Selbstbefreiung zwischen den Fronten: Das Kriegsende in Prag

Prager Aufstand (Foto: Archiv des Militärhistorischen Instituts in Prag)

In kommunistischer Zeit wurde die Befreiung der Tschechoslowakei am 9. Mai gefeiert. Am Morgen dieses Tages gelangte nämlich die Rote Armee nach Prag. Frei war die Stadt aber praktisch schon zuvor, denn die deutschen Besatzer erkannten die in Berlin unterschriebene Kapitulation an. Der Befreiung der Tschechoslowakischen Hauptstadt ist eine Sonderausgabe unserer Geschichtsrubrik gewidmet.

Barrikade während des Prager Aufstandes  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Wir bitten die tschechische Polizei, wir rufen die tschechische Armee. Kommt uns umgehend zu Hilfe! Wir rufen alle Tschechen!“

Mit dieser Rundfunkmeldung beginnt am 5. Mai 1945 der Prager Aufstand. In den Straßen werden hunderte Barrikaden gebaut, um den deutschen Truppen den Zugang zum Rundfunkgebäude zu versperren. Bald brechen die Gefechte in der ganzen Stadt los. Die Aufständischen verfügen nur über versteckte Waffen und Munition und beklagen von Beginn an große Verluste. Die amerikanische Armee steht bei Pilsen und könnte den Aufständischen zu Hilfe eilen, doch sie darf die mit den Sowjets vereinbarte Demarkationslinie nicht überschreiten. Die Rote Armee ist von Prag zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt. All diese Umstände spielten den Okkupanten in die Karten, sagt Jindřich Marek vom Institut für Militärgeschichte.

Ferdinand Schörner  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-L29176 / CC-BY-SA)
„Man muss sehen, mit was für einem mächtigen, bewaffneten Apparat die Aufständischen konfrontiert waren. In Prag hatte die Führung aller SS- Einheiten in Böhmen ihren Sitz. Ihr Oberkommandant Karl von Pichler Burghaus wollte den Aufstand um jeden Preis im Keim ersticken. Dazu sollten vor allem die südlich von Prag stationierten SS-Truppen mit etwa 30 Tausend Mann eingesetzt werden. Doch diese griffen nur teilweise ins Prager Geschehen ein. Ihr Oberkommandant Ferdinand Schörner musste sie auch in Ostböhmen im Kampf gegen die Rote Armee einsetzen. Die Wehrmacht blieb dagegen zurückhaltend. Ihrem Oberbefehlshaber General Rudolf Toussaint dämmerte bereits, dass der Krieg am Ende war.“

Die Aufständischen nutzen jede Gelegenheit, den Besatzern ihre Waffen abzunehmen. So bemächtigt sich etwa eine Gruppe tschechischer Eisenbahner im Bahnhof Prag-Bubny eines deutschen Militärtransports. Der Anführer der Eisenbahner sagt dem Zugführer in perfektem Deutsch, dass die Lage hoffnungslos sei, denn die Alliierten stünden bereits vor Prag. Das ist gelogen, doch die völlig verunsicherten Wehrmachtssoldaten geben auf und die beförderte Munition fällt den Aufständischen in die Hände.

Prager Aufstand  (Foto: Archiv des Militärhistorischen Instituts in Prag)
Was der Aufstand jedoch unbedingt zum Erfolg braucht, ist eine militärische Führung. Die Voraussetzungen wurden teilweise schon zuvor geschaffen. Die illegale Widerstandsgruppe Obrana naroda – auf Deutsch „Die Verteidigung der Nation“ – baute fest auf einem Aufstand und konnte rechtzeitig ihre erfahrensten Leute aus den Reihen der tschechoslowakischen Armee und Polizei bereitstellen. Das Oberkommando über den Aufstand erhält General Karel Kutlvašr. Über die Hauptaufgaben sind er und seine Mitarbeiter sich von Beginn an im Klaren.

„Es gelang ihnen, etwa sechstausend Telefonnummern außer Betrieb zu setzen, die allesamt mit den Ziffern 09 begannen. Diese Nummern gehörten den Behörden der Besatzer, der Gestapo, der Wehrmacht, den SS-Einheiten und einem Kreis deutscher Zivilisten. Als das Netzausfiel, hatten die Deutschen keine Verbindung und dadurch auch keine Informationen mehr. Die Aufständischen konnten dagegen ihren Kampf per Telefon organisieren. Auf beinahe komische Weise bekamen sie auch die Ferntelefonzentrale unter ihre Kontrolle. Der Tscheche Čestmír Tuček ging in einer Seemannuniform aus dem Ersten Weltkrieg mit Medaillen auf der Brust in das Gebäude. Er überzeugte die deutschen Angestellten der Zentrale, dass es besser sei zu kapitulieren.“

Foto: ČT24
Auch die Taktik des Kampfes beherrschen die Aufständischen perfekt. Sie bewegen sich in kleinen Gruppen um die deutschen Posten herum. Trotz ihrer personellen Übermacht fühlen sich diese dann umzingelt. Auf dem Lobkowiczplatz werden auf diese Weise etwa 400 deutsche Soldaten völlig verunsichert. Sie gehen daraufhin in die Abwehrposition und wagen es nicht anzugreifen, obwohl ihnen tatsächlich nur ein paar Dutzend leicht bewaffnete Aufständische gegenüber stehen. Doch ganz so leicht sind die Besatzer nicht zu schlagen. In der Nacht vom 5. zum 6. Mai starten deutsche Panzer einen Großangriff auf Prag. Es kommt zu erbitterten Gefechten in den Straßen, die Prager errichten hunderte Barrikaden. In den nächsten Tagen sind sie mit einem Ansturm aus drei Richtungen konfrontiert: aus Norden, Osten und Süden. Die Deutschen setzen auch das 4. SS- Panzerregiment „Der Führer“ ein, dem im Juni 1944 hunderte Zivilisten in der französischen Gemeinde Oradour zum Opfer gefallen sind. Den Angreifern stellen sich jedoch die Bewohner der Prager Vorstädte entgegen, betont Jindřich Marek.

Jindřich Marek  (Foto: Archiv des Militärhistorischen Instituts in Prag)
„In vielen Gemeinden um Prag werden Sperren aufgebaut, die Menschen kämpfen mit einer Übermacht gut ausgerüsteter deutscher Truppen. Die Aufständischen haben sehr große Verluste, dennoch gelingt es ihnen die Angreifer auf ihrem Vormarsch zu bremsen. An dieser Stelle möchte ich zwei Beispiele erwähnen. Das erste war nördlich von Prag, in Dolní Chabry. Dort lieferten sich Zivilisten und Polizisten eine harte Schlacht mit dem Regiment „Der Führer“, also mit den Verbrechern von Oradour. Etwa 25 Aufständische fielen den Kämpfen zum Opfer, doch das ‚elitäre‘ SS-Kommando wurde für mehrere Stunden gestoppt. Etwas Ähnliches spielte sich auch südlich von Prag in Lahovice ab. Auf der Brücke über den Fluss Berounka gerieten russische Soldaten, ehemalige tschechoslowakische Soldaten und Anwohner mit der SS-Einheit „Klein“ aneinander. Sie unterlagen ihnen in einem ungleichen Kampf. Danach verübten die SS-Männer ein echtes Massaker an den Zivilisten. Dennoch war es wichtig, weil sie merkten, dass ihnen Widerstand entgegenschlug und kein „Blitzkrieg“ möglich war.“

Rudolf Toussaint
Ihren Höhepunkt erreicht die deutsche Offensive am 8. Mai. Im Stadtzentrum wird gekämpft. Zu den großen Verlusten an Menschenleben kommt nun die Zerstörung historischer Bauten. Prag droht das gleiche Schicksal wie Warschau: Nach dem dortigen Aufstand hat Heinrich Himmler angeordnet, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen und die Bevölkerung zu liquidieren. Das aber wollen die Anführer des Prager Aufstands unbedingt verhindern. Als sie am 7. Mai erfahren, dass Deutschland in Reims die unbedingte Kapitulation unterzeichnet hat, wollen sie einen Kompromiss aushandeln. Jindřich Marek:

„Auf deutscher Seite zeigt sich der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Rudolf Toussaint, kompromissbereit. Er nimmt Verhandlungen auf mit den Vertretern des neu konstituierten tschechischen Nationalrat (Národní rada) über die Bedingungen der Kapitulation im Protektorat. Bereits um 16 Uhr ist die Vereinbarung abgeschlossen. Die Wehrmachtssoldaten müssen ihre Waffen niederlegen, die Aufständischen wiederum ermöglichen ihnen den Rückzug in die amerikanische Zone, und die dortige Gefangennahme.“

Rote Armee in Prag  (Foto: Karel Hájek,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Zwar betrifft die Vereinbarung nur die Wehrmacht, aber auch viele SS- Mitglieder wollen in den letzten Stunden des Krieges nur noch ihr Leben retten. Um 23 Uhr hissen die Aufständischen auf der Prager Burg die tschechoslowakische Fahne. Als am nächsten Morgen die Rote Armee nach Prag gelangt, ist die tschechoslowakische Hauptstadt praktisch frei. Stalins Soldaten müssen nur noch die allerletzten Bastionen von wenigen verbliebenen deutschen Truppen niederschlagen. Doch dass die Aufständischen den Deutschen vor der Ankunft der Roten Armee eine Kapitulation abgetrotzt hatten, fand in Moskau keinen Anklang. Unmittelbar nach dem Krieg forderte der sowjetische Botschafter Zorin die Prager Regierung auf, Kutlvašr und andere Führer des Aufstands aus der tschechoslowakischen Armee zu entlassen. Nach der Machtergreifung von 1948 erfüllten ihnen die Kommunisten diesen Wunsch. Und sie gingen noch weiter, betont Jindřich Marek.

Karel Kutlvašr  (Foto: ČT24)
„Kutlvašr wurde am 18. Dezember 1948 verhaftet und in einem politischen Scheinprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Elf Jahre lang verbrachte er in verschiedenen kommunistischen Kerkern, bis er 1960 bei der Amnestie freigelassen wurde. Die größte Ironie des Schicksals war, dass er im Gefängnis auf General Toussaint traf. Dieser soll sehr überrascht gewesen sein, dass sein Bezwinger nun das gleiche Los teilen musste. Den Männern wird nachgesagt, dass sie beide sehr nobel waren. Sie trugen ihre Situation mit Würde.“

General Karel Kutlvašr starb nicht einmal zwei Jahre nach seiner Freilassung. Obwohl er großen Anteil am Erfolg des Prager Aufstands hatte, war sein Name zu kommunistischen Zeiten in der Tschechoslowakei tabu.