Schamane oder Transsexueller? Geheimnisvolles Grab aus der Kupfersteinzeit

Wie sah es auf dem Gebiet von Prag vor etwa 4.000 Jahren aus? Eine Vorstellung davon konnte man sich in diesen Tagen im 6. Prager Stadtbezirk machen: in der Straße Terronská fanden Archäologen im März Überreste einer Siedlung aus dem zweiten und dritten Jahrtausend vor Christus. Zu den wertvollsten Funden gehören vier Gräber, in denen nicht nur die sterblichen Überreste einiger Urbewohner des Prager Kessels erhalten geblieben sind, sondern auch die Grabbeigaben.

Frauengrab in der Straße Terronská
Auf einem leeren Grundstück in der Straße Terronská Nr. 24 und 26 im 6. Prager Stadtbezirk auf dem einmal eine Villa aus den 1920er Jahren stand, soll bald ein Wohnhaus gebaut werden. Vor jedem Neubau müssen jedoch Archäologen das Grundstück untersuchen. Bei den Ausgrabungen in Dejvice erwarteten sie einige Überraschungen. Archäologin Kamila Remišová Věšínová von der Tschechischen Archäologischen Gesellschaft sagt, es seien hier Siedlungen aus zwei Epochen gefunden worden:

„Es geht konkret um die Epoche der Kupfersteinzeit mit der Kultur der Schnurkeramik, also um die Zeit zwischen 2800 bis 2500 v. Chr. Aus dieser Zeit stammen vier Gräber mit Funden, die in Prag nicht häufig auftauchen. Außerdem fanden wir hier Spuren von Siedlungen aus der mittleren Bronzezeit mit der so genannten ´Grabhügelkultur´ des mittleren Donaugebiets. Auf unserem Gebiet geht es um die Zeit um 1500 bis 1250 v. Chr.“

Amphora
In einer solchen Siedlung gab es der Expertin zufolge sowohl Häuser, in denen die Bewohner nur übernachteten, als auch Räume und Gruben, wo Vorräte gelagert wurden. Die Wohnräume waren sehr klein. Es gibt Beweise dafür, dass sich die Mehrheit der Arbeit außerhalb des Hauses abspielte, erzählt die Archäologin. Sie macht auf das erste Grab aufmerksam, das auf dem Gelände gefunden wurde. Es handle sich um ein Frauengrab, das zur Kultur der Schnurkeramik gehört, so Remišová Věšínová.

Kamila Remišová Věšínová
„In dieser Epoche gab es strikte Bestattungsregeln: Frauen wurden auf der linken Seite mit dem Kopf Richtung Osten bestattet und Männer auf der rechten Seite mit dem Kopf Richtung Westen. Wir wissen nicht, was für eine Bedeutung dies hatte, aber es muss etwas bedeutet haben. Dieses Frauengrab entspricht den genannten Regeln. Beim Kopf der Verstorbenen wurde eine Amphora ins Grab gestellt. Außerdem wurden hier ein Kieselstein und eine Halskette aus Kupfer gefunden. Das Grab stammt vom Ende der Kupfersteinzeit, aus einer Übergangsphase zur Bronzezeit. Metall wurde damals noch nicht für die Herstellung von Waffen, sondern vielmehr als Edelmetall für die Herstellung von Schmuck genutzt.“

Ein paar Meter von dem Frauengrab entfernt wartete auf die Archäologen eine Überraschung. Das Grab mit dem Männerskelett halten sie für einen der wertvollsten archäologischen Funde der letzten Zeit.

Grab eines Transsexuellen oder Homosexuellen aus der Kupfersteinzeit?
„Auf den ersten Blick sind die sterblichen Überreste deswegen interessant, weil ein Mann hier wie eine Frau bestattet wurde: Er lag auf linker Seite mit dem Kopf Richtung Osten. Ein Mann wurde gewöhnlich mit Waffen bestattet. Hier wurde aber ein eiförmiger Topf gefunden. In der Kultur der Schnurkeramik war ein solcher Topf eine typische Grabbeigabe für Frauen.“

Die Experten stellen sich die Frage, wie dieser Fund zu deuten ist. Kamila Remišová Věšínová:

„Aus der Ethnologie und Geschichte wissen wir: wenn es in einer Kultur strikte Regeln gibt, werden sie eingehalten. Dies gilt auch für die Bestattungsregeln. Jede Abweichung hat einen Grund. Es gibt einige Theorien. Wir wissen von einigen Gräbern, in denen Männer wie Frauen bestattet wurden und umgekehrt. Diese stammen schon aus der Zeit von etwa 9000 v. Chr. – also aus der Zeit der Mammutjäger. Aus ethnologischen Forschungen bei den sibirischen Völkern geht hervor, dass auch sibirische Schamanen ähnlich bestattet wurden. Es wurde behauptet, dass ein Schamane seine Identität ändern musste, um diesen Beruf ausüben zu können.“

Eiförmiger Topf
Die Schamanengräber waren jedoch immer reich an Grabbeigaben, die die Besonderheit des Verstorbenen beweisen sollten. Der als Frau bestatte Mann hatte aber keine speziellen Grabbeigaben. Die Archäologin nimmt deswegen an, dass es sich um einen Transsexuellen oder Homosexuellen handeln könnte.

„Ich bin persönlich der Meinung, dass es sich um das Grab einer Person des so genannten ´dritten Geschlechts´ handelt. Der Fund ist zweifelsohne sehr wertvoll. Ähnliche Gräber aus verschiedenen Epochen wurden anderswo auch schon gefunden. Dieser Fund ist nicht der einzige, aber er ist auf diesem Gebiet einzigartig. Er würde eine eigenständige Publikation verdienen.“

Die Archäologen fanden auf dem Grundstück auch weitere Gräber mit mehreren Beigaben. In einem Männergrab fanden sie neben einigen Behältern auch Waffen, darunter die so genannte „bulava“, die für die Kultur der Schnurkeramik typisch war.

Waffe in einem Männergrab
„Die Bezeichnung ´bulava´ dachten sich die Archäologen im 19. Jahrhundert aus. Niemand weiß, wozu das diente. Es wird vermutet, dass es entweder eine Waffe oder ein symbolischer Gegenstand war. Diese ´bulava´ ist aber sehr klein. Man findet sie nur bei der Kultur der Schnurkeramik. Im Grab wurde auch ein Kieselsteinmesser gefunden. Der Griff, der aus Holz war, ist nicht erhalten geblieben.“

Neben den Gräbern wurden in der Terronská eine Erdhütte aus der Bronzezeit sowie viele Vorratsgruben gefunden. Sie waren bis zu eineinhalb Meter breit und tief, sagte der Archäologe Radek Balý:

Grube aus der Bronzezeit für Lagerung von Lebensmitteln
„Sie dienten zur Lagerung von Lebensmitteln. Oft wurden die Wände der Grube zuerst ausgebrannt. Damit wurde der Speicher desinfiziert. Das Getreide wurde hinein gepfercht, die ganze Grube wurde mit Ton und Stroh überdeckt. Es entstand ein luftdichter Raum, und das Getreide blieb die ganze Saison in einem guten Zustand.“

Sobald die erste Etappe der archäologischen Forschungen beendet ist, werden die Experten mit den Forschungen der Altsteinzeit – des Paläolithikums beginnen. „Kann sein, dass wir ein Mammut finden“, meint die Archäologin Kateřina Semrádová.

Terronská Str.  (gelbe Linie) mit der Umgebung. Im Norden fließt die Moldau.
„Vor etwa 250.000 Jahren floss die Moldau noch gerade – durch das Gebiet, wo sich heute die Prager Burg befindet und auch durch das heutige Dejvice und Bubeneč. Die Moldau zog damals Jäger und Sammler an. Wir hoffen, dass es uns gelingen wird, hier Spuren von ihnen zu finden. Es könnten Spuren der Neandertaler sein.“

Nach der Dokumentation und Auswertung der Ausgrabungen werden die gefundenen Gegenstände dem Prager Stadtmuseum übergeben. Die Archäologen überlegen auch, eine Ausstellung über die Funde im 6. Prager Stadtbezirk einzurichten.