Suche nach gemeinsamer Vergangenheit – tschechisch-österreichisches Geschichtsbuch

Foto: ČT24

Vergangene Woche trafen sich 14 Historiker und Historikerinnen aus Tschechien und Österreich, um das Projekt eines gemeinsamen Geschichtsbuchs zu besprechen. Die Idee gibt es schon seit einigen Jahren. Jetzt endlich scheint sich das Vorhaben zu konkretisieren. Das Buch, in dem die gemeinsame Geschichte aus zwei Perspektiven beleuchtet wird, soll in drei Jahren erscheinen.

Niklas Perzi  (Foto: Gerald Schubert)
„Projekt einer gemeinsamen tschechisch-österreichischen Geschichte“ – so nennt es sich offiziell. Es geht darum, im binationalen Dialog die stets einseitige nationale Perspektive in der Geschichtsschreibung zu überwinden. Der Historiker Niklas Perzi ist als einer der beiden Projektkoordinatoren maßgeblich an dem Projekt beteiligt:

„Die Idee ist nicht von mir, sondern aus dem österreichisch-tschechischen Dialogforum entstanden. Das ist eine österreichisch-tschechische Bürgerinitiative gewesen, die sich 2002 im Rahmen der Diskussionen zwischen den beiden Ländern gebildet hat. Und dort kam die Idee auf, dass ein gemeinsames Geschichtebuch helfen könnte, die Probleme der Gegenwart zu überwinden - Stichwort Temelín und Beneš-Dekrete. Das hat sich elf Jahre in die Länge gezogen. Die österreichisch-tschechische Historikerkommission hat diese Idee dann aufgegriffen. Jetzt wurde auch von den Fördergebern finanzielle Unterstützung zugesagt, und damit kann das Projekt in diesem Jahr starten.“

Im Jahr 2009 wurde von den damaligen Außenministern die sogenannte „Ständige Konferenz tschechisch-österreichischer Historiker“ ins Leben gerufen. Ziel war es, zunächst einen Dialog zwischen den Historikern beider Länder zu initiieren. Vor drei Jahren wurde dann das Projekt eines gemeinsamen Geschichtebuches erklärtes Ziel der Historikerkonferenz. Finanzielle und politische Unterstützer dieses Projekt sind neben den Außen- und Bildungsministerien der beiden Länder auch die Kreise Südböhmen, Südmähren und Vysočina auf tschechischer und die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Oberösterreich auf österreichischer Seite. Die politische Relevanz des Projektes erklärt der österreichische Botschafter in Prag, Ferdinand Trauttmansdorff, der sich stark für die Verwirklichung des Vorhabens einsetzt:

Ferdinand Trauttmansdorff  (Foto: Kristýna Maková)
„Vorausgegangen war die Idee, dass zwischen Deutschland und Tschechien viel im Bereich der Aufarbeitung passiert ist. Das war aufgrund der Tatsachen möglich, dass hier gewisse Institutionen wie zum Beispiel der Zukunftsfonds und verschiedene Kulturinstitutionen tätig sind und dass es zwischen der deutschen und der tschechischen Seite noch notwendiger war, sich mit der jüngeren Vergangenheit, insbesondere mit der Vertriebenenfrage, auseinanderzusetzen, denn die meisten Vertriebenen sind ja in Deutschland. In Österreich waren weder der politische Druck noch sonstige Mittel vorhanden, und daher ist in der Aufarbeitung der Geschichte in einem spezifisch tschechisch-österreichischen Kontext, mit Ausnahme von Aktivitäten im Kulturbereich, noch wenig passiert. Dadurch besteht aber auch das Problem, dass gewisse Stereotypen, die auch zum Teil in der eigenen Geschichtsbetrachtung gepflegt worden sind, das gegenseitige Bild der gemeinsamen Geschichte beherrschen und missbraucht werden können – Stichwort Beneš-Dekrete.“

Beneš-Dekrete  (Foto: ČT24)
Stichwort Beneš-Dekrete also. Geht es in dem Projekt also in erster Linie um die Aufarbeitung der Streitfragen und Problemthemen, zu denen ein neuer, gemeinsamer Zugang gefunden werden soll? Ferdinand Trauttmansdorff:

„Es gibt verschiedene Erwartungen an das Geschichtsbuch, die wir zu erfüllen versuchen. Unter anderem sollen die neuralgischen Themen der gemeinsamen Geschichte wissenschaftlich aufgearbeitet und in einen historischen Kontext gesetzt werden, dazu besteht auch eine Themenliste.“

Quelle: Free Domain
Für den Historiker Perzi stehen die „neuralgischen“ Themen allerdings nicht im Mittelpunkt:

„Es ist eigentlich ein allgemeines Werk. Wir versuchen, gemeinsame, eigentlich europäische oder manchmal auch globale Phänomene zu betrachten, wie zum Beispiel im 19. Jahrhundert die Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung. Dabei wollen wir analysieren, wie sich diese Phänomene auf die Gesellschaften in den zwei Ländern ausgewirkt haben. Das heißt, es ist nicht auf strittige Punkte aus der Vergangenheit beschränkt.“

Zu jedem Thema sollen zwei Historiker gemeinsam einen Text verfassen, der sowohl die tschechische als auch die österreichische Seite berücksichtigt. Der österreichische Botschafter erklärt, warum:

„Grundsätzlich soll dadurch sichergestellt werden, dass aus zwei Perspektiven an die Sache herangegangen wird. Wie sich das dann im Detail gestaltet, ist eine Frage der einzelnen Themen. Man kann das nicht so generell sagen. Bei vielen Themen gibt es viele Gemeinsamkeiten, und bei anderen Themen bestehen verschiedene Ansichten. Das ist eine Herausforderung, der sich die Historiker zu stellen haben. Wobei es durchaus sein kann, dass einmal zwei verschiedene Haltungen gegenübergestellt werden – was ja didaktisch auch sehr interessant ist. Und dann gibt es zwei Aspekte. Das eine ist eine tatsachenorientierte Geschichte, das andere ist die Auseinandersetzung mit Historiographie und mit gewissen Bildern, die in der jeweiligen Historiographie verfestigt worden sind, die aber unter modernen Gesichtspunkten von beiden Seiten hinterfragt werden sollten.“

Foto: ČT24
Wichtig dabei ist allerdings, dass es keine bloße Gegenüberstellung der verschiedenen nationalen Perspektiven werden soll. Vielmehr will man über die länderspezifischen Perspektiven hinausgehen, sie überwinden, und einen neuen, gemeinsamen Zugang zur Geschichte finden. Niklas Perzi erzählt von den Debatten auf der Konferenz Ende vergangner Woche:

„Es gab Diskussionen über die Struktur des Buches. Soll es jetzt nur eine Aneinanderstoppelung von zwei Nationalgeschichten sein? Das kann es aber ja nicht sein. Soll es eher chronologisch aufgebaut sein? Oder soll es diese Struktur haben, die ich vorher geschildert habe, dass man sich anschaut, wie sich gemeinsame Entwicklungen unterschiedlich widergespiegelt haben. Und für Letzteres haben wir uns dann konsensual entschieden.“

In dem Versuch, die nationale Geschichtsschreibung zu überwinden, müssen die Zweierteams also auch nicht unbedingt immer aus einem Österreicher und einem Tschechen bestehen. Denn:

„Die Fronten gehen auch quer über die ethnische Zugehörigkeit, sie machen sich nicht notwendigerweise am Reisepass fest. Als es noch nationale Geschichtsschreiber gegeben hat, war das natürlich lange Zeit so. Sehr stark ausgeprägt war das in der tschechischen Historiographie. Es ist kein Geheimnis, dass sie lange Zeit sehr stark ethnozentriert war“, so der Historiker Perzi.

Foto: Kristýna Maková
Das Buch soll in den nächsten drei Jahren entstehen, eine erste Vorveröffentlichung ist schon Ende 2015 geplant. Zu diesem Zeitpunkt soll das Manuskript der Öffentlichkeit vorgelegt werden, um Meinungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen einzuholen und der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen. Am Ende der dreijährigen Laufzeit des Projektes soll dann einerseits ein gut lesbares Geschichtsbuch im Umfang von etwa 500 Seiten erscheinen, das sich nicht nur an Historiker richtet sondern an weitere interessierte Personen. Dem soll auch pädagogisches Begleitmaterial beigefügt werden; um die Verwendung des Buches im Schulunterricht zu ermöglichen. Andererseits soll eine kleine Broschüre herausgegeben werden, in der die wichtigsten Themen kurz zusammengefasst sind und die ein breites Publikum erreichen soll.

Einige bilaterale oder internationale Geschichtsbücher gibt es bereits. So sind zum Beispiel in den Jahren 2006 bis 2010 die drei Bände des deutsch-französischen Geschichtsbuches erschienen. Auch ein deutsch-tschechisches Buch ist derzeit in Planung. Das österreichisch-tschechische Vorhaben unterscheidet sich jedoch von anderen ähnlichen Projekten. Historiker Perzi:

„Natürlich, Inspirationen kann man von überall herholen. Aber bei uns ist der Unterschied, dass es kein Schulbuch ist. Und dass die interessierte Öffentlichkeit schon während des Entstehungsprozesses Gelegenheit hat, daran interaktiv teilzunehmen. Dass nicht nur nachher darüber gesprochen wird, sondern die Öffentlichkeit eben schon während des Prozesses, nach der ersten Phase, einbezogen wird. Ich glaube, das sind die zwei wesentlichen Unterschiede zu den vorangegangenen oder parallel verlaufenden Projekten.“