Reaktionen auf den ersten Jahrestag des 11. Septembers

Lidove noviny am 11. September 2002

Wie jeden Freitag an dieser Stelle begrüßen wir Sie im Programm von Radio Prag jetzt zur Sendereihe "Im Spiegel der Medien". Schwerpunkt bei uns diesmal- kaum einen wird es überraschen - die Reaktionen tschechischer Medien zum ersten Jahrestag der Terroranschläge auf New York und Washington vom 11. September. In diesem Zusammenhang fragen wir auch nach der Rolle, die die Medien in der Berichterstattung über dieses weltbewegende Ereignis gespielt haben. Am Mikrophon sind mit Ihnen auch heute Robert Schuster und Silja Schultheis.

Die Welt werde nie wieder sein wie vor dem 11. September, prognostizierte der amerikanische Präsident George W. Bush nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon vor einem Jahr. Die Frage, was sich seit dem 11. September verändert hat, wurde seitdem zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen, Reflexionen über den Zustand der Welt, in der wir leben, sowie Mutmaßungen über seine künftige Entwicklung. Bereits Tage, bevor sich der Jahrestag des 11. September näherte waren die Folgen der Terroranschläge und dessen Bedeutung auch das dominierende Thema in der tschechischen Presse. Kommentare und Reflexionen von in- und ausländischen Spitzenpolitikern und namhaften Philosophen füllten neben den üblichen Meinungsspalten auch Sonderseiten zum Thema "Ein Jahr danach".

Die Zeitung "Lidove noviny" verweist in ihrer Donnerstags-Ausgabe auf eine Reihe von Veränderungen auf politischer wie sicherheitspolitischer Ebene, die nach Ansicht des Blattes jedoch noch kein Anzeichen für eine Grund legende Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sind. Zitat:

"Sicherlich hat sich seit dem 11. September in der Welt eine Menge geändert: Das Regime in Afghanistan ist gefallen, die amerikanisch-russischen Beziehungen haben sich vertieft, viele Kontroll- und Sicherheitsmechanismen sowie die Nachrichtendienste sind effektiver geworden. Aber von einer "Veränderung der Welt" lässt sich nur dort sprechen, wo sich dauerhaft und in größerem Maßstab auch eine tiefere Ebene verändert - die Haltung der Menschen, das mentale Klima, kulturelle Paradigmen, Denk- und Lebensweisen."

Die eigentlichen Probleme, die durch die Terroranschläge vom vergangenen Herbst gleich der Spitze eines Eisberges ans Licht getreten seien, lägen in der Kluft zwischen Arm und Reich, in der Expansion des selbstsicheren Westens und der Furcht, die ärmere Länder davor empfinden, schreiben "Lidove noviny" weiter und kommen zu dem Schluss:

"Diese Probleme rufen nach grundlegenden Schritten, nach der Bildung einer neuen politischen und ökonomischen Ordnung und nach einem echten Dialog der Kulturen."

Sie hörten Auszüge aus der Zeitung Lidove noviny.

Auch die Zeitung "Pravo" relativiert in ihrer Mittwochs-Ausgabe die Bedeutung des 11. September als Motor für fundamentale Veränderungen und schreibt mit Blick auf die Strategie, die der amerikanische Präsident George W. Bush für den Kampf gegen den weltweiten Terrorismus gewählt hat:

"Nachdem Washington schnell das fundamentalistische Regime der Taliban in Afghanistan beseitigt hat, ist jetzt offensichtlich der Irak an der Reihe. Die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein wäre sicherlich eine verdienstvolle und nützliche Tat. Die Frage, wie es weiter geht, würde sich aber auch danach unausweichlich stellen. Denn mit Militärschlägen lassen sich zwar Staaten und Regime besiegen, die den Terrorismus protegieren, aber der Terrorismus als solcher kann dadurch nicht beseitigt werden."

Die Zeitung "Mlada fronta Dnes" wirft in ihrer Ausgabe vom 11. September die Frage auf, wie die Tschechische Republik sich bislang im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bewährt hat und zieht folgende Bilanz:

"Das Ergebnis ist keineswegs schlecht. Die Regierung und die Opposition haben sich im Angesicht der Gefahr vertrauenswürdig verhalten. Niemand hat in Frage gestellt, dass wir Mitglieder der NATO sind und dementsprechend handeln müssen. Niemand hat die allgemeine Angst ausgenutzt, um den Bürgern neue Steuern aufzuerlegen oder ihre Rechte einzuschränken. Für den Einsatz in Afghanistan hat Tschechien seinen Kräften gemäß Soldaten eingesetzt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger."

Die erschütternden Aufnahmen der einstürzenden Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers, die auch am 1. Jahrestag der Terroranschläge erneut um die Welt gingen, sind zum Symbol für den 11. September geworden. Ohne diese Bilder hätten sich wohl die meisten von uns das Ausmaß der Terroranschläge auch nicht annähernd vorstellen können. Die Zeitung "Lidove noviny" spricht in diesem Zusammenhang von einer "Welt der Bilder", in der wir leben, und überlegt:

"Vielleicht lassen sich Anteilnahme und Mitleid in dieser Welt schon nicht mehr anders wecken als durch die Wiederholung tragischer Aufnahmen."

Dennoch, so fährt das Blatt fort, habe der 11. September eine - so wörtlich - "Durchlüftung des öffentlichen Raumes" mit sich gebracht, die der Kommentator als positiv bewertet:

"Die Erfahrung intensiver Debatten ist für die tschechische Gesellschaft einer der wichtigsten Lehren, die das Geschehen nach dem 11. September mit sich brachte. Der öffentliche Raum, der ansonsten mit Ballast und bizarren Einzelheiten überfüllt war, wurde plötzlich von Themen grundlegender Art erfüllt. Es wurde von Moral, Gerechtigkeit und dem Recht auf Vergeltung gesprochen. Es war ein scharfes postmodernes Gulasch von Phrasen, diplomatischen Proklamationen, ausgeglichenen Haltungen, intelligenten Reflexionen und faschistischen Ausfällen. Aber es war attraktiv und lebhaft."

Soweit "Lidove noviny" vom 11. September.

Dass man nach einem Jahr aber grundsätzlich von einer veränderten Rolle der Medien sprechen könnte, wie sie nach den Terroranschlägen vielfach prognostiziert worden war, bestreitet ein weiterer Kommentator, Milos Cermak von der Zeitschrift "Reflex". Im Gespräch mit Radio Prag führte er aus:

"Vor einem Jahr wurde gesagt, dass die sog. ‚soft news', d.h. Boulevard-Nachrichten über Lebensstil etc., dass diese Art von Nachrichten abnehmen werde. Man nahm an, dass bald schon niemanden mehr interessieren würde, was Tom Cruise zum Frühstück isst oder Michael Jackson abends macht. Aber bereits nach einigen Monaten zeigte sich, dass die Menschen sich nach wie vor für das oberflächliche Leben der High society interessieren. Und die Medien nicht, wie angenommen, ernster werden und sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen werden. Dies ist nicht eingetreten, die Medien sind praktisch gleich geblieben wie vor einem Jahr."

Positiv hingegen bewertet Cermak das Verhalten der tschechischen Medien in Krisensituationen, sowohl nach den Terroranschlägen vom vergangenen Jahr als auch zuletzt während der Hochwasserkatastrophe:

"Interessanterweise hat sich gezeigt, dass die Berichterstattung der Medien gerade in Krisensituation ziemlich gut ist. Weil sie im Stress und voll damit beschäftigt sind, das aktuelle Geschehen einzufangen, haben sie keine Zeit, die Ereignisse zu manipulieren oder Geschichten zu erfinden und in unterschiedlichen Farben auszuschmücken."

Das war's wieder einmal, liebe Hörerinnen und Hörer, das Ende unserer Sendezeit naht, und uns bleibt nur noch, Ihnen ganz herzlich für's Zuhören zu danken und Ihnen ein schönes Wochenende zu wünschen. Bis zum nächsten Mal verabschieden sich aus dem Prager Studio Robert Schuster und Silja Schultheis.