Auf schmalem Grat: Jazz in Zeiten der Unfreiheit

Foto: Markéta Kachlíková

Die Jazz-Sektion – Jazzová sekce: Sie bewegte sich in der kommunistischen Tschechoslowakei auf einem schmalen Grat zwischen offiziell anerkannt und verboten und war eine wichtige Plattform für alternative Kultur. Sie veranstaltete Konzerte, die bekanntesten davon liefen unter dem Titel „Prager Jazz-Tage“. Dazu organisierte sie Ausstellungen und Vorlesungen. Auch gab die Jazz-Sektion Bücher ohne Zensur heraus sowie Kunstbulletins und Kataloge verbotener Künstler. Manche ihrer Mitglieder mussten damals sogar Gefängnisstrafen absitzen. Die Jazz-Sektion wurde vor 45 Jahren gegründet und vor 30 Jahren aufgelöst.

Rüdiger Ritter  (Foto: Markéta Kachlíková)
Die Jazz-Sektion wurde Anfang der 1970er gegründet. Jazz war damals auch der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Doch sie entwickelte sich auch weiter, sagt der Historiker Rüdiger Ritter von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität in Bremen:

„Zunächst war die Jazz-Sektion tatsächlich eine sehr stark am Jazz orientierte Organisation, die vor allem Konzerte, nämlich die Prager Jazz-Tage ins Leben gerufen hat. Hinterher ist sie eine Art künstlerisches Forum gewesen, das außer Jazz auch Rock, Theater und alle möglichen Formen von Open Art, Happenings und Literatur umfasste. In den 1980er Jahren, kann man dann sogar sagen, spielte Jazz eine Nebenrolle.“

Raus aus dem Grau des Sozialismus

Foto: Markéta Kachlíková
Die von der Jazz-Sektion veranstalteten Prager Jazz-Tage waren ein Treffpunkt von Jazz-Fans, aber auch von Oppositionellen. Jazz galt damals als eine Tür zu einer ganz neuen, freien Welt. Eben diesen Gedanken will eine Ausstellung in der Galerie der Nationalen Gedenkstätte auf dem Vítkov-Hügel in Prag ausdrücken. Rüdiger Ritter hat sie kuratiert:

„Ein ‚Eintritt in die neue Welt / Vstupenka do nového světa‘ ist genau der Gedanke der Jazz-Sektion: Von der Normalität des damaligen Sozialismus mit seiner Erfolglosigkeit und seinem Grau kommen die Besucher durch den Jazz in eine Welt, in der sie etwas Neues entdecken und Alternativen sehen können.“

Das zeigen auch die Schautafeln am Anfang der Ausstellung ganz deutlich.

„Wir haben hier das begeisterte Publikum der Konzerte der Prager Jazz-Tage. Und wir haben hier die Plakate der Prager Jazz-Tage, auf denen das immer wieder symbolisiert wird – hier die Tür oder hier, auf dem zweiten Plakat, ‚Jazz – die Schatulle der unbegrenzten Möglichkeiten‘. Oder die Idee, man kann hier Dinge erleben, die man sonst im Alltag überhaupt nicht erlebt.“

Bücher ohne Zensur: ‚Nur für den internen Gebrauch der Mitglieder bestimmt‘

Foto: Markéta Kachlíková
Die Jazz-Sektion hat sich mit der Zeit aber gewandelt: von der Konzertagentur zum Verlag. Es wurden nicht nur Jazz-Konzerte organisiert, sondern man fing an, Bücher herauszugeben. Das auch in ganzen Editionsreihen.

„Und zwar über Themen, über die man nicht so einfach sprechen konnte, die tabuisiert waren, oder über die zu sprechen sogar gefährlich oder strafbar war. Auch das fing mit der Musik an, ging dann aber sehr schnell in alle möglichen Themen der Kunst über. Da gibt es oppositionelle Autoren, die in staatlichen Verlagen nicht verlegt werden durften, da gab es Themen, die kaum angesprochen werden konnten. Und die erschienen nun in der Jazz-Sektion.“

Die offiziellen Verlage waren der Zensur unterworfen. Was in alternativen und verbotenen Samisdat-Verlagen publiziert wurde, erschien in sehr kleiner Auflage und war für ein breiteres Publikum nicht zugänglich. Die Jazz-Sektion stand dazwischen: ihre Veröffentlichungen waren nicht wirklich verboten, tatsächlich erlaubt waren sie aber auch nicht.

Foto: Markéta Kachlíková
„Die Jazz-Sektion hat sich immer auf diesem schmalen Grat zwischen erlaubt und verboten bewegt, deswegen heißt die Ausstellung auch so: Složité hledání rovnováhy, also die schwierige Suche nach Balance. Auf diesem Grat wandern, oder aber in die Illegalität oder Normalität abzustürzen.“

Die Publikationen waren zu kaufen, es gab aber Einschränkungen:

„Im Impressum steht: ‚nur für den internen Gebrauch der Mitglieder bestimmt‘. Mit der Idee, dass es dann die staatliche Zensur nicht durchläuft. Das bedeutet, die Mitglieder, und das waren um die 5000 Menschen in Tschechien und der Slowakei, hatten die Möglichkeit, offizielle und unzensierte Texte zu kaufen. Aber die Publikationen kamen nicht in die staatlichen Buchhandlungen. Also eine ganz typische halblegale Angelegenheit.“

Bohumil Hrabal ist Jazz

Bohumil Hrabal  (Foto: ČT24)
Die Reihe „Jazz petit“ war die wichtigste Edition. Sie griff ganz unterschiedliche Themen aus Musik, bildender Kunst und Literatur auf.

„Wichtig ist das Buch von Bohumil Hrabal ‚Obsluhoval jsem anglického krále‘ (auf Deutsch: „Ich diente dem englischen König“). Hier ist es zu einem Streit der Jazz-Sektion mit den Offiziellen gekommen. Eigentlich wollte der Staat dieses Buch auch herausgeben. Er hat der Jazz-Sektion vorgeworfen: ‚Warum gebt ihr dieses Buch heraus, es hat ja mit dem Jazz nichts zu tun‘. Die Organisatoren, Karel Srp und Joska Skalník, haben dazu aber gesagt: ‚Nein, das stimmt nicht, Hrabals Schreibweise selbst ist Jazz, das muss so komponiert werden wie eine Jazz-Komposition. Und deswegen geben wir das heraus‘. Der Staat hat sich damit nicht zufrieden gegeben und hat Bohumil Hrabal verhört. Er sollte zugeben, dass das Buch von der Jazz-Sektion gegen seinen Willen veröffentlicht worden sei. Man kann hier also sehen, wie der Staat und die Jazz-Sektion um die Veröffentlichung dieses Buches gekämpft haben. Am Ende war aber die Jazz-Sektion der Sieger.“

Foto: Markéta Kachlíková
Es gibt mehr solche Beispiele, zu jedem könnte man eine lange Geschichte erzählen. Vladimír Kouřils erste Geschichte des tschechischen Rock ’n’ Roll sei auch heute noch das wichtigste Buch zum Thema. Es seien keine Pamphlete oder hastig zusammengeschriebene Flugblätter gewesen, sondern richtige, ernstzunehmende Publikationen und Bücher, sagt Ritter. Das Buch über John Lennon ist ein weiteres Beispiel.

„Lennon war so bekannt, dass man ihn auch in der Tschechoslowakei nicht totschweigen konnte. Jeder wusste, wer das war, nur konnte man offiziell kein Buch über ihn herausgeben. Und dann gab es hier in Prag die Lennonova zeď, die Lennon-Mauer, in die ein Grabmal für den Musiker eingeritzt wurde. Die Polizei hat immer wieder versucht, die Spuren zu verwischen. Die Leute trafen sich dort aber immer wieder. Und schließlich hat die Jazz-Sektion beschlossen, dass sie ein Buch über Lennon herausgibt. Man hat auf diese Art und Weise ein Thema besetzt, das vom Staat versucht wurde totzuschweigen.“

Foto: Markéta Kachlíková
Die Jazz-Sektion publizierte nicht nur diese Editionsreihen, sondern auch Mitgliederzeitschriften.

„Die erste Ausgabe des Bulletins ‚Jazz‘ sind wirklich nur zwei Blätter gewesen, das Titelblatt und noch eine Rückseite mit Konzertankündigungen und Hinweisen. Graphisch war es sehr einfach gehalten. Hinterher wird es ein bisschen anspruchsvoller, die erste Seite ist zweifarbig mit dem Bild eines Jazz-Musikers. Am Ende heißt die Zeitschrift dann ‚Bulletin für zeitgenössische Musik‘, hat 80 Seiten und ist eine richtige Revue. Da geht es nicht nur um Jazz und Musik, sondern um Kultur, Literatur, Theater und so weiter.“

Mit Witz und Humor gegen den Sozialismus

Foto: Markéta Kachlíková
Verschiedene Aktionen und Happenings, mit denen man versucht hat, auch mit Witz und Humor gegen die Freudlosigkeit des Sozialismus anzuarbeiten. Das war ein weiteres Wirkungsfeld der Jazz-Sektion, wie Rüdiger Ritter an einem Bild zeigt:

„Hier hat man ein Jazz-Orchester auf einem Pferdewagen durch Prag fahren lassen. Das war eine Aktion, die große Aufmerksamkeit erreicht hat, weil man sich nicht in einer abgeschlossenen Konzerthalle bewegt hat. Sie müssen sich vorstellen, das Pferdegespann fährt durch ganz Prag, die spielen da ihre Musik, die Leute stehen da und staunen. Das konnte man nicht verbieten. Das war auch nicht illegal, aber es hat dem Regime nicht geschmeckt. Das ist eine wirklich schlaue, intelligente und witzige Art und Weise, Opposition zu demonstrieren, ohne einen Gesetzesbruch zu begehen. Das ist etwas ganz typisches für die Jazz-Sektion und daran liegt auch ihr Witz, ihr Charme und ihre Besonderheit.“

Foto: Archiv des Nationalmuseums in Prag
Warum waren eigentlich Jazz und moderne Kunst für das Regime so gefährlich? Was war eigentlich das Problem? Wenn man Jazz spielt, ruft man ja nicht sofort zum Aufstand auf. Diese Frage stellt sich vor allem für jemanden, der die 1970er und 1980er Jahre in der Tschechoslowakei nicht erlebt hat. Aber die Regierung hat die Jazz-Sektion tatsächlich als so gefährlich angesehen, dass man einen Prozess durchgeführt und sieben Mitglieder verhaftet hat. Der Grund: Die Jazz-Sektion habe Menschenmassen organisiert, sagt Rüdiger Ritter:

„In den besten Zeiten waren es um die 5000 Leute in der ganzen Tschechoslowakei. In Prag allein mehrere hundert. Das bedeutet, die Jazz-Sektion hatte in den 1970er und 1980er Jahren eine Art unabhängiges Öffentlichkeitssystem installiert. Es kam dann schließlich so weit, dass wenn in einem kleineren Ort Jugendliche irgendetwas Kulturelles machen wollten, man sich nicht mehr an die kommunistische Jugendorganisation Svaz mládeže gewendet hat, sondern an die Jazz-Sektion. Plötzlich war die Jazz-Sektion diejenige, die das Kulturleben organisierte, und nicht mehr der Staat.“

Jazz-Tage in letzter Minute abgesagt

Foto: Markéta Kachlíková
Das war für den sozialistischen Staat letztlich Grund genug, die Jazz-Sektion in ihrem Handeln einzuschränken. Man hat versucht, die Jazz-Tage zu verbieten. Insgesamt fand das Festival neun Mal legal statt.

„Die beiden letzten, die 10. und die 11. Jazz-Tage, sind in letzter Minute tatsächlich abgesagt worden. Da gab es ein Katz- und Mausspiel zwischen Karel Srp und dem damaligen Prager Stadtkulturdirektor František Trojan. Dieser hat beschlossen, dass die Jazz-Tage nicht stattfinden. Und das, als die Plakate schon gedruckt waren, die Leute schon in der Lucerna ankamen und sich setzen wollten.“

Die Organisatoren mussten sich vor den Konzertsaal Lucerna begeben und allen Leuten sagen, dass die Konzerte nicht stattfinden. Zudem mussten sie das Geld zurückerstatten, das man durch den Kartenverkauf bereits eingenommen hatte. Bei den 11. Prager Jazz-Tagen wiederholte sich das Ganze.

Prager Jazz-Tage  (Foto: Jiří Volek,  Unijazz)
„Man hatte damals schon Künstler und Musiker aus dem Ausland eingeladen, und für die hat man noch in irgendwelchen Kulturzentren am Prager Stadtrand Ersatzkonzerte organisiert. Das spielte sich illegal ab. Das wurde immerhin geduldet. Das waren die letzten beiden Jazz-Tage, die wirklich schon illegal stattgefunden haben.“

Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Prozess

Die Jazz-Sektion als solche wurde nie tatsächlich verboten. Doch sie hatte dann nicht mehr die organisatorischen Möglichkeiten, weitere Jazz-Tage zu organisieren. Bei der Vorbereitung eines Prozesses gegen die Mitglieder wurde bei Hausdurchsuchungen das ganze Organisations-Material beschlagnahmt. Im September 1986 wurden sieben Protagonisten der Jazz-Sektion verhaftet.

Prozess gegen die Mitglieder der Jazz-Sektion  (Foto: Jiří Volek,  Unijazz)
„Der Prozess ist nicht dadurch zustande gekommen, dass man gesagt hat, wir wollen jetzt die Jazz-Sektion als solche in ihrer Wirksamkeit beschneiden. Vielmehr hat man einen Vorwurf konstruiert: Man hat gesagt, das sind Steuersünder, die auf unerlaubte Weise Gewinn mit ihren Publikationen machen. Da gab es einen Paragraphen, das war verboten.“

Der Prozess selbst fand 1987 statt. Niemand glaubte die Geschichte, dass dabei nur Steuersünder bestraft wurden. Allen war klar, dass es hier um die Bestrafung einer Organisation ging, die ein alternatives Kulturleben aufbauen wollte. Doch der Prozess endete tatsächlich genau mit dem Urteil, das man erwartet hatte: Einige Mitglieder erhielten Gefängnisstrafen, andere mussten hohe Geldstrafen zahlen.

Foto: Markéta Kachlíková
„Das hat die Jazz-Sektion zunächst mal in ihrer Arbeit beschnitten, sie konnten dann tatsächlich nichts mehr machen. Insofern sieht es so aus, dass das Regime gewonnen hätte. Nach Ende des Prozesses kamen aber alle wieder raus, und Karel Srp hat direkt nach Haftende eine neue Organisation, das Artfórum, gegründet und die Aktivitäten sofort unter einem anderen Namen fortgeführt. Also der Prozess hat die Wirkung und die Idee nicht behindert, sondern nur kurz aufgehalten.“

Die Tatsache, dass die Jazz-Sektion immer so zwischen Legalität und Illegalität geschwankt hat, lässt bis heute eine Frage offen: nämlich die nach der Zusammenarbeit ihrer Mitglieder mit der Staatssicherheit. Darüber gab es in den 1990er Jahren eine große Diskussion. Bis heute streiten sich die Protagonisten darum, wie es wirklich war.

Die Ausstellung ist in der Nationalen Gedenkstätte auf dem Vítkov-Hügel in Prag ist bis 8. Januar zu sehen. Sie ist von Mittwoch bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Im März 2017 kommt die Ausstellung nach Bremen und im Sommer nächsten Jahres nach Bratislava.

„Das zeigt eigentlich, dass auf der einen Seite die Jazz-Sektion zwar ihr Kulturleben hat organisieren können. Aber auf der anderen Seite ist das Klima doch sehr vergiftet worden, und man kann schon sehen, wie dieses Gift des Sich-gegenseitig-Beobachtens auch das Kulturleben sehr geprägt hat. So dass meiner Ansicht nach bis heute dieser Teil der Jazz-Sektion unaufgearbeitet ist.“