„Die tschechische Außenpolitik ist opportunistisch“ - Politologe Pehe über die Ukraine-Krise

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Der tschechische Außenminister Lubomír Zaorálek hat bei seinem Ukraine-Besuch vergangene Woche erneut die Annexion der Krim durch Russland klar verurteilt und der Ukraine tschechische Unterstützung zugesagt, unter anderem die Aussicht auf Visa-Freiheit. Diese klare Linie in der Ukraine-Krise wird aber längst nicht von der gesamten tschechischen Regierung geteilt. Über die außenpolitischen Prioritäten der tschechischen Regierung, nicht nur in der Ukraine-Krise, dreht sich das folgende Politgespräch. Unser Gesprächspartner ist diesmal der Politologe Jiří Pehe von der New York University in Prag.

Lubomír Zaorálek  (Foto: ČTK)
Herr Pehe, der tschechische Außenminister Lubomír Zaorálek hat bei seinem Ukraine-Besuch vergangene Woche erneut die russische Annexion der Krim klar verurteilt, die Ukraine als wichtigen Partner bezeichnet und dem Land tschechische Unterstützung zugesagt, unter anderem Visa-Freiheit. Das klingt nach einer klaren Linie der tschechischen Außenpolitik im Ukraine-Konflikt...

„Das könnte man so sagen, wenn die tschechische Außenpolitik nur die Sprache des tschechischen Außenministers sprechen würde. Leider aber ist die tschechische Außenpolitik sehr durcheinander: Es gibt auf der einen Seite das Außenministerium, das sehr pro-westlich orientiert ist. Dann gibt es den Premierminister, der eine deutlich vorsichtigere Haltung einnimmt, weiter den Präsidenten, und mitunter mischen sich noch Stimmen aus dem Parlament ein. So kann man die tschechische Außenpolitik leider nicht ganz ernst nehmen. Und das, was der Außenminister sagt, muss noch nicht die offizielle Linie der tschechischen Außenpolitik sein.“

Besetzung des Sudetenlandes durch Hitler-Deutschland
Nach der Annexion der Krim durch Russland sah es so aus, als wenn die gesamte politische Szene in Tschechien klar hinter der Ukraine steht. Man fühlte sich in Tschechien an die Besetzung des Sudetenlandes durch Hitler-Deutschland im Jahr 1938 erinnert und an die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts im August 1968. Zunächst sah es so aus, als wenn die früheren Ostblockstaaten Polen, Tschechien, Ungarn in der EU gemeinsam ihre Stimme erheben und eine härtere Gangart gegenüber Russland fordern würden. Jetzt steht Polen offenbar allein da mit dieser Forderung...

„Ich fürchte, in der tschechischen Politik, und insgesamt in der tschechischen Gesellschaft, besteht weiter eine große pro-russische Sentimentalität aus der Zeit, als die Tschechoslowakei noch zum Ostblock gehörte. Nach jeder Krise zeigt sich, dass sich Tschechien zwar zunächst an seine Pflichten als westlicher Verbündeter erinnert und probiert, die Linie des Westens zu verfolgen. Dann aber finden sich insbesondere in den linken Parteien immer wieder genügend Politiker, die eine ziemlich starke Nostalgie nach der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und mit Russland hegen. Und das spiegelt sich dann in der Formulierung der tschechischen Außenpolitik wider. Diese gemäßigte Haltung gegenüber Russland hängt stark zusammen mit der Situation innerhalb der tschechischen Sozialdemokratie. Dort findet sich eine ganze Reihe postkommunistisch denkender Politiker, die in der russisch-ukrainischen Krise eher Sympathien für Russland hegen.“

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Sind der Grund dafür auch wirtschaftliche Interessen? Premierminister Bohuslav Sobotka hat in einem Interview für die Zeitschrift Respekt letzte Woche zwar das russische Vorgehen in der Ukraine verurteilt, aber auch darauf hingewiesen, dass Russland ein wichtiger Wirtschaftspartner sei....

„Es stimmt, dass Russland für die Tschechische Republik ein wichtiger Wirtschaftspartner ist. Auf jeden Fall ist Tschechien, genauso wie viele andere EU-Staaten, von russischem Gas und Erdöl abhängig. Und Russland ist natürlich ein wesentlich größerer und mehr versprechender Markt als die Ukraine. Aber angesichts der Lage, wie sie momentan in der Ostukraine herrscht, oder nach der Annexion der Krim kann man die bilateralen Beziehungen nicht aus rein wirtschaftlichen Erwägungen oder Prioritäten heraus betrachten. Man muss Stellung beziehen und auch darauf vorbereitet sein, dass manche prinzipielle Schritte wehtun können und man dafür einen bestimmten Preis zahlen muss. Und dazu ist die Tschechische Republik offenbar nicht bereit. Ich fürchte, die tschechische Außenpolitik ist ziemlich opportunistisch und stellt die wirtschaftlichen Interessen jetzt ziemlich offen den moralischen voran. Das betrifft nicht nur das Verhältnis zu Russland, sondern zum Beispiel auch die China-Politik und insgesamt die neue Formulierung der tschechischen Außenpolitik, die etwa die Menschenrechtspolitik von Ex-Präsident Václav Havel als moralistisch bezeichnet und ablehnt.“

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Welche Rolle spielt die Energie-Frage im Verhältnis zu Russland? Es wird ja auch in Tschechien über eine Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen diskutiert....

„Die Energie-Frage ist natürlich grundlegend. Denn die Tschechische Republik kann sich aufgrund ihrer Abhängigkeit vor allem von russischem Gas keine absolut radikalen Gesten erlauben. Auf der anderen Seite verhalten sich viele andere Staaten in der EU, die ebenfalls von russischem Erdöl und Gas abhängig sind, mutiger und prinzipientreuer. Polen ist ein gutes Beispiel. Die tschechische Politik ist in dieser Hinsicht wohl für die Europäische Union und für Polen als Führer der Visegrad-Gruppe eine ziemlich große Enttäuschung. Denn tschechische Politiker lassen sich besonders in der Energiepolitik von dem Sprichwort leiten: Das Hemd ist mir näher als die Jacke.“

Ukraine  (Quelle: Carport,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Reagieren die Politiker damit auf die Bedürfnisse der tschechischen Öffentlichkeit? In der deutschen öffentlichen Debatte haben sich ja im Zuge der Ukraine-Krise zwei Lager herauskristallisiert: die sogenannten Russland-Basher und die Russland-Versteher. Wie sehen Sie das in Tschechien?

„In Tschechien gibt es leider nicht diese klar strukturierten Haltungen zu Russland. Die tschechischen Positionen sind Ausdruck eines merkwürdigen Konglomerates. Das resultiert zum einen aus der Koalitionsregierung mit drei verschiedenen Parteien. Hinzu kommt ein Präsident, der einerseits sehr radikale Positionen vertritt, dann aber wieder sehr gemäßigte. Und dann haben wir ein Außenministerium, das seine eigenen Positionen vertritt. Dadurch ist die tschechische Außenpolitik in Bezug auf Russland sehr undurchschaubar – im Gegensatz etwa zur deutschen Politik. Es ist eine Kakophonie unterschiedlicher Stimmen, wie es sie in der Vergangenheit schon vielfach gegeben hat. Die Tschechische Republik ist unfähig, wenigstens ein elementares nationales Interesse zu definieren, das einigermaßen strukturiert wäre. Und so ist schwer zu verstehen, was die Tschechische Republik etwa im Verhältnis zu Russland eigentlich will.“

Quelle: Tschechisches Fernsehen
Dementsprechend spielt Tschechien also auch keine wichtige Rolle in der EU: Sie sehen keine klare Stimme Tschechiens?

„Das ist das große Problem der Tschechischen Republik seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und insbesondere seit dem Zerfall der Tschechoslowakei (Ende 1992, endgültige Trennung am 1. Januar 1993, Anm. d. Red.). Die Tschechische Republik sucht seitdem ziemlich erfolglos irgendeine eigene Identität. Durch den Zerfall der Tschechoslowakei ist aus Tschechien ein Rest-Staat geworden – das, was von der Tschechoslowakei übrig geblieben ist. Und tschechische Politiker bemühen sich schon seit zwanzig Jahren vergeblich, eine gemeinsame Plattform zu finden. Wir hören in der tschechischen Politik viel über nationale Interessen. Davon, dass wir gegenüber der Europäischen Union stolz und kompromisslos sein müssen und unsere Standpunkte verteidigen. Aber am Ende zeigt sich immer, dass die Tschechische Republik vor allem gar nicht fähig ist, überhaupt irgendwelche Standpunkte zu präsentieren. Zum Beispiel ist der frühere tschechische Premier Petr Nečas regelmäßig auf EU-Gipfel gereist, ohne eigentlich ein Mandat zu haben, irgendwelche Vereinbarungen zu treffen. Das ist in meinen Augen symptomatisch: Wir haben hierzulande keine klare Stimme und keine klar strukturierte Politik wenigstens grundlegender nationaler Interessen.“

Foto: ČTK
Dennoch hat Außenminister Lubomír Zaorálek jetzt der Ukraine konkrete Hilfen zugesagt. Die Visa-Freiheit ist ja in der Europäischen Union durchaus umstritten. Damit hat Tschechien klar Position bezogen, oder?

„Es stimmt, dass Lubomír Zaorálek sich in der Ukraine-Krise sicherlich als der prinzipientreueste Verbündete verhält – sowohl gegenüber unseren Partnern in der Europäischen Union als auch insgesamt im westlichen Bündnis. Und seine Gesten an die Ukraine sind sicherlich grundlegend. Andererseits: Wenn ein tschechischer Außenminister etwas sagt, muss das noch nicht bedeuten, dass das in der tschechischen Politik dann auch umgesetzt wird. Wir wissen, dass zwar einerseits Lubomír Zaorálek diese Gesten gegenüber der Ukraine gemacht hat, andererseits aber Präsident Zeman wenige Tage später verkündete, Tschechien sollte die Visumspflicht auch für Russen abschaffen. Die tschechische Politik ist einfach verwirrend. Man findet in solchen konkreten Situationen nur schwer einen ideellen Anhaltspunkt, was eigentlich die Priorität des Landes ist. Warum kommt man der Ukraine entgegen und bietet dann gleichzeitig Russland ein ähnliches Entgegenkommen an, obwohl Russland sich nach Meinung des tschechischen Außenministeriums wie ein Aggressor in dieser Krise benimmt?“