Freundin Sommerová: Věra Čáslavská war ihr Leben lang eine Heldin

Věra Čáslavská (Foto: ČTK)

Die Tschechische Republik trauert um eine ihrer größten, wenn nicht gar die größte Sportlerin der nationalen Geschichte überhaupt. Am Dienstag voriger Woche ist die siebenfache Olympiasiegerin im Kunstturnen, Věra Čáslavská, im Alter von 74 Jahren verstorben. Die unerschrockene Kämpferin für den politischen Wandel in der Reformbewegung des Prager Frühlings 1968 und spätere Beraterin von Präsident Václav Havel erlag einem tückischen Krebsleiden.

Věra Čáslavská  (Foto: ČTK)
Věra Čáslavská hat in ihrer einzigartigen Sportkarriere 140 Medaillen gewonnen, darunter sieben Gold- und vier Silbermedaillen bei olympischen Spielen. Dazu kamen vier Weltmeistertitel – der Sieg im Pferdsprung 1962 in Prag und drei Titel bei der WM 1966 in Dortmund. Am besten in Erinnerung sind aber ihre Olympiasiege geblieben. Dabei ging sie sehr konzentriert zu Werke. Über die Wettkämpfe von 1964 in Tokio sagte Čáslavská einst:

„Ich kam mir vor wie eine Ameise, die ein Körnchen nach dem anderen sammelt und sich daraus ein großes Haus baut, um nicht zu sagen einen Palast. Ich habe mich bemüht, nicht einmal eine Tausendstelsekunde außer Acht zu lassen. Im Kopf ging ich die Übungen schon vorher durch, ich sagte mir: jetzt kommt der Sprung, da muss ich punkten. Alles habe ich genau durchgerechnet.“

Čáslavskás Hochzeit  (Foto: ČT24)
Die Turnerin Věra Čáslavská war fürwahr eine Perfektionistin. Sie war sehr trainingsfleißig und hat sich auf jeden Wettkampf akribisch vorbereitet. Doch vier Jahre später, im bewegten Jahr 1968, hat nicht viel gefehlt, und die einstige Top-Athletin hätte bei den Spielen in Mexiko weder ihre Siege noch ihre Hochzeit feiern können. Denn im Sog der niedergeschlagenen Reformbewegung Prager Frühling kam auch sie persönlich in Bedrängnis:

„Am 21. August begann die Okkupation. Zuvor hatte ich das Manifest der 2000 Worte unterzeichnet und mich auch nicht umstimmen lassen, es zu widerrufen. Im Rundfunk wurde jedoch verkündet, dass sich die Signatare der 2000 Worte am besten verstecken sollten, da ihnen Gefahr drohe. Ich war damals gerade mit der gesamten Mannschaft im Trainingscamp in Šumperk.“

„Am 21. August begann die Okkupation. Zuvor hatte ich das Manifest der 2000 Worte unterzeichnet und mich auch nicht umstimmen lassen, es zu widerrufen.“

Mit ihren Turnkolleginnen bereitete sich Věra Čáslavská voller Elan auf die Olympischen Spiele vor. Mit einem Schlag aber stand ihre Sicherheit an erster Stelle. Mitarbeiter der Bergwacht halfen ihr damals, sich in einem Wald zu verstecken. Nahezu unbeobachtet von der Außenwelt setzte sie hier ihr vorolympisches Training in origineller Weise fort:

„Den moosbedeckten Waldboden nutzte ich als Bodenmatte, und auf einem kleinen Waldweg trainierte ich den Anlauf für den Sprung am Pferd. Die starken Äste einiger Bäume ersetzten mir die Holme eines Stufenbarrens, und gefällte Baumstämme dienten mir als provisorische Schwebebalken.“

Ludvík Svoboda  (Foto: Stanislav Tereba,  CC BY-SA 3.0)
Die damals 26-jährige Čáslavská ließ sich also durch nichts beirren. Und ihr Wille, sich bei den Spielen in Mexiko im allerbesten Licht zu zeigen, wurde durch den damaligen Staatspräsidenten Ludvík Svoboda noch bestärkt. Bei der Verabschiedung der tschechoslowakischen Olympioniken auf der Prager Burg sagte er unter anderem:

„Ich will Ihnen vor allem meine Anerkennung dafür aussprechen, dass sie trotz aller Schwierigkeiten und Aufregungen der vergangenen Tage ihre sportliche Vorbereitung auf die Spiele fortgesetzt haben. Wir werden Ihnen allen die Daumen drücken.“

Die junge Čáslavská bekannte seinerzeit, dass sie diese Worte sehr berührt hätten. Und vor dem Abflug nach Mexiko unterstrich sie noch einmal:

Karel Malina  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
„Wohl noch nie zuvor in unserem Leben hatten wir einen solch großen Ehrgeiz, bei Olympia erfolgreich zu sein, wie jetzt.“

Und diesen Worten, die fast schon einem Versprechen gleichkamen, ließ die zierlich wirkende Pragerin dann auch erstklassige Taten folgen. In Mexiko gewann sie Gold in den Disziplinen Pferdsprung, Stufenbarren, Boden und Achtkampf-Einzel. Bei den letzten Elementen ihrer Barrenübung konnte auch Rundfunkreporter Karel Malina seine Begeisterung kaum zurückhalten:

„Guter Abgang, gestanden, ausgezeichnet – und das ist Gold für die Tschechoslowakei“, schrie Malina seine Freude in den Äther. Und die Freude war umso größer, als sich Věra Čáslavská am Ende aller Wettkämpfe als vierfache Olympiasiegerin präsentieren konnte. Jede einzelne der gewonnenen Medaillen widmete sie je einem der Helden des Prager Frühlings:

„Mir ist es gelungen, vier Goldmedaillen zu gewinnen. Und jede dieser Medaillen schenkte ich symbolisch einer Person. Das erste und wertvollste Gold im Mehrkampf widme ich Präsident Svoboda, …“

„Mir ist es gelungen, vier Goldmedaillen zu gewinnen. Und jede dieser Medaillen schenkte ich symbolisch einer Person. Das erste und wertvollste Gold im Mehrkampf widme ich Präsident Svoboda, das zweite geht an Genossen Dubček, das dritte an Genossen Smrkovský und das vierte an Genossen Černík.“

Sehr ausgelassen und überschäumend war auch die Freude unter den tschechoslowakischen Schlachtenbummlern und ihren Gastgebern aus Mexiko bei der Siegerehrung mit Věra Čáslavská. Dazu kommentierte Reporter Malina:

„Die Touristen aus der Heimat schwenken ihre tschechoslowakischen Jacken und Fähnchen, und aus allen Kehlen ertönt wieder das ´Věra, Ra-Ra-Ra´.“

Foto: Ron Kroon / Anefo,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0 NL
Darüber hinaus wurde Věra Čáslavská in Mexiko geehrt wie eine Göttin, denn sie war der absolute Star der Spiele:

„Nach meinen Olympiasiegen wurde mir in Mexiko ein großartiger Empfang bereitet. Ich wurde in einem Konvoi ins Hotel gebracht, begleitet von einer festlich uniformierten Motorradstandarte. Als ich dort ankam, wartete bereits das gesamte Hotelpersonal auf mich – von den Zimmermädchen bis zum Direktor, alle standen sie Spalier“, schilderte Čáslavská vor gut vier Jahren im Tschechischen Rundfunk erneut ganz bewegt ihre Eindrücke von den wohl schönsten Momenten ihres Sportlerlebens.

Dazu gehört auch die Hochzeit mit dem damaligen Leichtathleten Josef Odložil, die das Sportlerpaar ebenso in Mexiko feierte – vor über 100.000 Menschen! Neben Jacqueline Kennedy wurde Věra Čáslavská sogar zur Frau des Jahres 1968 gekürt, bevor sie im Schatten des Eisernen Vorhangs für lange Zeit verschwand.

In der Heimat hatte sich die Lage schlagartig geändert und sehr zeitnah nach der Okkupation wurde ein neues, finsteres Kapitel aufgeschlagen: die Normalisierung. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings übernahmen sowjettreue Kommunisten die Regierung in der Tschechoslowakei. Diejenigen, die für den Aufbruch standen und sich von den Ideen der kurzen Reformepoche nicht lossagten, hatten es deshalb jetzt besonders schwer. Auch Věra Čáslavská:

„Da ich das Manifest der 2000 Worte unterzeichnet und diesen Schritt weder bereut noch widerrufen hatte, wurde ich 20 Jahre lang verfolgt. Mit anderen Worten: 20 Jahre meines Lebens musste ich in gewisser Weise abschreiben.“

„Da ich das Manifest der 2000 Worte unterzeichnet und ich diesen Schritt weder bereut noch widerrufen hatte, wurde ich 20 Jahre lang verfolgt. Mit anderen Worten: 20 Jahre meines Lebens musste ich in gewisser Weise abschreiben.“

Die Schikanen des Regimes äußerten sich darin, dass Věra Čáslavská Berufsverbot bekam und ihr sämtliche Privilegien aberkannt wurden, die erfolgreichen Sportlern sonst zustanden. Sie musste daher allerhand auf sich nehmen, um sich und ihre Familie überhaupt ernähren zu können. Sie malte fortan Ölgemälde, die sie verkaufte, und verdingte sich unter falschem Namen als Putzfrau.

1979 wurde die siebenfache Olympiasiegerin nach Mexiko abgeschoben, wo sie eine Arbeit aufnahm. Auf dem Flughafen von Mexiko City wurde sie erneut von Tausenden von Menschen empfangen, das Familienleben fern der Heimat aber war für sie nicht leicht. Sie kehrte zurück, als ihr Bruder mit 33 Jahren in Haft starb.

Věra Čáslavská  (Foto: Jan Sklenář,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die politische Wende im Jahr 1989 sollte eigentlich auch für Věra Čáslavská und ihre Familie die Wende zum Guten sein. Im August 1993 gerieten allerdings ihr Sohn Martin Odložil und sein Vater Josef, von dem Věra Čáslavská mittlerweile geschieden war, in einer Diskothek in einen Streit. Dabei kam es zu einem Handgemenge, bei dem der offenbar betrunkene Vater so unglücklich fiel, dass er einen Monat später an den Folgen seiner Kopfverletzungen starb. Wegen fahrlässiger Tötung wurde Sohn Martin zu vier Jahren Haft verurteilt, obwohl ihm eine Schuld am Tod des Vaters nicht zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Im Januar 1997 wurde Martin Odložil vom damaligen Präsidenten Václav Havel begnadigt. Das Unglück aber hatte Věra Čáslavská ein weiteres Mal schwer getroffen:

Václav Havel  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Schon früh nach der Wende kam es zu dieser echten Familientragödie, die ich bis heute noch nicht völlig überwunden habe. Aufgrund dieser Tragödie habe ich erneut auf sehr harte Weise 16 Jahre meines Lebens verloren.“

So lange nämlich hatte sich Věra Čáslavská vollkommen von der Öffentlichkeit zurückgezogen. Auch diesmal also konnte sie die Früchte ihrer sportlichen Verdienste vorerst nicht ernten. Dabei hatte nach der Wende alles so gut angefangen: Präsident Havel hatte sie als Beraterin zu sich auf die Prager Burg geholt, und das Tschechische Olympische Komitee wählte sie auch sehr bald zu seiner Vorsitzenden. Erst ab dem Jahr 2009 zeigte sich Čáslavská wieder in der Öffentlichkeit. Besonders unter den älteren Tschechen, die ihre Erfolge damals miterlebt hatten, war sie beliebt wie eh und je.

Das neue Glücksgefühl der Věra Čáslavská dauerte indes nur sechs Jahre. Im Mai 2015 wurde bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt, eine heimtückische Erkrankung, die ihr mehr und mehr zusetzte. Am 30. August erlag sie schließlich dieser schweren Krankheit.

Věra Čáslavská  (Foto: ČTK)
Diese Nachricht hat in Tschechien nahezu jeden berührt, ganz besonders aber ihre engsten Freunde und Bekannten. Zu ihnen gehört auch die tschechische Regisseurin Olga Sommerová, die über die berühmte Turnerin den sehr bewegenden Dokumentarfilm „Věra 68“ drehte. Zum Tod ihrer Freundin sagte sie:

„Wir sind alle schrecklich traurig, denn eine außergewöhnliche Frau ist von uns gegangen. Sie war eine Persönlichkeit, wie es sie in jedem Volk nur wenige gibt. Sie war eine Heldin, und das ihr ganzes Leben lang.“

Am kommenden Montag, dem 12. September, wird sich die tschechische Öffentlichkeit von ihrer einstigen Ausnahmekönnerin und späteren Grande Madame in aller Form verabschieden. Unter der Regie des Tschechischen Olympischen Komitees wird dazu eine Trauerzeremonie im Nationaltheater in Prag stattfinden.

Autor: Lothar Martin
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