Die tschechische Politik 2006 - ein bilanzierendes Interview

Der Jahreswechsel bedeutet auch Bilanz zu ziehen. Zum Beispiel eine Bilanz der politischen Entwicklung. Wie diese im Jahr 2006 in Tschechien verlaufen ist, dazu der Politologe Robert Schuster, den Sie auch als langjährigen freien Mitarbeit von Radio Prag kennen. Das Gespräch führte Till Janzer.

Das Jahr 17 nach der Wende ist zu Ende gegangen, ohne dass Tschechien eine mehrheitsfähige Regierung hat. Kann man behaupten, dass 2006 ein verlorenes Jahr für die tschechische Politik war?

"Ich würde das nicht so drastisch formulieren. In Tschechien war man angesichts des sehr knappen Ausgangs der Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Juni dieses Jahres erstmals mit der Tatsache konfrontiert, dass zwei gleich große politische Lager bestehen. Auf der einen Seite ist es das bürgerliche Lager, angeführt von den rechtsliberalen Bürgerdemokraten mit den Christdemokraten und den Grünen. Denn die Grünen werden in Tschechien - anders als in Deutschland oder Österreich - tendenziell eher zur politischen Mitte gezählt. Auf der anderen Seite stehen die beiden linken Parteien - die Sozialdemokraten und die Kommunisten. Das ist insofern interessant, als die Kommunisten ja die ganzen 15 Jahre zuvor praktisch die Outlaws waren. Man nahm zwar die Unterstützung bei verschiedenen Wahlen, Stichwort Wahl von Vaclav Klaus zum Staatspräsidenten, dankend an. Allerdings ist man nie so offen mit den Kommunisten umgegangen, dass man sie etwa ins Boot holen und mit ihnen gemeinsame Politik machen wollte - so wie es die Sozialdemokraten erwogen haben. Dass die Kommunisten endgültig aus dem Schmollwinkel heraus sind, ist eine wichtige Grenzziehung, die vor zehn Jahren vielleicht niemand für möglich gehalten hat, die aber das Jahr 2006 mit sich gebracht hat."

Du hast es schon angesprochen: Die Grünen sind das erste Mal in das tschechische Abgeordnetenhaus gekommen. Welche Bedeutung hat das für die politische Szene in Tschechien?

"Das lässt sich heute immer noch nicht so richtig abschätzen. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, ob sich die Grünen wirklich an einer neuen Regierung beteiligen werden oder nicht. Das ist eine Frage, die einen fundamentalen Charakter hat, weil die Grünen ja politische Neulinge sind. Wenn sie dann in der Regierung sind, werden dort die besten Köpfe der Partei sitzen. Und wer sind dann die Nachrücker? Aber sicherlich, der Einzug der Grünen ins Abgeordnetenhaus ist eine sehr wichtige Entwicklung, vor allem wenn man bedenkt, dass das Parteiensystem die ganzen Jahre zuvor als sehr abgeschlossen gegolten hat. Es war ein Klub von vier oder fünf Parteien, und es bestand kaum die Chance, dass diese Exklusivität einmal aufgebrochen wird. Aber das haben die Grünen geschafft."

Mir ist noch etwas Weiteres aufgefallen im Verlauf des vergangenen Jahres. 2005 gab es viele Diskussionen darüber, wie europafeindlich die Bürgerdemokraten sind. Seit dem letzten halben Jahr, seitdem ihr Vorsitzender Mirek Topolanek Regierungsgespräche führt beziehungsweise einer Regierung vorsteht, die allerdings keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus hat, kommt dieses Thema überhaupt nicht mehr auf. Wie beurteilst du das?

Foto: Europäische Kommission
"Das hängt mit zwei Faktoren zusammen. Erstens war die Europaskepsis der Bürgerdemokraten immer auch ein wenig gespielt. Wenn man zurückblickt auf die Meilensteine der Europapolitik in Tschechien, dann sind diese immer wieder von bürgerdemokratischen Regierungen oder bürgerdemokratischen Politikern mit eingeleitet worden. So wurde der EU-Mitgliedsantrag unter Vaclav Klaus, einem deklarierten Euroskeptiker, eingereicht. Ähnliches trifft auch auf die Volksabstimmung zum EU-Beitritt zu. Zweitens hängt das sicherlich mit dem Personal zusammen, dass die Außenpolitik der noch amtierenden Regierung bestimmt. Sie wird, wie auch die Europapolitik, von neuen Leuten mitformuliert, zum Beispiel von Alexandr Vondra."

Im Bereich der Außenpolitik interessiert unsere Hörer sicher auch, wie die Entwicklung der Beziehungen zu den beiden Nachbarn Deutschland und Österreich war. Welche Bilanz würdest du ziehen für das Jahr 2006?

"Da hat sich relativ wenig abgespielt. Die Beziehungen lagen auf einem völlig normalen Niveau. Natürlich kann man einwenden, dass es jetzt zu Jahresende wieder zu Störungen zwischen Prag und Wien gekommen ist - Stichwort Temelin, Stichwort Blockade der gemeinsamen Grenzen. Bislang sind das meiner Meinung nach aber nur atmosphärische Störungen."

Und wenn du etwas globaler urteilst. Wie hat sich Tschechien auf dem internationalen Parkett allgemein bewegt?

"Das Jahr 2006 ist interessant, weil Tschechien erstmals versucht hat, innerhalb der Europäischen Union "Politik" zu machen. Das heißt, Tschechien hat sich bei einigen Fragen in der 25er Gemeinschaft weit aus dem Fenster gelehnt. So war eines der großen Themen die Menschenrechtspolitik - vor allem gegenüber Kuba und Weißrussland. Da nimmt Tschechien ja schon seit Jahren deutlich Stellung. Des Weiteren gab es den Streit um die unterschiedlichen Sätze bei der Mehrwertsteuer. So sollten ja einige Übergangsfristen, die die neuen Mitgliedsländer zu ihrem Beitritt ausgehandelt hatten, mit Ende des Jahres auslaufen. Auch da hat Tschechien wieder relativ klar Position bezogen. Und man kann sagen: Tschechien hat sein Ziel erreicht. Zudem darf man etwas Weiteres nicht vergessen: den legendären Streit um die Höhe der Verbrauchssteuer bei Bier. Da hat sich Tschechien das erste Mal seit seiner EU-Mitgliedschaft mit einem der großen Spieler, ja im Falle Deutschlands sogar mit dem größten Spieler in der EU, verbündet. Das alles ist sicher Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, das das Land zwei Jahre nach dem Beitritt gewonnen hat. Man will jetzt eben nicht mehr als der Bittsteller gesehen werden, sondern als jemand, der auch aktiv die Entscheidungsprozesse in der Gemeinschaft beeinflussen kann und will. Und das ist sicher eine positive Entwicklung."