Musiker des Grafen Morzin: Wiederentdeckung vergessener Barockkomponisten aus Böhmen

Václav Kapsa: „Die Musiker des Grafen Morzin“

Anton Reichenauer und František Jiránek sind zwei vergessene Barockkomponisten aus Böhmen, deren Werk erst in der letzten Zeit wiederentdeckt wird – dank der Forschungsarbeit des Musikhistorikers Václav Kapsa und dank der Spielkunst der Ensembles Collegium Marianum und Collegium 1704. Über ein neues Buch zur Geschichte der Adelskapellen in Böhmen sowie zu zwei CDs, die kürzlich beim Musikverlag Supraphon erschienen sind, hören Sie jetzt mehr im Kultursalon.

Václav Kapsa: „Die Musiker des Grafen Morzin“
Seit Jahren beschäftigt sich Václav Kapsa mit den Barockkomponisten aus Böhmen. Kürzlich hat er seine Forschungen im Buch „Die Musiker des Grafen Morzin“ zusammengefasst. Er erörtert darin die Geschichte der Adelskapellen, die eine bedeutende Rolle im Musikleben Böhmens in der Barockzeit gespielt haben. Was aber kann man sich unter einer Adelskapelle vorstellen?

„Das war ein Ensemble, Musiker, die für einen Grafen oder Adeligen spielten. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es sozusagen zu einem Boom dieser Ensembles. Es ist offenbar, dass die Kapelle des Grafen Morzin sehr berühmt war. Graf Wenzel von Morzin selbst ist gut bekannt als der Widmungsträger der ´Vier Jahreszeiten´ von Antonio Vivaldi, der für ihn komponierte. Aber Morzin hatte auch eigene Musiker, aus Prag oder Böhmen, die nicht nur in der Kapelle spielten, sondern auch komponierten. Unter anderem auch Solokonzerte im Stile Vivaldis.“

Václav Kapsa
Die Adelskapellen waren kleine Hausensembles, in denen oft Bedienstete, Beamte sowie lokale Musiker spielten. Sie waren mit ihrem Besitzer eng verknüpft, begleiteten ihren Herrn auf dessen Reisen, und nach dem Tod ihres Gründers wurden sie in der Regel aufgelöst. Mit der Auflösung des Orchesters gingen häufig auch die Noten verloren, so dass heute nur wenige der Werke und Komponisten bekannt sind, die von diesen Adelskapellen gespielt wurden. In der Kapelle des Grafen Morzin, eines Adeligen, der das Herrschaftsgebiet Vrchlabí / Hohenelbe besaß und einen prächtigen Palast in Prag bauen ließ, waren hervorragende Prager Musiker tätig. Ihre Leistungen hat auch Vivaldi hochgeschätzt, der Morzins „maestro di musica in Italia“ war. Einer der bedeutendsten einheimischen Komponisten in Morzins Dienst war Anton Reichenauer.

„Reichenauer war sozusagen ein beruflicher Komponist. Er spielte wahrscheinlich Cembalo oder Orgel oder ein anderes Tasteninstrument und er komponierte nicht nur Instrumentalmusik, sondern auch Kirchenmusik, nicht nur für Morzin, sondern auch für andere Adelige in Prag oder für Prager Kirchen. Reichenauer kannte die Musiker aus Morzins Kapelle gut. Er komponierte zum Beispiel Fagott-Konzerte, was in jener Zeit nicht üblich war. Zwar komponierte Antonio Vivaldi rund 40 Konzerte für Fagott, aber auch Reichenauer war mit seinen drei Konzerten ein Gewichtiger auf diesem Feld. Und diese Konzerte wurden für einen sehr guten Fagottisten von Morzin komponiert.“

Zwei der drei Fagott-Konzerte von Anton Reichenauer enthält auch eine neue CD, die der Musikforscher Kapsa mitproduziert hat und auf der das Collegium 1704 spielt. Ein Ensemble, das sich der historischen Aufführungspraxis der Barockmusik widmet. Sein Begründer und künstlerischer Leiter, Václav Luks, spricht über seine Beziehung zu Reichenauer:

„Für mich war seine Musik eine große Entdeckung. Er ist zwar überhaupt nicht allgemein bekannt, wie Johann Sebastian Bach oder Georg Friedrich Händel, aber seine Musik spricht italienische Sprache. Er war in der Kapelle angestellt, für die auch Antonio Vivaldi seine Werke komponierte. Man hört diesen italienischen Flair, diesen Einfluss Vivaldis, es ist eine sehr fröhliche Musik, aber mit böhmischen Wurzeln. Und diese Fusion finde ich am interessantesten. Darüber hinaus ist die Musik vor allem für die Bläser virtuos und stellt eine sehr bedeutende Erweiterung im Repertoire für diese Instrumente dar.“

Das war eine Hörprobe aus Reichenauers Fagott-Konzert G-mol in der Interpretation von Sergio Azzolini. Für Václav Luks handelt es sich nicht um das erste Treffen mit Reichenauer.

„Wir haben schon früher seine Werke gespielt, vor allem in Deutschland. Beim Festival ´Tage der alten Musik´ in Regensburg haben wir seine Ouvertüre gespielt, die auch vom Bayerischen Rundfunk aufgenommen wurde, und immer wieder haben wir die Werke gespielt. Die Reaktion des Publikums ist für uns wichtig. Ich muss sagen, das Publikum war regelmäßig begeistert von Reichenauers Musik, und alle haben gefragt, warum dieser Mann nicht bekannt ist.“

Und wie lässt sich diese Frage beantworten?

„Václav Kapsa hat das ein bisschen angedeutet: weil die tschechische Musikwissenschaft ihn für einen deutschen Komponisten gehalten hat. Es ist überhaupt die Frage, was damals deutsch, tschechisch oder österreichisch war, da es einen gemeinsamen Kulturraum gab und die Grenzen nicht so streng wahrgenommen wurden. Die deutsche Musikwissenschaft hat Reichenauer wiederum für einen böhmischen Komponisten gehalten. Weder die tschechische, noch die deutsche Musikwissenschaft hatte also Interesse an ihm, und das ist einer der Gründe, warum er in Vergessenheit geraten ist. Aber ich glaube, das hat er nicht verdient. Und deswegen bin ich sehr stolz, dass wir zu seiner Rehabilitierung beitragen können.“

Johann Georg Pisendel
Zu seinen Lebzeiten fand Reichenauer allerdings große Anerkennung, wie der Leiter des Collegiums 1704 betont:

„Reichenauer war zu seiner Zeit sicher kein Mister Nobody. Er wurde sehr geschätzt und seine Werke wurden nicht nur in Prag, sondern auch in Dresden gespielt. Und das will schon etwas heißen, weil die Kapelle in Dresden das beste Orchester der Zeit war und der Dresdner Kapellmeister Johann Georg Pisendel die besten Werke gesammelt hat, um sie dort zu spielen. Aber auch in anderen Ländern Deutschlands findet man Abschriften seiner Werke. Man kann daher davon ausgehen, dass er nicht unbekannt war.“

Und eben in Notensammlungen im Ausland, aber auch in tschechischen Archiven hat Václav Kapsa nach Spuren der Musiker des Grafen Morzin gesucht.

„Ich habe Glück gehabt, dass ich nicht nur Archivalien und Literaturangaben zur Verfügung hatte, sondern auch die Musik. Aber der Großteil der Quellen sind nicht allzu spannende Archivalien wie Pfarrmatrikeln, Zahlungen und so weiter. Mit der Musik sind die Notenquellen gemeint. Die sind nicht in Prager Sammlungen erhalten geblieben, sondern meistens im Ausland, in Dresden, in Darmstadt, in Wiesentheid und in Stockholm.“

Anton Reichenauer war aber nicht der einzige Komponist im Dienst von Wenzel Morzin. Anton Möser oder Christian Gottlieb Postel sind weitere Namen aus dem Umfeld der Kapelle.

„Sehr spannend ist die Geschichte von František Jiránek. Das war ein Musiker, der in Lomnice nad Popelkou geboren wurde. Das war ein Gut Morzins, und Jiránek begann am Hof Morzins als Page. Dann sandte ihn Morzin nach Venedig zu Antonio Vivaldi, wahrscheinlich um dort Musik zu lernen. Danach spielte Jiránek in der Kapelle in Prag. Nach der Auflösung der Kapelle ging er nach Dresden, wo er im Grafen von Brühl einen Arbeitgeber fand. Im Unterschied zu Reichenauer war Jiránek ein Instrumentalist, der komponierte. Er komponierte nur Instrumentalmusik, das heißt Solokonzerte, Triosonaten, Sonaten, und zwar meistens für sein Instrument, für die Violine. Aber auch bei Jiránek finden wir Fagott-, Oboe- oder Flötenkonzerte.“

Ein Ausschnitt aus dem Flötenkonzert in G-Dur von František Jiránek, gespielt vom Collegium Marianum und Jana Semerádová beendet unsere heutige Sendung. Mehr Musik aus den beiden CDs von Anton Reichenauer und František Jiránek bringen wir in unserer Sendereihe MusikCzech im April.