Prag ist die europäische Mitte

Schriftsteller Reiner Kunze

Der deutsche Schriftsteller Reiner Kunze gehört zu den bedeutendsten Dichtern seiner Generation und zum wichtigsten Übersetzer tschechischer Autoren in die deutsche Sprache. Er hat neben seinem eigenen umfangreichen Lyrik- und Prosawerk so viele tschechische Dichter ins Deutsche übersetzt wie kein anderer deutscher Lyriker. Für den Kultursalon diesen Sonntag, traf unsere freie Mitarbeiterin Kristin Schneider Reiner Kunze, der in diesem Jahr von der "Gemeinschaft der Schriftsteller Tschechiens" den wichtigsten Übersetzerpreis, die "Premia Bohemica" auf der Prager Buchmesse überreicht bekam. Ein Porträt.

Eines hat Reiner Kunze in all den Jahren, nicht verlernt: Den melodisch sächsischen Klang, der die Vokale beim Sprechen dehnt und Wortsilben dicht aneinander bindet. Rainer Kunze, geboren im sächsischen Ölsnitz im Erzgebirge, spricht langsam und konzentriert. Der Mann, mit verschmitztem Lächeln und weißem Haar, sitzt im überfüllten Prager Cafe Slavia und blickt ein wenig wehmütig um sich. Hier traf er in den 60er Jahren seine tschechischen Schriftstellerfreunde, nachdem er in der DDR nicht mehr publizieren durfte. Hier wurden heimlich Fluchtpläne geschmiedet. Hier träumten die Publizisten von einer besseren Welt, ohne Zensur. Die damalige Tschechoslowakei nennt Reiner Kunze heute sein zweites Zuhause.

"Ich bin zu diesem Land auf dem Weg des geringsten Widerstandes gekommen. Ich habe 1959 mit einem Menschen einen Briefkontakt begonnen. Damals waren die Staatsgrenzen noch geschlossen. Dieser Briefwechsel nahm einen Umfang von 4000 Briefen an und irgendwann habe ich diesen Menschen gefragt, ob er meine Frau werden will. Und so habe ich das Land geheiratet und die Sprache geheiratet."

Als Reiner Kunze seine spätere Frau, die Tschechin Elisabeth Mifka, kennen lernte, gehörte das Schreiben schon längst zu seinem festen Lebensinhalt. Kunze hatte Journalistik in Leipzig studiert und schon als Student erste Gedichte veröffentlicht. Als er sein Prosaband "Die wunderbaren Jahre" erstmals in der Öffentlichkeit vorstellte, wurde er aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, weil er in seinen Texten die Menschen in der DDR auforderte, sich zu bekennen und sich vom totalitären System zu lösen, in dem sie lebten. Von der Stasi bespitzelt, bedroht und isoliert, floh Reiner Kunze 1977 in die Bundesrepublik Deutschland. Viele Jahre vergingen, ehe es Reiner Kunze damals gelang, von der politischen Repression seines Landes loszukommen. Der Rückzug in die Welt der tschechischen Poesie, mit deren Übersetzung ins Deutsche, Reiner Kunze schon in seiner Jugendzeit begann, halfen ihm dabei. Die tschechische Sprache lernte er von seiner Frau, die in Usti nad Labem/Aussig an der Elbe arbeitete:

"In der Zeit, als ich hier war, war meine Frau als Ärztin beschäftigt. Ich habe mir dann außerhalb der Literatur einen großen Sprachschatz angeeignet. Beim Einkaufen zum Beispiel."

In der Zeit, als der Eiserne Vorhang noch West- und Osteuropa trennte, gehörten Reiner Kunzes deutsche Übertragungen zu den einzigen Übersetzungen tschechischer Literatur im Ausland. Über 60 Autoren hat er im Laufe seines Lebens übersetzt. Für diese literarische Leistung erhielt Rainer Kunze, als erster deutscher Schriftsteller, in diesem Jahr die höchste Auszeichnung der "Gemeinschaft der Schriftsteller Tschechiens", den Übersetzerpreis "Premia Bohemica". Der Vorsitzende des Verbandes, Ivan Binar, nennt die Kriterien, die ein Schriftsteller für diesen Preis erfüllen muss:

"Er sollte sich das verdienen, im Dienste der tschechischen Literatur. Wir verleihen diesen Preis nun seit 11 Jahren und das bekommt, der Mann oder die Frau, die sich in hohem Masse für die tschechische Literatur engagieren oder sie übersetzen."

Ein hohes Maß an Scharfsinn, Feingespür und Ausdauer setzt Reiner Kunze ein, wenn er aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt. für Jan Skacels Prosa hat er 10 Jahre gebraucht, bis er in seine Sprache vordrang. Reiner Kunze strahlt harmonische Ruhe aus und die gewinnt er, wenn er sich der tschechischen Sprache nähert. Sein Engagement ist kaum zu übertreffen. In den Texten der "Wunderbaren Jahre" hatte Kunze schon früh erkannt, dass es mit der DDR zu Ende gehen würde. Über Jahre hinweg hat er die Poesie und Prosa tschechischer Schriftsteller übersetzt, die im eigenen Land verboten waren. Noch einmal Ivan Binar:

"Die meisten Autoren, die Kunze übersetzt hat, sind Autoren, die als "persona non grata" bezeichnet wurden. Das bedeutet, sie konnten nur im Ausland ihre Werke herausgeben, z. B. Antonin Brousek war in Deutschland. Ivan Blatnik lebte in England. Sie konnten alle hierzulande nicht veröffentlichen. Das heißt, die Arbeiten konnten in der BRD, jedoch nicht in der DDR veröffentlicht werden."

Reiner Kunze ist Chronist seiner Zeit. Seine Sprache klingt nüchtern und wenig spektakulär. Das mag den Leser irritieren, doch bald merkt er, dass Kunze eben durch das leise Gesagte provoziert. Wie er etwa den Blick der Kellnerin in einer Kurzgeschichte beschreibt, die ihm im Cafe Slavia einst den Service verweigerte, weil er eine ostdeutsche Zeitung las. Das war im August 68, da rollten in Prag gerade die Panzer. Auch aus der DDR. Reiner Kunze schreibt und beschreibt die Realität wie sie ihm begegnet. Und welcher tschechische Schriftsteller erscheint ihm heute noch authentisch? Reiner Kunze zuckt mit den Schultern.

"Im Augenblick machen die jungen tschechischen Dichter all das nach, wo sie meinen, es sei modern. Es sind eigentlich Unarten, die am westen vor 30, 40 Jahren herausgebracht. Die Sprache verschlampt."

Glücklich über die Publikationen der jungen tschechischen Schriftsteller ist Kunze keineswegs. Natürlich ist er seiner Leidenschaft, dem Übersetzen, auch mit 70 Jahren noch treu geblieben. Doch in der aktuellen Literaturszene wird er nicht fündig. Jachym Topols letztes Buch hat er weggelegt. Seine barockesk überladene Sprache erscheint Reiner Kunze artifiziell. Ansichtssache. Die beste Vorraussetzung, für eine große Literatur, seien Visionen, konstatiert er:

"Tschechien soll sich seiner wunderbaren Traditionen erinnern und an sie immer wieder anknüpfen. Ich denke da an Capek, Nemcova oder Skacel. In der Musik, Literatur und in der Kunst hat das Land immer wieder große Gipfel geschaffen."

Zur Verleihung des Premia Bohemica Preises ist Reiner Kunze nach Prag zurückgekehrt, nach Tschechien, in seine zweite Heimat. Heute, wo sich in einem neuen Europa Grenzen und Horizonte weiten, unterstreicht Kunze die große Chance für die Menschen in diesem Land:

"Das gab es überhaupt noch nicht, dass man je gesagt hätte, Prag stände außerhalb Europas. Das ist unmöglich. Prag ist europäische Mitte. Dessen soll es sich erinnern und sich in Europa einbringen. Wenn äußere Grenzen wegfallen, besteht auch die Chance, dass durch mehr Begegnung, durch einander zuhören müssen und einander zuhören wollen, Konflikte verringert werden. Worauf es ankommt, ist, dass der Mensch gern auf dieser Erde lebt."