Ende des Mythos: Tagungsband zeigt die vielen Seiten der Milena Jesenská

Foto: Verlag Aula

Sie war Journalistin, Übersetzerin, Feministin und Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus: Milena Jesenská, die 1944 im KZ Ravensbrück ermordet wurde. Trotzdem kennt sie die Weltliteratur in erster Linie als Adressatin von Kafkas Liebesbriefen. In der sozialistischen Tschechoslowakei war sie lange Jahre als „Trotzkistin“ verfemt, und wurde nur im Untergrund rezipiert. Ein neuer Tagungsband schließt nun wichtige Forschungslücken über Milena Jesenská. In der vergangenen Woche wurde er in Prag vorgestellt.

Milena Jesenská 1940  (Foto: Sicherheitsarchiv)
„Die Luft hier ist ganz herrlich. Ringsum Berge, sie stehen da, laschen und duften. Ich glaube, wenn ich wieder einmal frei sein werde, ertrage ich das Glück gar nicht. Ich grüße euch alle vielmals. Milena.“

Es waren die letzten Lebenszeichen: Die Briefe, die Milena Jesenská 1939 bis 1944 aus der Haft an ihre Tochter und ihren Vater schrieb. Die Freiheit hat sie nicht mehr erlebt, Milena Jesenská starb 1944 mit 47 Jahren im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. 2013 tauchten die Briefe in einem Archiv auf und haben der Forschung über Milena Jesenská neue Impulse gegeben. Der Tagungsband, der nun vollem Haus im Österreichischen Kulturforum in Prag vorgestellt wurde, versammelt die Beiträge einer Konferenz von 2014.

„Es macht mich glücklich, dass inzwischen bekannt ist, dass Milena nicht nur die Geliebte von Kafka gewesen ist, sondern auch eine literarische Persönlichkeit. Ich danke allen, die mit diesem Symposium und mit diesem Buch dazu beigetragen haben.“

Jan Černý ist Milena Jesenskás Enkelsohn. Er hat sie nie kennengelernt. Nun ist als Ehrengast nach Prag gekommen.

Jan Černý  (Foto: Petr Buček,  Archiv des Österreichischen Kulturforums)
„Es war ja zunächst so, dass über Milena weder in der damaligen Tschechoslowakei viel geschrieben oder gesagt wurde, sie war als Geliebte allenfalls eine Randnotiz. Mir hat es immer leidgetan, dass man sie darauf reduzierte. Gottseidank ist das mittlerweile anders.“

Der zweisprachige Tagungsband beleuchtet verschiedenste Facetten von Milena Jesenská. Petr Pithart etwa setzt sich mit ihren politischen Reportagen aus dem Jahr 1938, vor dem Münchner Abkommen, auseinander. Milena Jesenská beschreibt darin die Lage der Deutschen, die sich im Sudetenland gegen den Mainstream, also gegen Hitler stellten und lieber weiterhin loyale Bürger der Tschechoslowakei sein wollten.

In der Tradition der empathischen Frau

Alena Wagnerová stellt die Autorin in ihrem Vorwort in die Tradition der „empathischen Frau“ von der Jungfrau von Orléans über Božena Němcová bis Else Lasker-Schüler.

Tagungsband über Milena Jesenská von Pavla Plachá und Věra Zemanová  (Foto: Verlag Aula)
„Das sind Frauen, die sich ihrer traditionellen Rolle widersetzen und nach ihrem Herzen handeln, aber gleichzeitig auch sehr mutig und sehr rational. Das sind keine Phantastinnen, sondern sie setzen sich neben die Systeme, die den Frauen und den Menschen überhaupt bestimmte Ordnungen vorgeben. Das sind Frauen, die eigentlich einen Paradigmenwechsel machen, in ihrem persönlichen Leben.“

Lenka Penkalová wiederum spürt Milena Jesenskás publizistischen Anfängen in den 1920ern nach, und den damals neuartigen „Frauenseiten“ in tschechischen Zeitungen. Marie Jirásková widmet sich ausführlich der Rezeptionsgeschichte, es gibt eine Genderstudie und quellenreiche Abhandlungen zu Milena Jesenskás Verfolgung im Nationalsozialismus.

„Es hat sich gezeigt, dass sie nicht nur ein Thema für die Historiker ist, sondern auch für Politologen, sie ist immer aktuell.“

Die Historikerin Pavla Plachá. In ihrer Studie beschäftigt sie sich mit Jesenská als einer von tausenden tschechischen Häftlingen im KZ Ravensbrück. Gemeinsam mit Věra Zemanová hat sie den Tagungsband herausgegeben.

Pavla Plachá und Věra Zemanová  (Foto: Petr Buček,  Archiv des Österreichischen Kulturforums)
„Man konzentriert sich darin nicht nur auf ihre Biographie, auch der Umgang mit ihrer Person ist interessant. Anhand der Rezeption von Milena Jesenská schildert sich eigentlich die Geschichte der Tschechoslowakei nach dem Krieg. Denn in den ersten Jahren nach der Befreiung konnte man in der Tschechoslowakei ihrer gedenken, es sind einige Zeitungsartikel herausgegeben worden und ihre Mitgefangenen aus Ravensbrück haben sich an sie erinnert.“

Nach dem kommunistischen Umbruch 1948 war damit Schluss. Falls Milena Jesenská überhaupt erwähnt wurde, etwa in Abhandlungen zum KZ Ravensbrück, dann als Abweichlerin vom kommunistischen Kurs. Eine Phase der Annäherung folgte dagegen bald in der Literaturwissenschaft. 1963 auf der Kafka-Konferenz in Liblice wurde sie als Kafkas erste Übersetzerin zum Thema, die berühmten „Briefe an Milena“ erschienen 1968 auch in der Tschechoslowakei.

Julius Fučík  (Foto: Public Domain)
„Und nach dem Prager Frühling, nach dem Beginn der Normalisierung, konnte man über Jesenská erneut nicht sprechen. Sie wird zwar erwähnt, zum Beispiel in den Erinnerungen von Gusta Fučíková, Julius Fučíks Frau – aber immer als eine Trotzkistin, die sich gegen die Sowjetunion geäußert hat, was dann natürlich nicht geschätzt wird.“

Im Untergrund ging die Auseinandersetzung mit Milena Jesenská jedoch weiter. Ein wichtiger Text der tschechischen Rezeption stammt von Lumír Čivrný, einem Weggefährten Jesenskás aus dem Widerstand. Im Sammelband wird er erstmals auf Deutsch publiziert. Pavla Plachá:

„Lumír Čivrný kannte Milena Jesenská in seiner Jugend, er unterrichtete ihre Tochter bei ihr zuhause, und er wurde auch mit ihr verhaftet. Dieses persönliche Erlebnis der Verhaftung beschreibt er. Seine Erinnerung wurde in den 1980er Jahren veröffentlicht, aber natürlich nicht in der Tschechoslowakei, das ging damals nicht, sondern im Exil.“

Auf dem Regal ein Brief von Milena

Auch Jan Černý entdeckte die Bedeutung seiner Großmutter erst in der Emigration. Obwohl seine Mutter Jana Černá sich publizistisch mit Milena Jesenská auseinandersetzte, herrschte zuhause beinahe ein Tabu.

Jana Černá  (Foto: ČT Art)
„Meine Mutter hat hier und da erwähnt, dass ihre Mutter Milena war, aber hat nie gerne über sie erzählt. Wiewohl auf dem Regal ein Brief von Milena an ihre Tochter, also an meine Mutter stand – das war wie eine Ikone. Er war auf Deutsch geschrieben, wahrscheinlich aus dem Gefängnis. Ich konnte ihn damals nicht lesen, er war für mich nicht zugänglich. Also, es war da, aber meine Mutter hat nicht gerne davon erzählt.“

Erst später, da war Černy schon längst nach Deutschland emigriert und selbst Journalist, kam ihm die Großmutter wieder näher. 1984 erschienen beim Frankfurter Verlag „Neue Kritik“ erstmals Feuilletons von Milena Jesenská in deutscher Übersetzung. Černý entdeckte die Schriften von Margarethe Buber-Neumann, einer Mitgefangenen aus Ravensbrück, die Milena Jesenská bereits in den 1960ern ein Denkmal gesetzt hatte. Und es entstand der Kontakt zu Alena Wagnerová – der Biografin, die sich seit Jahrzehnten bemüht, Milena Jesenská von falschen Zuschreibungen zu befreien, und zwar im deutschen wie auch im tschechischen Sprachraum.

Franz Kafka
„Es hat mich geärgert, als ich nach 1990 gesehen habe, man betrachte Milena Jesenská in der tschechischen Tradition als die Freundin Kafkas. Das ist Unsinn. Das gab es bei uns nicht. Weil ja auch Kafka bei uns eigentlich sehr lange nicht rezipiert wurde, bis tief in die 1960er Jahre. Erst jetzt, denke ich, kommen diese zwei Linien zusammen, und Milena Jesenská wird in die Reihe der Frauen eingeordnet, die im Zusammenhang mit der zweiten Frauenbewegung entdeckt wurden – und ihr Beitrag zur Kulturgeschichte Europas.“

Über den neuen, sorgfältig edierten und reich bebilderten Tagungsband wird in Tschechien derzeit breit berichtet. Und auch ein gerade zum ersten Mal verliehener Journalistenpreis des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds trägt den Namen der Autorin. Was Milena Jesenská bis heute zu einem journalistischen Vorbild macht, lässt sich noch im Februar in einer tschechischen Gesamtausgabe erkunden. Für ihren Enkel Jan Černý ist es eine bestimmte Sichtweise, die das Werk von Milena Jesenská so besonders macht:

„Nachdem ich ihre Feuilletons gelesen hatte, habe ich die eine oder andere Idee in der Tat versucht aufzunehmen. Wie sie geschrieben hat, ihre Art. Sie hat ja in einer Art geschrieben, die in Deutschland in der Nachkriegszeit in der Journalistik nicht mehr gepflegt wird, es war sehr persönlich.“


Der Tagungsband „Milena Jesenská. Biografie, Zeitgeschichte, Erinnerung.“, herausgegeben von Pavla Plachá und Věra Zemanová, ist beim Verlag Aula erschienen. Er ist zweisprachig tschechisch-deutsch.

Autor: Annette Kraus
schlüsselwort:
abspielen