Vielstimmige Ausstellung: Vertriebene und Verbliebene erzählen

Foto: Archiv des Tschechischen Zentrums Wien

„Stereo statt Mono“ – mit diesen Worten beschreibt ein Zeitzeuge seine Perspektive auf die NS-Zeit in der Tschechoslowakei und die spätere Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung. Es ist ein Tscheche, der mit einer Sudetendeutschen verheiratet ist. Seine Lebensgeschichte und die von anderen 36 Tschechen, Slowaken, Deutschen und Österreichern zeigt die Ausstellung „Vertriebene und Verbliebene erzählen“, die seit dieser Woche gleich an drei Orten zu sehen ist. Aus Videointerviews entwirft die Ausstellung ein Panorama, das unterschiedliche Sichtweisen zusammenbringt und nationale Zuschreibungen in Frage stellt. Ein Gespräch mit Kurator Georg Traska.

Georg Traska  (Foto: Archiv von Georg Traska)
Herr Traska, die Ausstellung beschäftigt sich mit der NS-Zeit in der Tschechoslowakei und mit der Vertreibung, aus der Sicht von Zeitzeugen – Tschechen, Slowaken, Deutschen und Österreichern. Wie haben Sie diese Sichtweisen zusammengebracht?

„Wir haben 37 Interviews geführt – biographische, lebensgeschichtliche Interviews. In der Ausstellung haben wir die Interviews thematisch geschnitten. Das heißt, dass in diesem thematischen Schnitt die verschiedenen Positionen in relativ schnellem Wechsel und in verschiedenen Sprachen in einen Dialog treten.“

Sind sie bei der Auswahl der Interviewpartner nach einem besonderen Schema vorgegangen? Welche Geschichten haben sie besonders interessiert?

Foto: United States Holocaust Memorial Museum
„Das ist eine wichtige Frage. Prinzipiell haben wir versucht, Interviewpartner zu wählen, die eher noch nicht interviewt wurden, oder die uns nicht über eine politische Institution vermittelt wurden, wo gewissermaßen schon ein politisch-kultureller Filter vorgeschaltet würde – zum Beispiel wenn wir Kontakte über die Landsmannschaften der Vertriebenen bekommen hätten. Wesentlich waren für uns Positionen, in denen selbst schon die Spannungen dieser Geschichte aufgehoben sind. Daher gibt es auch ein Video mit dem Titel ‚Zwischenidentitäten‘. Also zum Beispiel Menschen aus einer deutsch-tschechischen Ehe. Oder Juden und Jüdinnen, die vielleicht primär deutschsprachig waren, aber natürlich unter den Nazis am meisten gelitten haben. Also genau diese Positionen, die in sich die Spannungen schon aufheben.“

Foto: Georg Traska
15 Stationen mit Videokompilationen sind heraus gekommen – wie kann man denn erzählte Lebensgeschichten thematisch einteilen?

„Man sucht zunächst einmal Stellen aus, die eine Bedeutung für bestimmte Themen haben. Wenn das Thema zum Beispiel Nachbarschaft und Freundschaft lautet, dann gibt es dazu Erzählungen wie Nachbarschaft bis 1938 funktioniert hat – aber auch wie sie zerstört wurde durch Denunziationen. Oder wie schwierig es war, auch nach 1945 und all den Brüchen der Zeit, ein Vertrauen, einen Zusammenhalt einer Nachbarschaft wiederherzustellen.“

Henlein-Bewegung
Sie haben sich für den langen Zeitraum 1937 bis 1948 entschieden, was war der Grund?

„Prinzipiell war wesentlich, dass der Zeitraum auf jeden Fall die NS-Zeit und die Zeit der Vertreibungen einschließt. Wir haben 1937 genommen, damit auch die unmittelbare Vorkriegszeit, sozusagen der Vorabend der Katastrophe miteingeschlossen ist. Es hätte auch 1935 sein können. Letztlich geht es um die Zeit, in der die nationalen Spannungen in der Tschechoslowakei größer geworden sind, in der die Henlein-Bewegung immer mächtiger geworden ist, und immer deutlicher mit der NS-Linie übereingestimmt hat. Und 1948 ist natürlich der große Bruch in der tschechoslowakischen Geschichte, der letztlich auch ein Bruch für die Deutschböhmen und Deutschmährer war, weil manche von denen, die bleiben konnten, bis dahin noch gegangen sind. Für andere, die vielleicht nicht bleiben wollten, war klar, dass sie nicht mehr hinauskönnen.“

Eleonore Schönborn im Interview  (Foto: Archiv des Tschechischen Zentrums Wien)
Die Ausstellung ist Teil eines oral-history-Projekts. In der Geschichtswissenschaft steht auch zur Diskussion, wie gut man Ereignisse, zum Beispiel in Ausstellungen, mit Zeitzeugeninterviews transportieren kann. Wie sind sie mit diesem Problem umgegangen?

„Wir haben das von der positiven Seite gesehen. Welche Sachen kann man durch oral history besonders gut transportieren? Es ist die individuelle, persönliche Erfahrung von der großen Geschichte. Oral history kann nicht dazu dienen, einem die politische Geschichte, die Geschichte der Regierungen und Staaten auf möglichst objektive Weise zu vermitteln. Aber sie kann vielleicht am besten von allen historischen Instrumenten zeigen, wie sich die große Geschichte in einzelnen Leben niedergeschlagen hat. Aber auch, welche Verhaltensspielräume dem einzelnen immer noch blieben – auch unter totalitären oder kriegsbedingten Verhältnissen.“


Neustädter Rathaus  (Foto: Kristýna Maková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
Die Ausstellung „Vertriebene und Verbliebene“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Organisation Antikomplex in Tschechien und in der Slowakei. In Prag ist sie bis zum 6. März im Neustädter Rathaus (Novoměstská radnice) zu sehen, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr. Parallel dazu wird sie auch im Volkskundemuseum Wien und in der Universitätsbibliothek Bratislava gezeigt.