„Es gibt noch Schätze zu heben"– Literaturwissenschaftler Zimmermann über den Prager Autor H. G. Adler

H. G. Adler

H. G. Adler, einer der wichtigsten deutschsprachigen Prager Autoren aus der Generation nach Franz Kafka und Max Brod, ist der Öffentlichkeit bis heute weitgehend unbekannt. Dabei hat er neben Romanen und Gedichten auch ein Standardwerk über das Konzentrationslager Theresienstadt verfasst, das bis heute kontrovers diskutiert wird. In diesem Jahr wäre H. G. Adler 100 Jahre alt geworden. Eine internationale Adler-Konferenz beschäftigte sich diese Woche mit Werk und Wirkung dieses nahezu vergessenen Autors. Veranstaltet wurde die Konferenz vom Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren und dem Goethe-Institut Prag; Initiator war Prof. Dr. Hans Dieter Zimmermann aus Berlin. Mit ihm hat Silja Schultheis gesprochen.

H. G.  (Hans Günther) Adler
Herr Professor Zimmermann, H. G. Adler wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, er ist also eine Generation nach Franz Kafka und Max Brod in Prag geboren und ist im Gegensatz zu ihnen einer der noch weitgehend unbekannten Prager deutschsprachigen Autoren. Stellen Sie uns ihn ein wenig vor, was ist das Besondere an H. G. Adler und seinem Werk?

„Adler ist 1910 in Prag geboren, 1988 in London gestorben. Er hat hier an der Universität studiert, stammt aus einer Prager deutschjüdischen Familie und kam in die Deportation, wie alle Prager Juden – zunächst nach Theresienstadt, dort hat er über zwei Jahre überlebt. Und er hat in dieser Zeit Aufzeichnungen gemacht, die der Rabbiner Leo Baeck für ihn aufbewahrt hat. Und daraufhin hat er ein großes dreibändiges Werk über Theresienstadt geschrieben nach dem Krieg, das jetzt auch auf Tschechisch erschienen ist. Adler hat überlebt und ist zurückgekehrt, also über Auschwitz und ein Arbeitslager im Harz. 1947 emigrierte er dann nach London. Er hat sozusagen beide Schicksale erlitten, die die Prager Juden erleiden mussten: Das eine sind die Deportation und das KZ, und das andere ist die Emigration. Er hat drei bedeutende Romane geschrieben. Zwei sind auch ins Tschechische übersetzt. Das eine ist ‚Eine Reise’ – ich vergleich das gern mit Jiří Weils ‚Leben mit dem Stern’ – eine Beschreibung der Entrechtung der Prager Juden durch die Nazi-Okkupation. Das zweite ist ‚Die unsichtbare Wand’ – der Versuch, nach dem Ende des Krieges wieder zurückzufinden in ein normales Leben. Und das dritte Buch ist ‚Panorama’, in dem er in zehn Bildern uns eigentlich sein ganzes Leben vor Augen führt und an diesem Leben auch, man könnte sagen, den Schrecken des 20. Jahrhunderts.“

Er war ein Chronist seiner Zeit, sein Werk über Theresienstadt – ‚Theresienstadt 1941-45’ - gilt bis heute als Standardwerk, in Fachkreisen wird darüber diskutiert. Wie kann es dann sein, dass er bis heute so wenig bekannt ist? H. G. Adler hat über sich selbst einmal gesagt, dass er wahrscheinlich der „erfolgloseste, unbekannteste und verkannteste deutschsprachige Autor" sei.

„Das Theresienstadt-Buch ist eines der früheren Bücher über ein Konzentrationslager. Es gibt bei uns in der Literatur noch ‚Der SS-.Staat’ von Eugen Kogon, der Buchenwald überlebt hat, das ist auch kurz nach dem Krieg erschienen. ‚Theresienstadt’ ist unter den Historikern bekannt und wird diskutiert, auch kontrovers diskutiert. Aber die Romane haben sich nicht durchgesetzt. Und ich muss Ihnen sagen, es ist mir auch ein Rätsel, ich weiß nicht warum. Eines ist die Emigration: Er war in London, weit weg vom deutschen literarischen Leben. Er war befreundet mit Heinrich Böll, der sich sehr für ihn eingesetzt hat. Elias Canetti hat ihn sehr gelobt. Aber es ist ihm nicht gelungen, einen Verleger zu finden, der sich auch für ihn einsetzt. Seine Bücher sind in kleinen Verlagen erschienen, die nicht die Mittel hatten, ihn groß durchzusetzen. Jetzt ist es immerhin Michel Krüger vom Hansa-Verlag, der sich für ihn einsetzt. Und ich hoffe, dass Adler den Platz erhält, der ihm zukommt. Ich weiß nicht, warum das bis jetzt nicht geschehen ist. Eine weitere Sache ist ganz sicher seine optimistische Lebenseinstellung. Das Überleben ist für ihn ein Geschenk. Und dieses Geschenk dient dazu, von dem zu zeugen, was geschehen ist, aber zugleich sich auch für das Leben zu öffnen und das Leben positiv zu sehen: Nach der Katastrophe geht das Leben weiter, so wie nach der Sintflut das Leben weitergegangen ist. Er hat nicht diese negative Haltung, vielleicht ist das auch ein Hindernis. Und seine Kritik am Nationalsozialismus ist eigentlich eine Kritik, die über den Nationalsozialismus hinausgeht, bis in unsere Zeit hinein. Er spricht vom ‚mechanischen Materialismus’ und er ist ein Kritiker dieses Materialismus, der unsere Zeit beherrscht, wie er sagt. Und das ist vielleicht auch etwas, das quersteht. Aber unabhängig von seiner ´Weltanschauung´: Die drei Romane sind große Werke der deutschen Literatur, da gibt es Seiten, die mit zu dem Brillantesten gehören, was ich in der deutschen Literatur gelesen habe. Und deshalb hoffe ich, er wird in Zukunft besser rezipiert als bisher.“

H. G. Adler: „Theresienstadt“
Was gibt es noch neu zu entdecken an Adler? Er selbst sagte einmal, seine Schubladen seien „voller ungedruckter Manuskripte“?

„Ja. Sein Nachlass ist in Marbach, im deutschen Literaturarchiv. Und da gibt es wirklich noch unveröffentlichte Romane. Ich muss gestehen, ich kenne die auch nicht. Immerhin ist jetzt in einem kleinen österreichischen Verlag ein Band mit seinen sämtlichen Gedichten erschienen, er hat nämlich auch Gedichte geschrieben. Da sind möglicherweise noch Schätze zu heben. Aber ich wäre schon zufrieden, wenn die drei veröffentlichten Romane zu Standardwerken der so genannten Holocaust-Literatur gehören würden.“



H. G. Adler inmitten seiner Bücher  (Foto: Aus dem besprochenen Buch,  Böhlau)
Das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren setzt sich ja dafür ein, dass die deutschsprachigen Prager Autoren wieder mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen. Macht es eigentlich heute in dieser globalisierten Welt noch Sinn, in deutschsprachige und nicht-deutschsprachige Autoren zu unterteilen? H. G. Adler selbst hat sich ja auch nicht so gerne einer bestimmten Gruppe zuordnen lassen?

„Ich denke, gerade im Sinne – ich will nicht von Globalisierung sprechen, aber von Europäisierung, Europäischer Union. Prag war ja einmal eine europäische Stadt. Es gab die Juden, die immer ein verbindendes Element waren zwischen den Deutschen und den Tschechen. Es gab die Deutschen – damals ungefähr fünf Prozent der Prager Bevölkerung: Das waren vor allem Juden, etwa zwei Drittel. Und es gab die große Mehrheit der Tschechen. Ich habe hier im Goethe-Institut zusammen mit Peter Demetz, der ja auch ein Prager ist, eine Konferenz gemacht über Rilke. Die hieß ´Rilke – ein europäischer Dichter aus Prag´. Vielleicht kann man das am besten in Rilke selbst verkörpert sehen. Rilke konnte natürlich Tschechisch. Er hat zu Hause mit seiner ´maminka´ französisch gesprochen, er war ein deutscher Lyriker, er hat tschechische Poeten verehrt, mit denen er als junger Mann auch korrespondiert hat. Er hat Russisch gelernt, er hat französische Gedichte geschrieben und er hat aus dem Englischen übersetzt. Und von diesem alten, sagen wir europäischen Flair, wieder etwas nach Prag zurückzuholen, das von den Kommunisten ja 40 Jahre unterdrückt worden ist – das sehe ich als eine Aufgabe des Literaturhauses. Also nicht nur die deutsche Verbindung, sondern diese Querverbindung wiederherzustellen. Die gibt es ja sowieso. Es sind Kaufleute in der Stadt, aus Deutschland und Amerika. Das internationale Leben ist ja wieder in die Stadt eingekehrt. Und es ist auch ganz gut, an die Tradition zu erinnern. Das ist in Prag nichts Fremdes, sondern das ist etwas, das in die Stadt gehört.“