Hagibor: ein Ort mit lehrreicher Geschichte

Altersheim, Sportareal, Konzentrationslager für Juden, später für Tschechen und noch später für Deutsche, ein Krankenhaus und schließlich ein Seniorenheim. So kann man die Geschichte des Ortes kurz zusammenfassen, die die Prager unter dem Namen „Hagibor“ kennen. Vor einigen Tagen hat die Prager Jüdische Gemeinde auf dem Hagibor-Areal ein Seniorenheim eröffnet, das vor allem für Holocaust-Überlebende aus den jüdischen Gemeinden aus ganz Tschechien bestimmt ist.

Hagibor
„Heute gehen wir auf den Hagibor“ – das habe ich in meiner Kindheit manchmal am Sonntag von meinen Eltern gehört. Dies bedeutete, dass wir zuerst einen Spaziergang an dem Olsany-Friedhof und dann an dem jüdischen Friedhof vorbei machten, um schließlich auf einen Spielplatz unweit des Friedhofs zu gelangen. Der Spielplatz unterschied sich nicht von anderen Spielplätzen, die ich aus der Umgebung kannte. Aber das Wort Hagibor allein hat mich schon fasziniert, denn es klang so wunderbar. Ich erinnere mich, dass ich einmal die Mutter nach dem Wort gefragt habe, und sie hat damals gesagt, das sei früher einmal ein jüdischer Sportklub gewesen. Mehr habe ich damals nicht erfahren. Viel später habe ich festgestellt, dass der kleine Spielplatz, den wir Hagibor nannten, mit dem wirklichen Hagibor nicht viel gemeinsam hatte – er befand sich nur in unmittelbarer Nähe des früheren Hagibor-Sportplatzes.

Den Namen Hagibor trägt seit dieser Woche ein neues Heim für Sozialpflege. Die Prager jüdische Gemeinde hat es am vergangenen Dienstag feierlich eröffnet und darin die ersten Bewohner begrüßt. Im Verwaltungsgebäude wurde bei dieser Gelegenheit eine Ausstellung über die Geschichte von Hagibor installiert. Martin Šmok hat die Dokumentarausstellung vorbereitet:

„Die jüdische Geschichte dieses Ortes begann Ende des 19. Jahrhunderts. Damals entschied sich die jüdische Gemeinde, eine neue Sozialeinrichtung für ihre Mitglieder zu gründen. Es wurden Grundstücke in der Nähe des damaligen Neuen jüdischen Friedhofs gekauft. Ursprünglich sollten dort ein so genanntes ´chorobinec´ - also eine Anstalt für Kranke und Behinderte – und ein jüdisches Krankenhaus erbaut werden.“

Heim für Sozialpflege in Hagibor  (Foto: Autorin)
Im 20. Jahrhundert wurde das Heim für Kranke und Behinderte errichtet, das sich später in ein Altersheim verwandelte. Das geplante Krankenhaus wurde nie erbaut. Auf dem Grundstück, dass für das Krankenhaus bestimmt war, wurde nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik ein für die damalige Zeit höchst modernes Sportareal des jüdischen Sportvereins Hagibor erbaut. Hagibor bedeutet im Hebräischen groß, mächtig oder heldenhaft. Am Anfang des zweiten Weltkriegs diente Hagibor als eine Schule und letzte Oase für jüdische Kinder. Es war einer der wenigen Orte, wo sich die jüdische Jugend treffen konnte. Der Großteil der Veranstaltungen in Hagibor endete jedoch im Herbst 1941. Damals begannen die Massendeportationen von Juden. Das Stadion einschließlich eines Spielplatzes für Kinder gab es bis 1944, dann wurde auf dem Gelände des Sportareals ein Konzentrationslager eingerichtet, sagt Martin Šmok:

„In dieses Lager wurden vor allem die so genannten Mischlinge oder Leute aus Mischehen gebracht. Frauen arbeiteten dort in einer Glimmerfabrik. Später wurden sie nach Theresienstadt transportiert. Das Lager war danach bis zum Kriegsende für Männer bestimmt, die zwar keine Juden waren, die es aber abgelehnt haben, sich von ihrer jüdischen Frau scheiden zu lassen. Die im Konzentrationslager eingerichtete Glimmerfabrik war eine interessante Art der Kriegsproduktion: Es wurden dort Glimmer verarbeitet. Glimmer wurde für die Täuschung der damaligen britischen Radaranlagen benutzt. Deutsche Bombenflugzeuge schütteten Glimmer in die Wolken, diese spiegelten sich weder und machten den Eindruck, dass sich die Flugzeuge anderswo bewegten, als es in der Wirklichkeit der Fall war. Es kann sein, dass der Spaltglimmer auch zu anderen Zwecken gebraucht wurde. Glimmer kennen die Leute beispielsweise von den amerikanischen Öfen.“

Die Geschichte des Konzentrationslagers, so der Kurator, sei sehr lehrreich: zum einen darin, dass die Gefangenen Menschen waren, die mit dem Judentum nur das gemeinsam hatten, dass sie eine Frau geheiratet hatten, die von den Nürnberger Gesetzen als Jüdin bezeichnet wurde. Noch beachtenswerter sei aber, dass das Lager auch nach Kriegsende weiterhin benutzt wurde:

Dokumentarausstellung  (Foto: Autorin)
„Es wurde als Internierungslager für Deutsche benutzt, wobei wieder auf eine besondere Art und Weise bestimmt wurde, wer ein Deutscher war und wer nicht. Im Lager landeten viele Leute, die gar keine Deutschen waren. Für eine bestimmte Zeit lang hat der russische NKWD das Lager beschlagnahmt. Man weiß heute nicht, was sich zu der Zeit dort abgespielt hat. Man kann annehmen, dass der NKWD hier Leute interniert hat, die für ihn als Verräter galten. Der NKWD hat damals in der Tschechoslowakei Leute gejagt, die sich erlaubt hatten, vor den Bolschewiken zu flüchten. Wir wissen aber nicht genau, was im Lager da passiert ist. Plötzlich haben sie das Lager beschlagnahmt, und genauso plötzlich sind sie auch wieder verschwunden. Das war noch im Jahre 1945.“

Das renovierte Verwaltungsgebäude ist jedoch nur ein kleiner Teil des ursprünglichen Areals von Hagibor. Dieses Gebäude wurde erst nach der Wende von 1989 an die Prager jüdische Gemeinde zurückgegeben. Zum Areal gehörten jedoch einst auch die Grundstücke, auf denen heute der neue Sitz des Senders Radio Free Europe erbaut wird und auf denen das Hotel Don Giovanni steht, erzählt Martin Smok und weist auf die Dokumente aus dem historischen Sportstadion.

Dokumentarausstellung  (Foto: Autorin)
„Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte des Ortes für die Bewohner von Prag sehr belehrend ist, denn sie zeigt, wohin Vorurteile führen. Die Geschichte zeigt zudem die sehr enge Verbindung des tschechischen und des jüdischen Elements in den Böhmischen Ländern. Die Fotos, die hier zu sehen sind, sind nur ein kleiner Teil dessen, was ich für die Ausstellung zusammengetragen habe. Sie stammen sowohl von Privatpersonen als auch von verschiedenen Organisationen, die den Holocaust dokumentieren. Es gibt hier viele Fotos aus dem Archiv des Prager Jüdischen Museums und auch einige Dokumente aus dem Archiv von Yad Vashem in Jerusalem, wobei nicht ganz klar ist, wie sie dort gelandet sind, da sie aus dem Archiv der Prager jüdischen Gemeinde stammen. Dazu gehört beispielsweise die Beschreibung des Aufbaus des Konzentrationslagers in Hagibor. Es war aber ziemlich mühsam, diese Materialien zusammenzutragen.“

Dokumentarausstellung  (Foto: Autorin)
In der Ausstellung findet man auch einen Brief von dem tschechischen Pädagogen Přemysl Pitter, der zahlreiche jüdische Kinder und nach dem Krieg auch viele verlassene deutsche Kinder gerettet hatte. Martin Šmok:

„Nach dem Kriegsende entstand hier ein Internierungslager für Deutsche, das vorübergehend umziehen musste, als Hagibor vom NKWD beschlagnahmt wurde. Es wurden hier vor allem Frauen, Kinder und alte kranke Menschen interniert. Es sieht so aus, dass die Bedingungen, unter denen die internierten Deutschen hier gelebt haben, mit den Bedingungen in jedem anderen Konzentrationslager identisch waren. Dabei stand dieses Konzentrationslager nach dem Krieg in der demokratischen Tschechoslowakei! Premysl Pitter war ein engagierter Mensch, der gegen Vorurteile und Rassismus kämpfte. Er hat sich bemüht, gegen den unmenschlichen Umgang mit den internierten Deutschen zu protestieren. Pitter hat sich aber nicht nur im Falle von Hagibor eingemischt. Sein Engagement brachte ihm große Probleme, er wurde unter anderem als Kollaborateur beschimpft. Auch darin ist die Geschichte von Hagibor sehr lehrreich.“

Martin Šmok fügte hinzu, er denke darüber nach, wie man die Geschichte von Hagibor im Bildungswesen benutzen könnte. Derzeit trägt er sich mit dem Gedanken, eine Sammlung von Materialen herauszugeben, die Lehrern zur Verfügung stehen könnte. Bestandteil könnten auch Videoaufnahmen sein, auf denen die Zeitzeugen, die noch das alte Hagibor kannten oder die Lager durchleiden mussten, ihre Erlebnisse schildern.

Hana Faixová-Krausová kannte Hagibor aus ihrer Kindheit als einen Ort, wo sie mit ihren Freundinnen zusammenkommen konnte. In dieser Woche kehrte Frau Faixová nach Hagibor zurück, sie ist eine der ersten Bewohnerin des neuen Seniorenheims. Frau Faixová findet für ihr neues Zuhause nur lobende Worte:

Hagibor
„Ich danke allen, die mir ermöglicht haben, hier zu wohnen – nach all dem Schlimmen, was ich durchmachen musste. Ich bin sehr dankbar, ich habe ein eigenes Zimmer bekommen, es ist hier herrlich. Alle, die sich um uns kümmern, sind so fabelhaft. Es ist hier wie im Paradies. Zudem habe ich eine schöne Aussicht direkt in den Garten."

Neben dem historischen Gebäude wurde in Hagibor eine neue Pension mit 46 Wohnungen für 60 Menschen erbaut. Im Verwaltungsgebäude gibt es zudem eine Tagesstätte sowie einen Saal, in dem Konzerte veranstaltet werden. Im Turm des Hauptgebäudes soll ein Klubraum der Union der jüdischen Jugend entstehen. Die neue Geschichte von Hagibor hat soeben begonnen.