Vom Gedenken und der richtigen Staatsräson: Streit um das Grenzregime der Tschechoslowakei

Foto: ČT24

Im vergangen Monat hat ein Strafbefehl in Tschechien für Schlagzeilen gesorgt. Es ging um den von deutscher Seite aus angestrebten Prozess gegen hochrangige kommunistische Funktionäre. Gegenstand des Prozesses sollten dabei jene DDR-Bürger sein, die bei dem Versuch über die Tschechoslowakei in die BRD zu flüchten, getötet wurden. In Tschechien ist aber noch in anderer Hinsicht eine Diskussion um den damaligen Grenzschutz entbrannt. Auslöser dafür war ein Denkmal, das im Juli kurzzeitig an der deutsch-tschechischen Grenze stand.

Dyleň  (Foto: Walter J. Pilsak,  CC BY-SA 3.0)
Die Grenze Tschechiens ist rein geographisch in mehrere Richtungen klar abgesteckt. Dafür sorgen der Böhmerwald, das Erz- oder das Riesengebirge. Ein Sinnbild dafür kann auch der Dyleň / Tillenberg sein, ein Höhenzug, der sich südlich von Cheb / Eger befindet. Ihn ziert zudem ein ehemaliger Aussichtsturm der tschechoslowakischen Grenzsoldaten. Obwohl dieser in Zeiten des Schengen-Abkommens nur noch dem Tschechischen Rundfunk dient, sind ihm die hohen und mit Stacheldraht gekrönten Betonmauern geblieben.

Gerade am Dyleň ist aber ein Streit entbrannt um die Geschichtsauffassung und Mythenbildung im heutigen Tschechien. Genau hier tauchte im Juli eine Statue auf, die nicht jeden mit Stolz erfüllt. Es handelt sich um ein überlebensgroßes Bildnis eines Grenzsoldaten samt Maschinengewehr und Hund. Stanislav Kvasnička vom Klub der ehemaligen Grenzsoldaten erklärte dazu in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks, warum genau hier der richtige Platz für die Statue mit dem Namen „Auf Friedenswacht“ ist:

Statue mit dem Namen „Auf Friedenswacht“  (Foto: ČT24)
„Meiner Meinung nach gehört das Denkmal dorthin, da es an unsere Geschichte erinnert, auch wenn diese relativ schwierig war. Davor hatte es ja einen vollkommen schäbigen Platz, der überwuchert war von Brennnesseln. Wir vom Klub der ehemaligen Grenzsoldaten waren der Meinung, dass die Statue endlich einen würdigen Platz bekommen sollte.“

Tatsächlich ist der Grenzwächter mit Hund kein neues Denkmal. Geschaffen wurde es von dem Künstler Jan Hána. Es ersetzte im Jahr 1955 ein Denkmal in den Schlossgärten in Cheb für die amerikanischen Soldaten, die an der Befreiung Böhmens in dieser Region beteiligt waren. Seit der Wende von 1989 wurde es in den Garten des Franziskanerklosters in Cheb verfrachtet. Neben Statuen von Lenin und Klement Gottwald stand es damit in der Mottenkiste des Archivs der Stadt. Im Juli dieses Jahres stellte es der ehemalige Offizier der tschechoslowakischen Armee Antonín Hofmann mit Unterstützung des Klubs der ehemaligen Grenzer auf dem Dyleň auf. Hofmann gehört das Gelände und er will als Museum des Eisernen Vorhangs ausweisen.

Prokop Tomek  (Foto: Archiv des Regierungsamtes der Tschechischen Republik)
Dies kann zum Beispiel Prokop Tomek nicht verstehen. Er ist Historiker vom militärhistorischen Institut in Prag. Ihn stört vor allem die Art und Weise, wie hier mit der Vergangenheit umgegangen werden soll:

„Meiner Meinung nach sollte das Denkmal in einem Museum stehen. Auf jeden Fall sollte die Statue aber nicht so präsentiert werden, als ob sie das Erbe einer positiven Vergangenheit wäre. Das sollte wirklich nicht so sein.“

Das, was nun auf dem Dyleň entstehen soll, ist laut Tomek alles andere als ein Museum. Vielmehr sei es bloß eine Touristenattraktion, da bei weitem keine musealen Standards erfüllt würden, so der Historiker.

Rund 400 Personen haben noch Ende Juli mit einer Petition bewirkt, dass Antonín Hoffmann einlenkte. Der Grenzsoldat kehrte samt Hund in den Klostergarten in Cheb zurück. Doch eine Diskussion ist durch die Angelegenheit geblieben: Wie soll das Erbe des Grenzregimes der kommunistischen Tschechoslowakei denn nun aufgefasst werden?

Grenztote als historische Notwendigkeit?

„Die freie sozialistische und demokratische Welt vor den Feinden aus dem kapitalistischen Westen beschützen“ – das war die Doktrin der Grenzeinheiten der kommunistischen Tschechoslowakei. So geht es auch in einem Propagandavideo aus den frühen 1950er Jahren hervor. Das Ergebnis waren mehr als 300 Tote und weit über 1000 Verletzte, wie zahlreiche Studien zu dem Thema ergaben. Doch nur ein Bruchteil der Opfer war tatsächlich ein Spion oder westlicher Terrorist. Die geheimdienstliche Aktivität hatte besonders nach 1948 ihren Höhepunkt.

An der Grenze vor allem getroffen wurden zunächst Deutschböhmen, die ihr Eigentum zurückholen wollten und später Menschen, die vor den Zuständen im Kommunismus in den Westen flüchteten. Ein großer Teil davon waren Bürger der DDR oder der Volksrepublik Polen, die sich der Gefahr an der tschechoslowakisch-westdeutschen Grenze nicht bewusst waren. Dazu der Historiker Prokop Tomek:

Stanislav Kvasnička  (Foto: Archiv von Stanislav Kvasnička)
„Wer in der Zeit nach der endgültigen Befestigung die Grenze übertreten wollte, war entweder ein geborener Glücksspieler oder ein sehr leichtsinniger Mensch. Es gab aber auch einige Dutzend Menschen aus Ostdeutschland oder Polen, die über die Zustände an der Grenze nicht informiert waren. Eine große Mehrheit der tschechoslowakischen Bürger aber wusste ganz genau – und das können zahlreiche Zeitzeugen bestätigen – dass man die Grenze einfach meidet. Dort konnte man leicht getötet werden.“

Nach Meinung von Stanislav Kvasnička vom Klub der ehemaligen Grenzsoldaten werde die ganze Debatte darüber heute aufgebauscht:

„Seit nunmehr 25 Jahren wird eine gezielte Kampagne gegen die damaligen Grenztruppen geführt. Diese werden schon fast als verbrecherische Organisation beschrieben. Und ihre Arbeit als gefühlloses Schießen und Morden verunglimpft. Die Reaktion mancher Bevölkerungsschichten auf die ehemaligen Grenztruppen ist schlichtweg unangemessen.“

Foto: Post Bellum
Die Sicherung der Grenze auf die gegebene Art und Weise sei damals eine historische Notwendigkeit gewesen, so Kvasnička, der noch bis in den späten 1980er Jahren bei den Grenzsoldaten diente. Die Tätigkeit der Grenztruppen hätte sich ja auch jeweils an die politische Situation angepasst. Zudem sind laut Kvasnička gerade durch die Befestigung der Grenze viele Todesopfer verhindert worden.

Grenzregime als Zeichen einer fragwürdigen Staatsräson?

Stanislav Kvasničkas Standpunkt spiegelt klar den Standpunkt des in Tschechien stark umstrittenen Klubs der ehemaligen Grenzsoldaten wider. Der Klub wurde 1992 insbesondere als Reaktion auf die „Politik der ausgestreckten Hand“ des damaligen Präsidenten Václav Havel gegenüber Deutschland und den Sudetendeutschen gegründet. Dementsprechend vermengt ist in der Ideologie des Klubs auch die fast unreflektierte Grenzer-Nostalgie mit einer kritischen Haltung gegenüber der Politik in Tschechien nach der Wende. Stanislav Kvasnička:

„Ich sehe nichts, wofür ich mich rechtfertigen sollte. Die Grundlage jedes Staates ist die Existenz einer Staatsgrenze. Die Art und Weise, wie diese Grenze geschützt wird, unterliegt äußeren und inneren politischen Faktoren. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die tschechische Grenze seit 1992 nicht mehr geschützt wird. Und da erlaube ich mir die Frage: Sind wir hier überhaupt noch ein Staat?“

Laut Prokop Tomek sei dies ein Versuch der Verschleierung historischer Fakten zur Rechtfertigung des fragwürdigen Handelns der damaligen Grenztruppen. Denn genauso ist auch die Staatsräson der damaligen Tschechoslowakei anzuzweifeln:

Milouš Jakeš  (Foto: David Sedlecký,  CC BY-SA 3.0)
„Im Grunde genommen war das gesamte System der tschechoslowakischen Grenze nach innen gerichtet. Der Grundgedanke war, die eigenen Bürger mit Gewalt von einer Flucht ins Ausland abzuhalten. Meiner Meinung nach ist ein Staat, der sich genötigt sieht, auf diese Weise seine Bürger zu Hause festzuhalten, ein sehr schwacher Staat.“

Mit der Anklage aus Deutschland gegen ehemalige hohe kommunistische Funktionäre bekommt die Debatte nun aber auch eine internationale Dimension. Die Anzeige richtet sich gegen 67 mögliche Verantwortliche in der gesamten Befehlskette bis hinauf zum ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Milouš Jakeš, und zu Ex-Ministerpräsident Lubomír Štrougal.