Armut reduziert – Mittelstand am Abgrund? Tschechien ist EU-Spitze bei Armutsbekämpfung

Es ist noch nicht lange her, da hat der Armutsbericht der deutschen Bundesregierung für Aufregung quer durch die politischen Parteien gesorgt. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe immer weiter auseinander, hieß es da. Etwas untergegangen ist da eine andere internationale Studie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Tschechien bei der Bekämpfung der Armut nicht nur effizient ist, sondern auch die niedrigste Armutsquote in Europa hat. Radio Prag ist dem nachgegangen und hat nachgefragt, was dahinter steckt.

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
„Wie bitte, am wenigsten Arme in der ganzen EU? – Und das in Tschechien?“

Was den älteren Herrn aus Prag überrascht, ist statistisch belegt. Eine internationale Studie, herausgegeben vom Bonner „Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit“, stellt fest: Tschechien steht bei der Armutsbekämpfung an der Spitze aller EU-Staaten. 10 Prozent, das ist neben den Niederlanden die niedrigste Armutsquote überhaupt. Und das, obwohl die Tschechische Republik prozentual rund ein Drittel weniger in ihr Sozialsystem pumpt als Deutschland und andere gestandene EU-Staaten.

„Und bei dieser einfachen Darstellung der sozialen Realitäten fällt schon auf, dass die Tschechische Republik hier wirklich ein positiver Ausreißer ist im Sinne einer guten Reduktion der Armut durch ihr Sozialsystem“, erklärt Arno Tausch, Dozent an der Universität Innsbruck und Mitautor der Studie.

Petr Víšek war lange Jahre Oberministerialrat im tschechischen Sozialministerium. Er erinnert sich an die Anfänge der Sozialpolitik nach der Wende:

Petr Víšek  (Foto: Archiv des Rates der Senioren der Tschechischen Republik)
„Nach 1990 gab es in Tschechien einen konkreten Auftrag für die Sozialpolitik. Es sollte ein Schnitt gemacht und so etwas wie eine große Inventur aller Sozialleistungen durchgeführt werden. Wir haben nämlich erwartet, dass durch die Transformation viele Leute ihre Arbeit verlieren und damit weitere soziale Probleme auf uns zukommen.“

Eine Art sozialpolitische „Stunde Null“, die Petr Víšek da beschreibt. „Das Ziel hieß zu verhindern, dass große Teile der Gesellschaft in die Armut fallen. Und diese Aufgabe ist erfüllt worden.“

Petr Víšek greift zum Filzstift und zeichnet die drei Töpfe des tschechischen Sozialsystems: Renten- und Sozialversicherung, Familienförderung, Sozialhilfe. Im Prinzip ein europäisches Modell. Man schaue aber sehr genau darauf, dass das Geld in die richtigen Taschen gelange. Reiche Familien gingen beim Kindergeld zum Beipsiel leer aus, erklärt Víšek.

Maßstab für alle Berechnungen ist das Existenzminimum. Das wurde gleich nach der Wende eingeführt – eine warme Empfehlung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Eine Orientierung gab der virtuelle Warenkorb. Darin vom Brot bis zum Toilettenpapier das Allerlei des täglichen Bedarfs plus Zeitung vielleicht. Für mehr reichte es aber nicht. Aus gutem Grund, wie Petr Víšek sagt:

„Wir haben damals das Existenzminimum relativ niedrig aufgestellt. Viel niedriger als die Polen, die es später nach unten korrigieren mussten, niedriger als in Ungarn, wo sich plötzlich die Hälfte der Rentner unterhalb des Existenzminimums wiederfand, also arm war. Für uns war das Existenzminimum nicht mehr und nicht weniger als ein Grundstein. Das hatte einen gewissen erzieherischen Effekt.“

Das Existenzminimum war an die sich rasant hinaufschraubende Preisspirale gekoppelt.

„Und wenn das Existenzminimum angehoben wurde, weil die Verbraucherpreise stiegen, dann musste die Regierung auch die Sozialleistungen erhöhen. Das war sehr wichtig. Denn die Sozialleistungen verloren so nicht ihren realen Wert. Das hatte einen großen Effekt.“

Dennoch. Fehler hatten sich auch hier vorübergehend eingeschlichen, wie die Sozial- und Arbeitsrechtlerin von der Prager Karlsuniversität, Kristina Koldinská, erklärt:

„Mitte der 90er Jahre gab es zwei oder drei Jahre, in denen das Existenzminimum höher war als der Mindestlohn. Das hieß, das die Menschen einfach nicht mehr motiviert wurden zu arbeiten, sondern die Sozialleistungen zu nehmen, weil sie so mehr Geld bekamen.“

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Alles in allem war aber das Ziel erreicht worden, Armut zu verhindern. Durch die Anpassung des Existenzminimums und der Sozialleistungen an die steigenden Verbraucherpreise blieb die Butter erschwinglich und das Armutsrisiko gering. Bis Anfang des Jahres. Eine Bestimmung der jüngsten Finanzreformen der Regierung Topolanek hat diese automatische Anpassung aufgehoben. Jetzt hebe man eben auch die Renten vor den Wahlen an, sagt Petr Víšek. Und die fänden seltener statt als Preissteigerungen.

Aber bisher ist auch die Versorgung der Rentner einer der Gründe, weshalb die Tschechische Republik so gut und so effizient bei der Armutsbekämpfung abschneidet, mein Kristina Koldinská:

„Heute kann man sagen, die Renten sind ein effektives Instrument gegen die Armut, weil sie recht großzügig sind. Unsere tschechischen Rentner haben nicht so große finanzielle Probleme. Natürlich gibt es arme Renter, das ist klar. Aber auch mehreren internationalen europäischen Studien zufolge, sieht man, dass die tschechischen Rentner vor der Armut bewahrt werden. Und die Hauptursache dieses Erfolges sind die großzügigen Renten, die noch reformiert werden müssen.“

Bei den Rentenzahlungen steht im Vordergrund, dass möglichst niemand unter die Armutsgrenze rutschen soll, erklärt Petr Víšek. Ein Arbeitnehmer mit einem Durchschnittsgehalt bekomme in der Rente zwischen 50 und 60 Prozent seines letzten Gehaltes. Jemand, der als arbeitender Mensch das Doppelte hatte, muss sich als Rentner mit rund 35 Prozent seines letzten Gehaltes zufrieden geben. Verhinderung von Armut und ebenso der Gleichheitsgedanke spielen dabei in der tschechischen Gesellschaft eine größere Rolle als Gerechtigkeit, sagt Petr Víšek, der mittlerweile auch Rentner ist.

Aber trotz Abschaffung der Anpassung von Sozialleistungen an die Preisentwicklung, trotz relativ niedriger Renten: Noch heiße das tschechische Problem nicht „Armut“. Das habe man tatsächlich verhindern können, meint Petr Víšek. Das größte Problem der tschechischen Gesellschaft liege aber nur eine Haaresbreite davon entfernt. Er greift zum Rotstift:

Ein Strich in der Mitte - das Durchschnittseinkommen -, unten ein Strich für die Armutsgrenze, oben einer für die High society. Das ganze malt Petr Víšek in eine Birne, die aussieht, als hätte man sie zu kräftig auf den Tisch gestellt. Hier – er zeigt auf die untere Linie - knapp oberhalb des enggeschnallten Gürtels der Armut habe die Birne einen viel zu dicken Bauch. Das sei die tschechische Mittelschicht, der gehe es nicht gut.

Da hinein gehört auch Marek, 32 Jahre, promovierter Familienvater:

„Ich arbeite an der Akademie der Wissenschaften – da sollte ich zu den Besserverdienern gehören. Ich bekomme etwas mehr als die Hälfte vom Durchschnittslohn. Und in Prag kann man nicht mal vom Durchschnittslohn leben. Es gibt hier also eher so etwas wie eine ´intellektuelle Armut´.“

Der größte Teil der intelligenten Leute werde ins Ausland gehen. Der Rest werde hier zufrieden leben. So wie das eben in Tschechien immer gewesen sei, sagt Marek. Man hat die Mittelschicht vernachlässigt, meint auch Sozialexperte Víšek:

„Wir haben am Anfang das System von unten kuriert, damit wir die Leute über die Armutsgrenze hiefen. Aber niemand hat den Auftrag erteilt: Unterstützt die Mittelschicht, damit auch sie sich von der kritischen Grenze entfernt. Es gibt also sehr wenig Menschen unterhalb dieser Armutsgrenze, aber viel zu viele, die nur knapp darüber liegen. Und die sind leicht verwundbar.“

Da genüge relativ wenig, sagt Petr Víšek. Ein Familienmitglied erkranke für längere Zeit oder eines der Kinder, so dass ein Elternteil zu Hause bleiben müsse. Dann begännen die Probleme.

Ein Blick in die Nachrichten und Zeitungen der letzten Wochen scheint die Analyse zu bestätigen: Es sind nicht in erster Linie Arbeiter, die für mehr Geld demonstrieren. Es sind Polizisten, Ärzte, Feuerwehrleute und Lehrer, die auf der Straße höhere Löhne fordern. Ein tschechisches Spezifikum, wie es scheint: Armut reduziert – Mittelstand am Abgrund.