häufig Schulklassen Halt machen. Was bedeutet dies für die Kinder, wenn sie diese Figurengruppe sehen?

„Die Kinder sind unsere wichtigsten und zahlreichsten Besucher. Darüber sind wir sehr froh, denn die junge Generation sollte schon im Schulalter Lidice besichtigen und alles erfahren, was hier einst passiert ist. Damit sie sich dessen bewusst werden, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Es ist aber ebenso erforderlich, den kleinen Kindern viel über die Geschehnisse von damals zu erzählen, und ihnen jegliche Fragen darüber zu beantworten. Vorschulkinder und Schulklassen besuchen in der Regel zuerst das Museum und danach das Gelände, in dem sich das alte Dorf befand. Dort machen die Schüler vor allem beim Kinderdenkmal Halt. Das ist für sie ein emotional sehr berührender Ort, denn hier bekommen sie förmlich zu spüren, wie damals gleichaltrige Mitmenschen aus Lidice zum größten Teil ermordet wurden. Denn hier kommen starke Gefühle hoch, wenn ihre Lehrerinnen oder unsere Museumsführerinnen darüber erzählen.“

Lehmannová: „Die Kinder sind unsere wichtigsten und zahlreichsten Besucher. Darüber sind wir sehr froh, denn die junge Generation sollte schon im Schulalter Lidice besichtigen und alles erfahren, was hier einst passiert ist.“

Was können die Besucher außer dem Kinderdenkmal noch in der Gedenkstätte Lidice sehen?

„In dem alten Dorf kann man noch andere historisch-wichtige Plätze finden. Einer davon ist die Fläche, auf der das ehemalige Horák-Gut stand. Das ist der Ort, an dem die Männer aus Lidice ermordet wurden. Es waren 173 Männer und junge Burschen, die hier den Tod gefunden haben. Nicht weniger bedeutend ist eine kleine Anhöhe, auf der ursprünglich die Kirche des heiligen Martin war. Jedes Jahr am 10. Juni, wenn in Lidice die Gedenkfeier stattfindet, beginnt diese mit einer christlichen Messe auf dem Platz, wo die Kirche stand. Zudem können unsere Gäste den Neuen Friedhof besuchen, der in der Nähe des Alten Friedhofs liegt. Über die Geschichte von Lidice kann man alles in unserem Museum erfahren, das im Jahr 2006 fertiggestellt wurde. Die Autoren der musealen Aufbereitung der Tragödie von Lidice sind der Fotograf und Künstler Bohdan Prokůpek und der Regisseur Pavel Štingl. Beide haben die Idee entwickelt, in welcher Form man den Besuchern die Geschichte nahebringt. Unterstützt wurden sie dabei von vielen Wissenschaftlern wie Eduard Stehlík, Michal Burián und anderen. Gemeinsam haben sie dafür gesorgt, dass den Besuchern ein berührendes Szenario über die Tragödie von Lidice gezeigt wird.“

Frauen aus Lidice | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International
Das Massaker der Nazis an der Bevölkerung des Ortes war eine grausame Vergeltungstat für das Attentat am Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich, Hitlers Statthalter in Prag. Ein Großteil der Einwohner kam unmittelbar oder später ums Leben. Wie viele der verschleppten Frauen und Kinder von Lidice haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gemeldet? Und wie viele von ihnen leben noch?

„Bis heute leben zwei Frauen aus Lidice. Den Zweiten Weltkrieg ebenso überlebt haben neun ehemalige Kinder des Ortes. Diese Kinder sind natürlich heute auch schon über 75 Jahre alt. Sie sind allerdings auch die Personen, die die Tragödie buchstäblich in sich tragen. Ab und zu erzählen sie den Besuchern über das Verbrechen auf Lidice, also wie sie das schreckliche Ereignis in ihren jüngsten Jahren erlebt haben. Die Frauen haben die Gräuel noch vor Augen: Sie mussten sich damals in der Schule versammeln, dann gingen sie nach Kladno und danach wurden sie in ein Konzentrationslager deportiert. Die Kinder haben die klaren Erinnerungen nicht mehr, doch auch sie hat es sehr hart getroffen. Die meisten der Kinder aus Lidice wurden ermordet, in Łódź oder in Chelmno. Einige von ihnen sind indes nach Deutschland gekommen und wurden dort arisiert. Diese Kinder hat man nach dem Zweiten Weltkrieg von der Tschechoslowakei aus gesucht und dann auch hierher zurückgebracht. Doch die Mehrzahl von ihnen konnte kein Tschechisch. Als sie dann nach Hause gekommen sind und zum ersten Male nach Jahren wieder ihrer leiblichen Mutter begegnet sind, konnten sie nicht einmal auf Tschechisch ‚Guten Tag‘ sagen. Die ganze Geschichte mit den Kindern ist für mich persönlich das Schlimmste, was seinerzeit mit den Opfern von Lidice passiert ist.“

Lehmannová: „Die Gedenkstätte soll den Besuchern sagen, dass selbst das schlimmste Ereignis, was einem im Leben widerfährt, immer die Hoffnung nach sich zieht, wieder neu anzufangen. Man kann wieder etwas aufbauen, wie das neue Dorf in Lidice, und man kann sein Leben stets verbessern.“

Die Gedenkstätte von Lidice soll letztlich auch eine gewisse Symbolik ausstrahlen. Welche ist das für Sie?

„Die Erinnerung an die Tragödie von Lidice ist für mich sehr wichtig. Doch die darüber hinauslaufende Symbolik besteht für mich darin, den Menschen Mut zu machen. Die Gedenkstätte soll den Besuchern sagen, dass selbst das schlimmste Ereignis, was einem im Leben widerfährt, immer die Hoffnung nach sich zieht, wieder neu anzufangen. Man kann wieder etwas aufbauen, wie das neue Dorf in Lidice, und man kann sein Leben stets verbessern. Das ist für mich die wichtigste Botschaft, die heute von Lidice ausgeht.“

Die Gedenkstätte wendet sich also gerade auch an junge Menschen. Ein Vorgänger von Martina Lehmannová hat dazu auch eine besondere Aktion initiiert. Daraus sei eine Tradition entstanden, schließt die Gedenkstättenleiterin mit Stolz:

„Für uns ist es sehr wichtig, Kunstwerke auszustellen, die von den Kindern angefertigt wurden. Es ist eine internationale Ausstellung, sie wurde im Jahr 1972 gegründet. In diesem Jahr feiern wir also das kleine 45-jährige Jubiläum. Jedes Jahr senden uns dafür Kinder aus der ganzen Welt ihre Zeichnungen, Gemälde, Statuen oder andere große wie kleine Dinge. Die Kinder wollen damit das Andenken an Lidice mitprägen und mitgestalten. In diesem Jahr haben wir mehr als 25.000 Kinderobjekte erhalten. Das ist wirklich eine beeindruckende Menge.“