Mao, Marx und Moskau: Der ungleiche Aufbruch von 1968

August 1968 in Prag

Flower Power, Bürgerrechtsbewegung, Kampf gegen das "Establishment": In Westeuropa gilt das Jahr 1968 noch heute als Symbol des Aufbruchs. Nicht nur gegen den verstaubten Universitätsbetrieb, sondern gegen das gesellschaftliche System als solches richtete sich der Protest der linken Studenten. 1968, das ist aber auch die Reformbewegung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei, die schließlich von Sowjetpanzern zum Stillstand gebracht wurde. Über beides diskutierten vergangene Woche im südmährischen Znojmo / Znaim Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler aus Tschechien und Österreich.

August 1968 in Prag
"Ich war mit meinen Eltern auf Urlaub in Dalmatien und auf Istrien. Mein Vater hatte schon vorher Befürchtungen wegen eines Einmarsches gehabt. Als er dann die Meldung darüber gehört hat, ist er sofort nach Wien zurückgefahren. Er war damals Oppositionsführer der Sozialdemokratischen Partei im Parlament."

Peter Kreisky, Sohn des späteren österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, erinnert sich an den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei. Damals, 1968, war er 24 Jahre alt. Die Reformbewegung des Prager Frühlings, die durch die Invasion jäh gestoppt wurde, hatte er bereits in den Jahren zuvor aktiv verfolgt. Unter anderem hatte er mit seinen Freunden aus der Sozialistischen Studentenbewegung Österreichs im Jahr 1966 eine tschechoslowakische Filmwoche organisiert. So kam es, dass es an der Universität Wien schon sehr früh Streifen der so genannten Neuen Welle zu sehen gab, einer jungen Filmschule, die sich im relativ freien Klima des Prager Frühlings entfaltet hatte:

"Wir konnten 1965/66 über halblegale Kontakte und sanft-subversive Verbindungen eine Auswahl von Filmen nach Wien bringen. So haben wir auch dort junge Menschen mit dem beginnenden Aufbruch innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei vertraut gemacht."

Leicht war das alles nicht, erinnert sich Kreisky heute. Die bürokratischen Hürden, die lauerten jedoch nicht etwa in Prag, sondern zu Hause an der Uni Wien, wo die Filmwoche erst nach langem Zögern bewilligt wurde.

"Die österreichischen Universitäten waren damals katholisch, konservativ-faschistisch oder nationalsozialistisch dominiert. Da waren alte und junge Nazis. Das erklärt auch irgendwo den Unterschied der 68er-Bewegungen auf beiden Seiten. Den sehr verkrusteten Hintergrund, den hatten beide Staaten gemeinsam. In Österreich war dieser zwar nicht so autoritär wie im so genannten realen Sozialismus, also im diktatorischen Staatssozialismus, aber es herrschte eigentlich ein halbautoritäres Zwei-Parteien-System. Auch vor dem Hintergrund einer - wenn man es höflich formulieren will - starken und anhaltenden Symapthie gegenüber der Nazizeit", so Kreisky.

Peter Kreisky  (Foto: Autor)
1968 als Aufbegehren gegen alte und neue Diktatoren in West und Ost? Jiri Hoppe, ein junger tschechischer Historiker, sieht das anders:

"Die Studentenbewegung im Westen, das war ein Aufstand gegen die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, während bei uns in der Tschechoslowakei diese bürgerliche Gesellschaft bis 1968 eigentlich gar nicht existiert hat und sich dann sehr abrupt entfaltete. Der Prozess verlief also genau umgekehrt: Im Westen handelte es sich um einen Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft und die etablierte Ordnung, bei uns um einen Aufstand gegen das kommunistische Establishment und um den Aufbau bürgerlicher Strukturen von unten."

Auch Jiri Hoppe hat eine ganz persönliche Erinnerung an die Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen parat - wenn auch nur aus zweiter Hand. Er wurde am 22. August 1968 geboren, also nur einen Tag, nachdem die Sowjets und ihre Verbündeten in Prag einmarschiert waren.

"Die Familiengeschichte erzählt, dass wir mit unserem ersten Auto, einem roten Fiat 600, zwischen zwei russischen Panzern in die Geburtsklinik gefahren sind, und dass meine Mutter dabei furchtbar geweint hat", sagt Hoppe.

Jiri Hoppe  (Foto: Autor)
Dass die westliche Studentenbewegung von 1968 andere Feindbilder hatte als die Reformbewegung des Prager Frühlings, das ist unbestritten. Trotzdem gibt es auch 40 Jahre später völlig unterschiedliche Einschätzungen jener Zeit, die teilweise geprägt sind von persönlichen Biografien. Manch ein tschechischer Intellektueller etwa wirft noch heute den westeuropäischen Linken von damals vor, sie hätten in Freiheit und Wohlstand ihren 'Kaffeehaussozialismus' betrieben und dabei die Augen vor der kommunistischen Unterdrückungsmaschinerie im Osten verschlossen. Stimmt nicht, meint Karl Vocelka, Professor für Geschichte an der Universität Wien. Gerade die Reaktionen auf den Einmarsch von 1968 würden nämlich ein differenzierteres Bild ergeben:

"Das ist eigentlich der Knackpunkt der linken und auch der kommunistischen Bewegung in Westeuropa. Ein guter Teil der kommunistischen Parteien, oder zumindest die jeweiligen Mehrheiten, wandten sich dem so genannten Eurokommunismus zu, der nicht mehr moskautreu war. Die einzige Ausnahme war die österreichische KPÖ, die einen moskautreuen Kurs gefahren und sich damit natürlich auch festgefahren hat, wenn man dieses Wortspiel gebrauchen will. Die Partei ist ja im wesentlichen bis heute weg vom Fenster. Natürlich gab es immer wieder Gruppen, die sich abgespaltet haben. Italien oder Frankreich sind gute Beispiele für Länder, in denen sich die Linke in sehr viele Gruppen fragmentiert hat, und einige dieser Gruppen waren natürlich auch moskautreu. Aber im Großen und Ganzen hat die Linke auf den Einmarsch mit einer Abwendung von der imperialistischen Politik Moskaus reagiert."

Karl Vocelka  (Foto: Autor)
Bleibt die Frage nach dem Vermächtnis von 1968. Und da redet plötzlich niemand mehr davon, dass die einen Marx und Mao verehrt haben, während sich die anderen mit der kommunistischen Nomenklatura in Moskau herumschlagen mussten. Zumindest die tschechisch-österreichische Geschichte hat nämlich noch eine ganz andere Erzählung aus dem Jahr 68 parat. Sie handelt von der Solidarität und Hilfsbereitschaft der Österreicher anlässlich der Flüchtlingswelle aus dem nördlichen Nachbarland. Der heutige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg hatte die Zeit des kommunistischen Regimes im österreichischen Exil verbracht. Im Gespräch mit Radio Prag erinnert er sich daran, dass in jenen stürmischen Augusttagen, als die Panzer nach Prag kamen und die Flüchtlinge nach Wien, sogar der Österreichische Rundfunk auf Tschechisch und Slowakisch gesendet hat:

"Der ORF war der Hauptberichterstatter! Er hat diesen Ereignissen den breitesten Raum gegeben, und zwar im Bewusstsein, dass er auch für die vielen Menschen sendet, die geflüchtet waren und jetzt in Wien oder anderswo steckten. Auch sie sollten rechtzeitig alle Nachrichten bekommen. Und auch die großen internationalen Medien haben die meisten Nachrichten, Filmaufnahmen und Tonbandaufnahmen vom ORF übernommen."

160.000 Tschechen und Slowaken sind 1968 nach Österreich geflüchtet. Rund 10.000 sind für immer geblieben.