„Tschechien auf dem Weg“: Selbstreflexion zum Jubiläumsjahr 2018

„Tschechien auf dem Weg“: Ein Projekt der Akademie der Wissenschaften will an bedeutende Jahrestage erinnern, die im kommenden Jahr in Tschechien begangen werden. Gleichzeitig will man aber auch eine Reflexion der gegenwärtigen und künftigen Rolle der tschechischen Gesellschaft in der Welt anregen.

Lubomír Zaorálek  (Foto: ČT24)
Genau 100 Jahre werden im kommenden Jahr seit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918 vergangen sein. Auch wird der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968 im kommenden Sommer 50 Jahre her sein. Und schließlich werden es 25 Jahre seit dem Zerfall der Tschechoslowakei in zwei selbstständige Staaten sein. Anlässlich der anstehenden Jahrestage hat die Akademie der Wissenschaften ein Projekt mit dem Titel „Tschechien auf dem Weg“ ins Leben gerufen. Außenminister Lubomír Zaorálek (Sozialdemokraten) hat die Schirmherrschaft darüber übernommen:

„Wir wollen etwas mehr tun, als nur festzustellen, dass diese bedeutenden Ereignisse geschehen sind. Wir leben in dem ziemlich komplizierten Raum Mittel- und Osteuropas, in dem wir uns seit Jahren bemühen, die Demokratie aufzubauen. Unser Wunsch ist es nun, eine Reflexion und Selbstreflexion darüber anzuregen, wo wir uns heute befinden und wohin wir gehen wollen.“

Pavel Baran  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
Das Projekt will eine breite Öffentlichkeit ansprechen. Die Akademie der Wissenschaften gibt dazu eine Publikation heraus, die ein gemeinsames Werk von Historikern, Soziologen, Philosophen, Schriftstellern, Journalisten und weiteren Intellektuellen ist. Der Vizepräsident der Akademie, Pavel Baran, nannte bei der Vorstellung des Projekts einige Herausforderungen, vor denen die heutige Gesellschaft steht. Dazu gehörten die schnelle technologische Entwicklung, geopolitische Veränderungen, Erschütterungen innerhalb der Europäischen Union, ökologische Probleme sowie Migration und Sicherheitsrisiken:

„Wir sind der Meinung, dass man die staatliche und nationale Existenz nicht nur aus der Sicht des ganzen Jahrhunderts betrachten soll, sondern durch das Prisma der jetzigen Situation und der Fragen nach unserer Zukunft in Europa.“

Tschechoslowakei  im Jahr 1919 | Foto:  Wikimedia Commons,  public domain
Die Historikerin Milena Bartlová gehört zu dem Team, das sich mit der Frage der Identität beschäftigt:

„Wer sind ‚wir‘? Es gibt zahlreiche Deutungen des Begriffs ‚wir‘, aber keine einzige Erklärung. Es gab Tschechen, es gab Tschechoslowaken, die Identität wurde durch verschiedene zeitliche Umstände unterschiedlich definiert. Unser Team will der Öffentlichkeit die Überzeugung vermitteln, dass die ethnische Definition keinesfalls eine Lösung ist.“

Offiziell vorgestellt wurde das Projekt vergangene Woche im Außenministerium. Die Wissenschaftler warnten dabei vor dem Nationalismus, der in der heutigen Gesellschaft immer wieder zum Vorschein komme. Laut der Soziologin Tereza Stöcklová hat die Tschechoslowakische Republik der Zwischenkriegszeit maßgeblich darin versagt, einen Vielvölkerstaat zu bilden.

Tereza Stöckelová  (Foto: Marián Vojtek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Unter dem Schleier der tschechoslowakischen Nation gelang es nicht, die Stellung der deutschen und der polnischen Minderheit fair herzustellen.“

Dagegen nannte die Soziologin aber auch das positivste Moment der ersten Tschechoslowakischen Republik, an das man heute anknüpfen könnte:

„Wichtig bei der Gründung der Tschechoslowakei 1918 war das Ethos, zum Weltgeschehen und zur Globalentwicklung beitragen zu wollen. Masaryk war überzeugt, dass wir mit der Gründung des Staates nichts von der Welt für unser Volk fordern, sondern dass wir eine politische Einheit werden wollen, die zur demokratischen Ordnung der Welt beiträgt.“