Problemzone Wenzelsplatz: Prager Stadtautobahn soll im Boden versinken

Daran, was eine Bausünde ist, und was gelungene Architektur, daran scheiden sich oft die Geister. Doch dass die so genannte Nord-Süd-Magistrale ein urbanistisches Meisterwerk darstellt, das behauptet heute eigentlich niemand. In den fünfziger Jahren geplant und in den Siebzigern eröffnet, sollte die Prager Stadtautobahn die neuen Plattenbausiedlungen an der Peripherie mit dem Zentrum der Hauptstadt verbinden. Auf gewachsene Strukturen wurde dabei kaum Rücksicht genommen. Vor allem im Bereich der Innenstadt schlug die Magistrale hässliche Narben in das Gesicht der Stadt. Regierung und Stadtverwaltung planen nun eine kosmetische Großoperation.

Prager Ampeln zeigen Fußgängern ohnehin meist nur recht kurz grünes Licht, dann heißt es wieder: freie Fahrt für die Autos. Am oberen Ende des Wenzelsplatzes sind die Wartezeiten für Verkehrsteilnehmer auf zwei Beinen und für die auf vier Rädern aber besonders unterschiedlich. Schließlich muss hier eine unendliche Blechlawine vorbeigeschleust werden. Bis zu 100.000 Autos fahren täglich über die Stadtautobahn, das sind über 4.000 pro Stunde. Mit anderen Worten: Im Schnitt braust hier jede Sekunde mindestens ein Auto vorbei.

Das Nationalmuseum
Nicht nur für die unmittelbaren Anwohner ist der Verkehr auf der so genannten Nord-Süd-Magistrale eine starke Belastung, sondern auch für die Stadt Prag als solche. Schließlich befinden wir uns ja nicht irgendwo an der Peripherie, sondern an einem neuralgischen Punkt des urbanen Lebens. Der Wenzelsplatz, eher ein breiter, ansteigender Boulevard, schließt oben mit dem Nationalmuseum ab und markiert hier sozusagen die Grenze der Prager Innenstadt. Der Schönheitsfehler: Das Museum gehört zu dem architektonischen Ensemble eigentlich gar nicht wirklich dazu – es ist von einer dreispurigen Richtungsfahrbahn vom Rest des Wenzelsplatzes abgeschnitten. In die andere Richtung fließt der Verkehr gleich hinter dem Museum, so dass der Tempel des tschechischen Kulturerbes eigentlich auf einer Insel mitten in der Autobahn steht.

Im Museum drinnen wurde vergangene Woche ein Memorandum unterschrieben: Premierminister Mirek Topolánek, der Prager Oberbürgermeister Pavel Bém, Verkehrsminister Aleš Řebíček und Kulturminister Václav Jehlička bekundeten gemeinsam ihren Willen, diesen urbanen Schandfleck zu beseitigen.


Es ist 10 Uhr Vormittag, die Atmosphäre ist feierlich, das Orchester der Prager Karlsuniversität gibt den musikalischen Auftakt. Eigentlich wird hier lediglich ein Bauvorhaben verkündet, doch der Hausherr, Museumsdirektor Michal Lukes, glaubt an die historische Bedeutung der Stunde:

„Ich bin ein eher sachlicher Mensch und mag keine leeren Phrasen. Aber in diesem Fall erlaube ich mir zu behaupten, dass soeben das bedeutendste tschechische Kulturprojekt dieses Jahrhunderts eröffnet wurde.“

Was ist konkret geplant? Die Stadtautobahn soll künftig nicht mehr zu beiden Seiten des Nationalmuseums verlaufen, sondern hinter dem Gebäude in einen Tunnel verlegt werden. Das Museum würde dann wieder ein integraler Bestandteil des Wenzelsplatzes sein.

Premierminister Mirek Topolánek erinnert in seiner Ansprache daran, dass ein kommunistischer Regierungschef vor 30 Jahren stolz war auf die feierliche Eröffnung der Autobahn. Ebenso stolz sei heute er, wenn er den Plan zu ihrer Beseitigung verkünde:

Premier Mirek Topolánek  (Foto: Autor)
„Eine Autobahn quer über diesen natürlich gewachsenen, berühmten Prager Boulevard zu führen und ihn dadurch vom Nationalmuseum abzuschneiden, das war ein urbanistisches Verbrechen. Ein Verbrechen, das wir nun wieder gut machen müssen. Das Museum gehört zum Wenzelsplatz einfach dazu.“

Im Zuge der Umgestaltung des Platzes tut sich für das Museum gleich eine weitere Zukunftsperspektive auf. Zu seiner Linken nämlich befindet sich das Gebäude des ehemaligen Föderalen Parlaments der Tschechoslowakei, das derzeit vom US-Sender Radio Freies Europa genutzt wird. Der Sender soll schon nächstes Jahr in einen Außenbezirk umziehen, danach wird auch dieses Haus dem Museum zur Verfügung stehen. Beide Gebäude können dann miteinander verbunden werden, an dem heute noch von Straßen zerklüfteten Kreuzungsbereich soll eine in sich geschlossene Museumsoase entstehen.

Die Zukunft des Wenzelsplatzes  (Foto: Autor)
Doch auch die Verkehrsplaner werden ein Wörtchen mitzureden haben. Insgesamt sechs Fahrspuren hat die Magistrale hier heute, im künftigen Tunnel sollen es nur noch vier sein. Bevor man also überhaupt mit dem Bau rund ums Museum beginnen kann, müssen die Entlastungsstrecken an der Prager Peripherie fertig gestellt werden, sagt Verkehrsminister Aleš Řebíček:

„Das größte logistische Problem wird darin bestehen, die Ausweichrouten entsprechend vorzubereiten. Die Bauarbeiten hier beim Museum werden im Vergleich dazu viel weniger Zeit in Anspruch nehmen.“

Prager Oberbürgermeister Pavel Bém  (Foto: Autor)
Auch Stoff für Konflikte gibt es, etwa was die Länge des Autobahntunnels hinter dem Museum betrifft. Die Verwaltung des Zweiten Prager Stadtbezirks, der genau hier beginnt, hat bereits Bedenken gegen einen zu kurzen Tunnel angemeldet. Grund: An den Einfahrten zu beiden Seiten könnte sich der Verkehr stauen, die Magistrale würde die Anrainer dann möglicherweise sogar noch stärker belasten als bisher. Ein längerer Tunnel aber würde nicht nur viel mehr Geld kosten, sondern dasselbe Problem lediglich weiter nach außen verlagern.

Es gibt heute eben mehr Autos als in den Sechzigern. Jiří Michal, Journalist bei einer Prager Wirtschaftszeitung, kann sich noch gut daran erinnern, wie es damals hier ausgesehen hat. Er hat bereits vor dem Autobahnbau ganz in der Nähe gewohnt:

„In meiner Kindheit sind wir immer mit der Straßenbahnlinie 6 hier entlang gefahren, bis hinüber zum Hauptbahnhof. Auch das Gebäude des Föderalen Parlaments gab es damals noch nicht. Straßenbahnen kamen auch von oben, von der Vinohradská-Straße, und fuhren weiter auf den Wenzelsplatz. Es war ein ganz normaler, belebter Ort hier. Mit dem Bau der Autobahn hat sich das natürlich alles geändert.“


Das Memorandum, das nun unterzeichnet wurde, ist rechtlich nicht bindend. Es handelt sich also lediglich um eine Absichtserklärung aller Beteiligten. Premierminister Topolánek hält diese Erklärung aber für eine „starkes politisches Signal“, das somit doch auf gewisse Art verbindlichen Charakter habe. 2010 soll mit dem Bau begonnen werden, 2014 könnte das Projekt umgesetzt sein. Bis dahin wird noch zu klären sein, welche Variante verwirklicht wird, und wie die Finanzierung konkret aussehen soll. Immerhin werden die Kosten vorläufig auf 10 Milliarden Kronen geschätzt, das sind 400 Millionen Euro. Wer sich darauf freut, vom Nationalmuseum auf den Wenzelsplatz hinunter spazieren zu können, ohne dabei eine Autobahn zu überqueren, der muss sich also noch mindestens sechs Jahre gedulden.