17. November 1939: Abtransport tschechischer Studenten ins Konzentrationslager

Am 17. November 1939 wurden die tschechischen Universitäten geschlossen

Bücher, so heißt es, haben ihre Schicksale. Daten, so scheint es, ebenfalls. Der 17. November, der hierzulande meist mit der Samtenen Revolution des Jahres 1989 in Verbindung gebracht wird, ist in Tschechien schon seit den Ereignissen des Jahres 1939 ein bedeutendes Datum. Damals, mehr als ein halbes Jahr nach der Besetzung der sogenannten Rest-Tschechei durch Hitler-Deutschland und nur wenige Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, haben die Nazis mit äußerster Brutalität auf Studentendemonstrationen gegen die Besatzer reagiert. Auf der Demonstration selbst wurde ein junger Student, Jan Opletal, erschossen, kurz darauf, am 17. November eben, wurden die tschechischen Universitäten geschlossen, die Studentenheime gestürmt und Hochschüler einfach so, weil sie eben Hochschüler waren, in Konzentrationslager transportiert. Einen davon, Josef Kocourek, hat Radio Prag vors Mikrophon gebeten. Hören Sie dazu den nun folgenden Schauplatz von Gerald Schubert:

Am 17. November 1939 wurden die tschechischen Universitäten geschlossen
Dass der 17. November schließlich zum doppelten historischen Datum wurde, das ist erst den Studentendemonstrationen des Jahres 1989 zu verdanken, die die Samtene Revolution und den Fall des kommunistischen Regimes einläuteten. Denn die eigentlich als antifaschistische Kundgebung angekündigte Versammlung erhielt in diesem Jahr, in dem sich der kommunistische Machtblock in Osteuropa rasant auflöste, eine ganz neue Dynamik, und darin besteht der historische Zusammenhang, das historische Schicksal des Datums 17. November.

Über den 17. November 1989 können Sie in unserer für diesen Jahrestag geplanten Sondersendung genaueres erfahren. Heute aber kehren wir in das Jahr 1939 zurück. Einer der damals deportierten Studenten, der das KZ überlebt hat, der mittlerweile 87jährige Josef Kocourek, ist bis heute agil geblieben - er arbeitet noch immer als Parlamentsstenograph. Nach dem Krieg hat er zweimal das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen besucht, in dem er damals inhaftiert war. Radio Prag ihn zunächst danach gefragt, was er bei seinem ersten Wiedersehen mit diesem Ort empfunden hat:

"Ich muss sagen: Als ich zum ersten Mal als freier Bürger dort durch das Tor ging, da hat mein Herz sehr stark geschlagen. Ich habe mich natürlich daran erinnert, als wir damals zunächst nach Oranienburg gekommen sind, um Mitternacht, insgesamt 1263 tschechische Universitätsstudenten. Wissen Sie, das war für uns etwas so schreckliches, man kann gar nicht glauben, dass wir das alles überlebt haben."

Welche Erinnerungen hat Josef Kocourek konkret an die Ereignisse des Jahres 1939?

"Ich habe, wie die meisten anderen tschechischen Kollegen auch, in einem Studentenheim gewohnt. Meines war im dritten Prager Stadtbezirk. Ich war eigentlich schon acht Tage fertig mit meinem Universitätsstudium. Aber der Direktor dieses Studentenheims hat gesagt, dass ich gut studiert habe, und dass ich noch einen Monat dort bleiben kann, wenn ich will."

Dies war für ihn, so dachte er wenigstens, günstig. Denn in wenigen Wochen wollte Josef Kocourek in einem Prager Gymnasium eine Stelle als Lehrer annehmen, und noch hatte er in Prag keine Wohnung. Doch schließlich sollte alles ganz anders kommen:

"Damals, es war Freitag, bin ich so gegen vier Uhr ins Studentenheim gekommen, und der Portier hat mir einen Brief von meinem Vater gegeben. Und dort stand: Lieber Pepa, also lieber Josef, komm bitte noch heute nach Hause! Deine Schwester hat von dir geträumt, und es war alles so schrecklich! Ich sollte aber an diesem Abend für Jan Masaryk, also den Sohn unseres ersten Präsidenten, stenographieren! Ich hatte es zwar versprochen, dass ich alles stenographieren werde, und dass ich den fertigen Text dann auch übergebe, aber nun habe ich gesagt: Nein, ich fahre nach Hause, ich tue es heute nicht. Aber meine beiden Kollegen haben gesagt: Bitte Josef, mach es, wir erwarten, dass das für unsere Nation etwas ganz spezielles wird! Also habe ich gesagt, gut, dann fahre ich morgen."

Die Einhaltung seines Versprechens, die Arbeit doch noch fertig zu stellen, die hat sich für Herrn Kocourek nicht gelohnt. Denn letztlich bedeutete sie für sein weiteres Leben nichts anderes, als dass er zu falschen Zeit am falschen Ort war:

"Um vier Uhr habe ich auf einmal einen lauten Alarm gehört, und dann die Worte: Aufmachen, Hände hoch! Als ich das gehört habe, habe ich gesagt: Das sind wahrscheinlich die Deutschen. Eine Minute später waren sie bei mir. Ich hatte ein Einzelzimmer. Die Tür war geschossen, aber die haben das Glas durchschlagen, und vorher hörte ich noch einen Krach aus einem Revolver. Nachdem dann die Türe aufgebrochen war, sah ich einen deutschen Soldaten auf dem Boden liegen, und ich habe auch Blut gesehen. Die haben dann gesagt: Sie haben ihn erschossen! Und ich habe geantwortet: Nein, nein, ich habe niemanden erschossen! Wir mussten dann alle zusammen in einen Kinosaal gehen. Dort hieß es zwei Stunden lang Hände hoch. Dann sind die Posten mit uns wieder ins Studentenheim zurückgegangen, wir haben uns angezogen und wurden mit Lastwagen in die Kaserne Ruzyne gefahren. Und am nächsten Morgen, das war der 17. November 1939, sind wir mit dem Zug schon nach Norden gefahren, bis nach Oranienburg."

Von Oranienburg wurde Kocourek in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er unter katastrophalen Bedingungen Schwerstarbeit verrichten musste und erst nach über einem Jahr wieder in die Freiheit gelangte. Wie er das Lager überlebt hat, sowohl geistig als auch körperlich, das war die letzte Frage, die wir Herrn Kocourek gestellt haben:

"Wissen Sie, das ist eine sehr wichtige Frage. Einige Kollegen waren auf diesem Gebiet sehr schwach, haben geweint, oder haben zum Beispiel gesagt: Mutter, ich werde dich nicht mehr sehen, ich kann das hier nicht überleben. Ich aber bin immer positiv eingestellt, und mit einigen anderen bin ich zu diesen Kollegen gegangen, und wir haben gesagt: So dürft ihr nicht sprechen! Wir alle kommen einmal nach Hause, wir alle werden unsere Eltern wiedersehen! Es war dort sehr wichtig, nicht nur ans Konzentrationslager zu denken. Wir haben zum Beispiel in der Freizeit die deutsche Sprache gelernt. Einigen Kollegen habe ich auch die Stenographie beigebracht. Und wir haben einige schöner Dichter gehört, einige Kollegen haben es vorgetragen. Also: Das wichtigste dort war, dass nicht nur der Leib alles ausgehalten hat. Denn wenn wir zum Beispiel drei Stunden auf diesem Appellplatz standen, und es hatte minus 25 oder minus 30 Grad, da waren wir ganz fertig. Aber trotzdem: Der Geist hat gesiegt. Und immer haben wir gesagt: Wir müssen es aushalten."