Das Mädchen aus Böhmisch Leipa – Fotos als Zeugnisse der Zeit

Ulbrichts Tochter Hilda (Foto: Martina Schneibergová)

Im Landeskundlichen Museum von Česká Lípa / Böhmisch Leipa befindet sich ein sehr interessanter Familiennachlass von insgesamt 80 Fotografien. Die Aufnahmen dokumentieren nicht nur das Leben der konkreten Familie. Sie vermitteln auch eine Vorstellung von den Menschen und dem Aussehen der Stadt zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Seit Donnerstag ist im Museum eine Ausstellung der Fotos zu sehen.

Ulbrichts Tochter Hilda  (Foto: Martina Schneibergová)
Anton Ulbricht war Drucker und ein Lithograph und lebte in Česká Lípa. Er fotografierte seine einzige Tochter Hilda fast bei jeder Gelegenheit, was Anfang des 20. Jahrhunderts einzigartig war. Glücklicherweise ist ein Großteil von Ulbrichts Fotos erhalten geblieben. Im Landeskundlichen Museum der Stadt ist nun eine Auswahl aus Ulbrichts Fotografien zu sehen. Sie dokumentieren das Leben von Ulbrichts Tochter, die sehr jung starb. Zudem erzählen die Fotos vom Geschehen in der Stadt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Ausstellung habe er aus zwei Beweggründen zusammengestellt, erzählt Kurator Ladislav Smejkal.

„1969 ist der Nachlass des Fotografen und Lithografen Anton Ulbricht Bestandteil der Museumssammlungen geworden. Der Nachlass umfasst auch seine graphische Arbeiten, zu denen vor allem die sogenannten ‚Industrie-Veduten‘ gehören. Eine Auswahl davon haben wir schon früher gezeigt. Außerdem befinden sich im Nachlass viele Fotos und Dokumente der Familie. Was alles in den Familienfotos steckt, ist mir bewusst geworden, als ich vor einiger Zeit Veranstaltungen des Projektes ‚Verschwundene Nachbarn‘ besucht habe. Sie beschäftigen sich vor allem mit jüdischen Familien. Ich habe mir Gedanken über die Fotografien der einzigen Tochter des Ehepaars Ulbricht gemacht, die 1920 im Alter von 16 Jahren an der Spanischen Grippe starb. Die Fotografien aus ihrem Leben dokumentieren den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zudem zeugen sie davon, dass die Familie von neuen, fortschrittlichen Ideen angetan war.“

Fotoausstellung „Das Mädchen aus Česká Lípa“  (Foto: Martina Schneibergová)
Die Ulbrichts waren Vegetarier, sie haben regelmäßig geturnt und waren bemüht, das Kind oft zu Ausflügen und Wanderungen mitzunehmen, erzählt Ladislav Smejkal. Das alles dokumentieren die Fotos. Frau Ulbricht war Schneiderin von Beruf, ihre Tochter trug immer sehr schöne Kleider. Die Fotos bieten auch einen Einblick in die Entwicklung der Damenmode zu der Zeit. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich dann das Leben tiefgreifend, sagt der Kurator.

„Dies gilt auch für die Familie von Anton Ulbricht. Er musste einrücken, konnte sich nicht mehr um sein Gewerbe kümmern. Als sich in der Armee herumsprach, dass er Graphiker ist, wurde er im Militärinstitut für Geographie in Wien beschäftigt. Denn er konnte sehr gut Landkarten zeichnen. Nach dem Krieg überlegte Ulbricht, ob er in Wien bleiben oder in die Heimat zurückkehren soll. Er entschied sich schließlich für die Rückkehr nach Böhmen. Wir zeigen in der Ausstellung unter anderem Ulbrichts Antrag um die Rückreise mit der Bahn vom Wiener Nordwestbahnhof nach Prag-Vršovice. In Česká Lípa fand er aber keine Anstellung und musste jeden Tag zur Arbeit nach Krásná Lípa fahren. Bald nach dem Krieg verlor er seine Tochter Hilda, sie starb am 26. Oktober 1920 an der Spanischen Grippe. Ihr Grab ist nicht mehr erhalten, aber wir wissen, wo es auf dem Stadtfriedhof gelegen hat.“

Staat verbot die Emigration nach Deutschland

Ladislav Smejkal  (Foto: Martina Schneibergová)
Alle Fotos, die in der Ausstellung zu sehen sind, hat Anton Ulbricht selbst geschossen. Nur eine einzige Fotografie wurde im Fotoatelier von Emil Lorenz in Česká Lípa gemacht. Anton Ulbricht blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod in der nordböhmischen Stadt. Dazu der Kurator:

„Ulbricht war Sozialdemokrat und wurde zudem als Fachmann bezeichnet, der in der Tschechoslowakei bleiben sollte. Selbst wollte er jedoch eigentlich auswandern, weil er in der Stadt außer seiner Frau niemanden mehr hatte, mit dem er sich unterhalten konnte. Wir haben aber Informationen darüber, dass ihm sogar verboten wurde, nach Deutschland auszusiedeln. Der Grund war, dass er Jahre lang Landkarten gezeichnet hatte. Im Archiv besteht eine Liste mit Namen von Menschen, die freiwillig das Land verlassen wollten. Ulbrichts Name ist in diesem Verzeichnis durchgestrichen – mit der Bemerkung, er sei Spezialist, bei dem die Umsiedlung nicht erwünscht sei.“

Landeskundliches Museum von Česká Lípa  (Foto: Martina Schneibergová)
Ladislav Smejkal hat Anton Ulbricht einmal persönlich getroffen. Es war im Sommer 1969, erinnert sich der Kurator:

„Er hat viel für unser Museum gearbeitet. Denn er konnte damals sehr gute Fotokopien machen und Bilder retuschieren. Dies nutzte manchmal auch der damalige Nationalausschuss. Ulbricht wurde beispielsweise beauftragt, die Porträts der kommunistischen Staatspräsidenten so zu retuschieren, dass die Politiker jünger aussahen.“

Foto einer Wahlrechtsdemo von 1905

In der Ausstellung sind nicht nur Familienfotos zu sehen, sondern auch Fotos aus der Stadt und der Umgebung. Anton Ulbricht gelang es zudem, wichtige historische Ereignisse zu dokumentieren, sagt der Kurator. Er macht auf das Foto eines alten Mietshauses aufmerksam:

Die Fotoausstellung heißt „Das Mädchen aus Česká Lípa“, sie ist im Maštálek-Saal des Landeskundlichen Museums zu sehen, und zwar bis 12. Juni. Das Museum ist von Mai bis September täglich außer montags geöffnet, die Öffnungszeiten liegen von 9 bis 12 und von 13 bis 17 Uhr. Im März und im April sowie von Oktober bis Dezember ist das Museum von Mittwoch bis Sonntag zugänglich, im Januar und Februar ist das Museum geschlossen.

„Er hat am 9. Mai 1945 aus einem Fenster des Hauses die Ankunft der sowjetischen Armee fotografiert. Es handelt sich um das einzige Foto aus Česká Lípa vom 9. Mai. Einen Tag zuvor fotografierte Ulbricht die Bombardierung der Stadt. Die beiden Bilder halten zwei wichtige Momente der Stadtgeschichte fest. Von Ulbricht stammt auch das erste Foto mit sozialer Thematik von hier: Es zeigt eine Kundgebung für das allgemeine Wahlrecht am 28. November 1905. Ulbricht hatte angefangen zu fotografieren, kurz nachdem er 1901 nach Česká Lípa gekommen war. Zuvor war er drei Jahre langauf der Walz in Deutschland gewesen. Als Drucker sammelte er Erfahrungen in Berlin und vor allem in Nürnberg.“