Ein Japaner auf den Spuren von Adalbert Stifter

Adalbert Stifter

Adalbert Stifter (1805 – 1868) war ein deutschsprachiger Heimatdichter aus dem Böhmerwald. Heutzutage ist er meist nur noch einem engen Kreis von Literaturliebhabern bekannt, vor allem in Österreich und Deutschland. Die Tschechen entdecken diesen Autor erst in den letzten Jahren so langsam wieder, sein Geburtshaus in Oberplan / Horní Planá ist gut besucht. Stifter wird jedoch auch Tausende Kilometer von seiner Heimat geschätzt, und zwar in Japan. Der Germanist Kazuhiko Ogawa befindet sich schon seit Jahrzehnten auf den Spuren Stifters in Mitteleuropa.

Kazuhiko Ogawa ist Dozent an mehreren japanischen Universitäten. Er bringt den Studenten Deutsch bei sowie europäische Geschichte, Kultur und Literatur. Darüber hinaus ist er auch im Verein für deutsche Wissenschaften aktiv. Die Japaner kennen die europäische Kultur offensichtlich besser als die Europäer die japanische. Namen wie Goethe, Nietzsche, Schweitzer oder Dürrenmatt sind zumindest den Intellektuellen in der fernöstlichen Industrienation durchaus vertraut. Mit Böhmen und Mähren verbinden sie vor allem die Komponisten Smetana, Dvořák und Janáček sowie die Schriftsteller Kafka und Rilke. Adalbert Stifter gehört auch in diese Reihe. Für Kazuhiko Ogawa ist dieser Böhmerwälder Heimatdichter schon seit Jahrzehnten das Lieblingsthema, für das er auch regelmäßig nach Mitteleuropa reist. Wie er verrät, wird an allen japanischen Universitäten in der Germanistik auch über Stifter gelehrt:

„Als ich noch Student war, haben wir zusammen im Seminar Adalbert Stifters ‚Bergkristall‘ gelesen. Das hat mich sehr interessiert. In unserem Lehrbuch waren auch einige Zeilen über Weihnachten aus dem ‚Bergkristall‘ zitiert. Stifters Weihnachten ist sehr schön. Mittlerweile kann man darüber nicht nur lesen, sondern auch in einem Bilderbuch blättern. Auf ganz einfache Weise lässt sich die Weihnachtszene dann verstehen. Aber nicht nur den Bergkristall, auch andere seiner Werke habe ich gelesen. Das war mir jedoch nicht genug. Ich wollte unbedingt Adalbert Stifters Geburtshaus oder das Denkmal für ihn besuchen. Damals bestand aber noch die kommunistische Tschechoslowakei. Dort konnte ich nicht so einfach hinreisen, wie heute in die Tschechische Republik.“

Verfilmung Bergkristalls mit Tobias Moretti
Der Bergkristall gilt als eine der schönsten Erzählungen Stifters. Sie dreht sich um zwei Geschwister, ein Mädchen und einen Jungen, die mit ihren Eltern in einem Dorf abgelegen im Wald leben. Die Familie lebt im Einklang mit der Natur, und hat ansonsten nur mit den Verwandten des Vaters im Nachbarort Kontakt. An Heiligabend werden die Kinder zu den Verwandten geschickt, um ein Geschenk zu übergeben und Weihnachtsgrüße zu übermitteln. Beim Heimweg verirren sich die Geschwister jedoch im Schneegestöber. Beide sind von den Natureindrücken überwältigt, sie hören das Eis krachen und sehen am Nachthimmel ein Nordlicht. Die Nacht verbringen sie frierend, aber staunend in einer Höhle. Bei Morgendämmerung brechen sie auf, um zurück auf den Heimweg zu finden. Ihre Eltern haben inzwischen bereits die Nachbarn alarmiert und sind zu den Verwandten des Vaters im Nachbarort gegangen. Weil auch dort die Kinder nicht aufzufinden sind, verbinden sich die Bewohner beider Gemeinden und suchen die Kinder gemeinsam. Zum Schluss treffen sich alle im Elternhaus. Das Ereignis bringt die Menschen aus beiden Dörfern näher und verbessert die gemeinsamen Beziehungen. Man könnte dies echte Romantik nennen oder vielleicht sogar Kitsch. Wodurch aber beeindruckt die Geschichte die Japaner so sehr?

Tokio  (Foto: Morio,  CC 3.0)
„Es gibt einige Parallelen zu Stifter in Japan: Wald, Berge, Seen und Natur. Gerade die Natur gefällt den Japanern sehr. Wenn ich jungen Leuten Fotos oder Bilder von Südböhmen zeige, dann rufen sie: ‚Ja, das ist schön, grünes Europa!‘ In Tokio beziehungsweise Japan gibt es sehr wenig Grün, stattdessen aber viele Autos. Dazu muss man in Tokio sehr hektisch arbeiten. Aber hier in Europa, besonders in Südböhmen, ticken die Uhren langsamer. Vor über hundert Jahren war es zwar ein bisschen anders, aber grundsätzlich hat sich wohl nicht viel geändert. Das gefällt nicht nur mir, sondern auch weiteren Japanern“, so Ogawa.

Berge und Wälder in Japan  (Foto: Tawashi2006,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Gerade die Unterschiede zwischen der japanischen und der böhmischen Natur, Kultur und Mentalität wirken wahrscheinlich auf die Leser in Ostasien so stark. In Japan nehmen Berge und Wälder zwar relativ viel Fläche ein, doch sind diese Gegenden meist unbewohnt und abgeschieden. Die Bevölkerung konzentriert sich in den Küstengebieten, deswegen ist die Siedlungsdichte ist sehr hoch. Mitten in der Natur, in der Waldeinsamkeit zu leben, das ist für Japaner nur schwer vorstellbar. Gerade dies bildet aber den Hintergrund von Stifters Werk. Dieser Künstler des Biedermeier schildert sowohl die Naturschönheiten, als auch die menschlichen Charaktere meisterhaft. Beides ist fest miteinander verwoben.

Das ist auch in der Erzählung „Der Waldsteig“ der Fall. Im Mittelpunkt steht ein Mann Namens Tiburius, der praktisch zum Hypochonder erzogen wurde. Er interessiert sich für Krankheiten, schlägt in Medizinbüchern nach und sucht nach Symptomen für diese bei sich selbst. Schließlich geht er fast nicht mehr aus dem Haus und verbringt seine Tage im Wohnzimmer. Eines Tages lernt er jedoch einen Heilpraktiker kennen, dieser sagt ihm, er solle heiraten, zunächst müsse er jedoch ins Bad gehen. Tiburius stimmt zu, als er aber von dort zu einem Spaziergang aufbricht, befindet er sich erstmals im Leben im Wald. Stifter beschreibt diese Szene so:

„Tiburius ging auf dem Pfade fort, der von allerlei Dingen eingefasst war. Manchmal lag die Moosbeere wie eine rote Koralle neben ihm, manchmal streckten die Preiselbeeren ihr Kraut empor und hielten ähnliche Büschel von rotwangigen Kügelchen in den glänzenden Blättchen. Die Bäume wurden immer dunkler und zuweilen stellte ein Birkenstamm eine Leuchtlinie unter sie. Der Pfad glich immer, die kommenden Stellen waren wie die, die er verloren hatte. Nach und nach wurde es anders, die Bäume standen sehr dicht, wurden immer dunkler, und es war, als ob von ihren Ästen eine kältere Luft herabsänke. Dies mahnte Herrn Tiburius umzukehren. … Nun wurde er ängstlich. Er begriff nicht, wie auf dem Rückwege so viele Bäume seien könnten. Er ging um vieles schneller und eilte endlich hastig. Er fing nun, was er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte, zu rennen an, aber der Pfad, den er gar nicht verlieren konnte, blieb immer gleich, lauter Bäume, lauter Bäume. Er blieb stehen und schrie so laut, als es nur in seinen Kräften war und als es seine Lungen zuließen. Er schrie mehrere Male hintereinander und wartete ziemlich lange. Aber er bekam keine Antwort zurück, der ganze Wald war still und kein Laublein rührte sich.“

Gerade auf diesem Waldsteig erlebt Stifters Held seine Bekehrung. Nach einer Zeit des Irrens gibt er jede Angst auf und spürt die heilende Kraft der Natur. In demselben Moment trifft er im Wald auf eine Frau, die Erdbeeren sucht - und Tiburius´ Leben ändert sich grundlegend.

Kritiker warfen Stifter vor, er habe das ländliche Leben im abgelegenen Grenzgebiet zwischen Böhmen, Österreich und Bayern idealisiert. Er sei ein typischer Romantiker seiner Zeit, der vor der Realität in eine paradiesische Welt flüchten wolle. Die Japaner sehen das jedoch offensichtlich anders. Während der letzten etwa 60 Jahren seien in seiner Heimat schon mehrere Übersetzungen von Stifters Werke erschienen, sagt Ogawa. Er selbst hat sich entschieden, auf den Spuren von Witiko aus Stifters gleichnamigem Roman zu reisen.

Wittinghausen  (Foto: Spalletti,  CC BY-SA 3.0)
„Einige Stücke muss ich vielleicht zu Fuß gehen, aber andere Stücke möchte ich, wenn es möglich ist, auf dem Rad zurücklegen. Wie Witiko Pferd zu reiten, ist hingegen heutzutage nicht einfach. Ich habe schon einige Orte besucht, beispielsweise Witikos Denkmal in Wittinghausen und natürlich Prag, aber dazwischen nichts.“

Witiko ist die Hauptfigur des historischen Romans und der Gründer des Adelsgeschlechtes der Witigonen. Stifter beschreibt in seinem Buch unter anderem eine Fahrt Witikos von Wittinghausen nach Prag über einige Städte Böhmens. Der Roman ist das umfangreichste Werk Stifters, er erschien in drei Bänden; der Autor starb jedoch, noch bevor er sein Buch vollenden konnte.

Horní Planá / Oberplan  (Foto: Jan Dudík,  Wikimedia Free Domain)
Die Handlung ist im 12. Jahrhundert angesiedelt, unter anderem auf der Burg Wittinghausen, mitten im dichten Wald nahe der österreichischen Grenze. Zu Stifters Zeiten war sie Burg bereits zerstört, doch die Ruine faszinierte den Künstler, heute zählt sie zu den Wahrzeichen der Gegend.

Das Geschlecht der Witigonen ist historisch belegt, es gehörte im Mittelalter zu den einflussreichsten im Land und stand im Dienste des böhmischen Königshofes. Die meisten der Romanfiguren gab es wirklich, ihre Schicksale sind jedoch reine Erfindung. Für den Haupthelden, der in Stifters Heimatort Oberplan / Horní Planá ein Gut besessen haben soll, stand Witiko von Prčice Pate.

Stifter-Zentrum in Horní Planá  (Foto: Archiv des Stifter-Zentrums)
Kazuhiko Ogawa folgt nicht nur den Spuren von Stifter, sondern auch von Franz Kafka und Rainer Maria Rilke, also weiteren deutschsprachigen Schriftstellern aus Böhmen. Und er hört auch gerne Volkslieder der Gegend. Ogawa möchte sie auch singen können, aber die tschechische Sprache findet er bisher noch zu schwer:

„Ich habe im Stifter-Zentrum in Horní Planá einen tschechischen Sprachkurs gemacht. Zuerst schlug ich ein paar Sachen im Internet nach, und dann habe ich gefragt, ob ich als Japaner, der Deutsch spricht, an diesem Kurs teilnehmen könnte. Das wurde bejaht, und dort habe ich echtes Tschechisch gelernt. Also: Dobrý den, jsem Kazuhiko Ogawa z Japonska, mluvím česky, ale trochu. To je všechno.“ („Guten Tag, ich bin Kazuhiko Ogawa aus Japan. Ich spreche Tschechisch, aber nur ein bisschen. Das ist alles.“)