Die Grenzen zwischen Kunst und Dokumentation aufbrechen: Der Fotograf Karel Cudlín

Karel Cudlín (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Karel Cudlín zählt zu den Großen in der tschechischen Fotografie. Er hat sich bisher vor allem als Dokumentarfotograf einen Namen gemacht. Mit seinen Bildern erzählt er über Roma-Siedlungen und den Abzug der sowjetischen Truppen, er hat hielt Russland und den Kaukasus festgehalten – und, als Leibfotograf Václav Havels, auch die gesellschaftlichen Umwälzungen im Tschechien der 1990er Jahre. In Cudlíns Werk werden aber ebenso Grenzen der Fotografie deutlich: die Grenze zwischen Kunst und Faktum oder zwischen Zufall und Komposition. Strahinja Bucan porträtiert den Künstler in einer neuen Ausgabe des Kultursalons.

Karel Cudlín  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Als Künstler verkörpert Karel Cudlín die Kontinuität. Bei ihm sind die Grenzen zwischen Biografie und Gesamtwerk, aber auch zwischen Alltag und Kunst verschwommen. Eigentlich hört er nicht auf zu fotografieren und Kunst zu machen:

„Natürlich bin ich manchmal mutig und gehe ohne meine Kamera auf die Straße. Heute ist es ja sowieso nicht mehr so schlimm, da wir alle fotofähige Handys und Ähnliches haben. Dennoch bemühe ich mich, das Haus immer mit meinem Fotoapparat zu verlassen. Man weiß ja nie, was einen auf der Straße erwartet. Sonst würde ich am Ende noch das beweinen, was ich nicht auf Foto eingefangen habe oder einfangen hätte können.“

Cudlíns Foto von Žižkov  (Foto: ČT24)
Karel Cudlín wurde 1960 in Prag geboren. Genauer gesagt, im damals recht heruntergekommenen Arbeiterstadtteil Žižkov. Zeitlebens prägte ihn dieses besondere Gefühl, gerade daher zu kommen. Die Atmosphäre des Glasscherbenviertels verfolgte Karel Cudlín in seinem Studium der Sozialwissenschaften und auch in der Wahl seiner Motive.

Der Rand der Gesellschaft war lange Zeit das dominanteste Motiv in den Arbeiten von Karel Cudlín. Er versuchte immer, diejenigen auf Celluloid festzuhalten, von denen man gewöhnlich wegschaut. Und auch Situationen einzufangen, die unangenehm sind und dennoch eine wichtige Rolle im Leben spielen.

Welt der Roma  (Foto: ČT24)
Schon im Studium Ende der 1970er Jahre entwickelte er eine Faszination für die Welt der Roma. Es sei ein Thema, das in bis heute verfolge und immer wieder zu ihm zurückkehre, so Cudlín. Mit der politischen Wende in der Tschechoslowakei entdeckte er neue Themen für sich, die aber an das soziale, politische und brisante seiner Erstlingswerke anknüpfen. Er selbst jedoch möchte sich nicht uneingeschränkt als Darsteller sozialer Probleme sehen. Karel Cudlín möchte keine „sozialen Reservate“ für andere gesellschaftliche Kreise dokumentieren:

Foto von Karel Cudlín  (Foto: Katerina Ajspurwit)
„Vor allem meine Bilder, die im postsowjetischen Raum entstanden sind, waren eher eine Rückkehr für mich. Und zwar in eine Zeit, die ich eigentlich nicht erlebt habe. Zum Beispiel traf ich in den Dörfern dort auf Dinge, die ich sonst nur aus den Erzählungen meiner Großeltern oder Eltern kannte. Dort aber waren sie authentisch vorhanden und noch in den 1990er Jahren erlebbar. Ich würde nicht sagen, dass meine Fotografien gezielt soziale Themen darstellen. Sie zeigen eigentlich, ich sage das hier bewusst in Anführungszeichen, das normale Leben.“

Der einfache Mensch als Objekt

Foto von Karel Cudlín  (unten). Foto: Katerina Ajspurwit
Dadurch, dass Karel Cudlín den normalen und alltäglichen Lauf der Dinge abbildet, wird gerade ein bestimmendes Motiv deutlich: der Mensch. Durch die Nähe zu seinen Modellen spielt auch ihr Vertrauen für den Fotografen eine große Rolle. Aber auch das richtige Gespür für die nötige Distanz zum Objekt. Ob nun zu den sowjetischen Soldaten oder ganz einfach in einer Prager Arbeiterkneipe:

„Selbstverständlich treten Probleme auf, und es gibt da so ein System der non-verbalen Kommunikation, das jedem Foto vorangeht. Natürlich hat mich in schwierigen Situationen niemand zusammengeschlagen oder so. Aber es gibt solche Augenblicke, die unangenehm sind und in denen man einfach nicht fotografiert. Viele Momente sind mir so entgangen. Ich habe dabei oft gespürt, dass ich einen sehr intimen Augenblick stören würde oder dass mein Fotografieren einfach unpassend wäre. Eigentlich passiert so etwas jeden Tag.“

Fotogeräte von Karel Cudlín  (Foto: ČT24)
Die Kommunikation ist ein Grundelement in der Arbeit des Fotografen. Er muss aber auf einem schmalen Grat wandern, um die Natürlichkeit eines Augenblicks beizubehalten. Auf der anderen Seite hat gerade die Absprache zwischen Künstler und Objekt, die jeder Fotografie vorausgeht, ihren eigenen Reiz:

„Bei meinen Bildern handelt es sich meist nicht um Schnappschüsse von der Straße oder von Großveranstaltungen. Bei denen bleibt natürlich keine Zeit, mit den Menschen über den Sinn der Arbeit zu reden. Der Großteil meiner Bilder ist eigentlich über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden. Und das auch in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, die ich nicht zum ersten Mal besucht habe. Die Kommunikation dabei ist meist auch unglaublich interessant. Man erfährt eine Menge an Dingen und hört ganz besondere Geschichten.“

Die Kunst im Wandel der 1990er Jahre

Plakat zur Ausstellung über Václav Havel
Eine prägende Zeit waren für Karel Cudlín die 1990er Jahre. Es war nämlich eine Zeit des Umbruchs, die er als Fotograf nicht nur erleben, sondern auch haargenau dokumentieren konnte. Was ihm dabei half, war die enge Verbindung zum damaligen tschechoslowakischen und später tschechischen Präsidenten Václav Havel. Cudlín wurde zu einem gewissen Maß zum Hoffotografen Havels und konnte ihn auf Schritt und Tritt verfolgen:

„Natürlich war es fantastisch, diese fünf oder sieben Jahre als offizieller Fotograf von Präsident Havel zu arbeiten. Es war insgesamt eine Zeit, die sich so nicht mehr wiederholen wird. Vor allem weil ich von großen Persönlichkeiten umgeben war und dies auch dokumentieren konnte. Dabei meine ich natürlich nicht nur den damaligen Präsidenten, sondern auch die Menschen, die um ihn herum waren. Bis heute habe ich zu einigen ein wirklich enges Verhältnis. Auch von der Fotografie her war es damals eine sehr interessante Zeit. Ich bin an Orte gekommen, die ich so sicher nicht mehr betreten werde – ob das nun irgendwelche Präsidentenpaläste im Osten oder irgendwo in Amerika waren.“

Foto: Offizielle Facebook-Seite von FAMU
Gerade die Auseinandersetzung Karel Cudlíns mit sozialen Fragen oder seine Tätigkeit als Fotograf Václav Havels sind mit einem grundsätzlichen Problem verbunden. Es ist die Frage nach der Fotografie als Kunst oder Produkt. Karel Cudlín selbst versucht diese Grenze zu überwinden mit einer Mischung von persönlichen Vorlieben und der Zweckmäßigkeit bei der Auswahl seiner Motive. Er klammert hier bewusst Auftragswerke aus. So war er vor seinem Studium an der Filmhochschule Famu als kommerzieller Fotograf tätig und lichtete gymnasiale Abschlussfeiern ab oder machte Auftragsporträts. Die Verbindung von Leidenschaft und Arbeit kam aber mit seinem späteren Selbstverständnis als Dokumentarist:

Zyklus über den Abzug der sowjetischen Armee  (Foto: Katerina Ajspurwit)
„Jeder Werkszyklus war auf seine Art interessant und einzigartig. Wenn man 19 oder 20 ist, faszinieren einen natürlich die Prager Tanzhalle Lucerna oder generell Bälle. Man ist dabei vom Alter her ja mittendrin. Bei meinem Zyklus über den Abzug der sowjetischen Armee war das wieder anders. Da habe ich mir so einiges bewusst gemacht. Auch die Bilder, die ich im Osten gemacht habe, haben eine eigene Bedeutung. Es war eindrucksvoll, das Auseinanderfallen eines Imperiums beobachten und dokumentieren zu können. Im Grunde kann ich nicht sagen, dass irgendein Zyklus der wichtigste in meinem Schaffen war. Jedes Werk hat seinen eigenen zeitlichen Kontext und damit seine eigene Bedeutung.“

Foto von Karel Cudlín  (Foto: svajcr,  CC BY-SA 3.0)
Das versuchte der Künstler auch immer, seinen Studenten an der Filmhochschule zu vermitteln, wo er eine Zeit lang Fotografie unterrichtet hat. Jeder müsse den Zugang zur künstlerischen Arbeit und zu den Motiven allein für sich finden.

Grenzen im Journalismus und neue Technologien

Vor allem die journalistische Fotografie sieht Cudlín dabei als Spannungsfeld zwischen Kunst und Auftrag. Auf der einen Seite liege der Reiz darin, dass ein Bild entstehen müsse und dieses auch noch nach etwas aussehen sollte. Der Betrachter erwarte ja eine gewisse Qualität, so Cudlín. Allerdings sei die journalistische Fotografie kein künstlerisch freies Schaffen. Technisch komponierte Motive und Bilder stören ihn allerdings nicht:

Karel Cudlín  (Foto: Prokop Havel,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Die Komposition eines Bildes ist eigentlich ein unabdingbares Bauelement der Fotografie. Sie ist sehr wichtig, wenn man ein Foto ansehen und sich auch einfühlen können soll. Eigentlich ist die Komposition auch das, was die Kunst der Fotografie ausmacht. Ich persönlich achte aber nicht immer auf die Komposition. Ich gehe nicht durch die Gegend und sage mir: ‚Oh, hier ist er, der Goldene Schnitt!‘ Vielmehr kommen meine Bilder intuitiv zustande und durch eine geschickte Auswahl der fertigen Fotografien.“

Karel Cudlín hat zudem keine Angst vor neuen Herangehensweisen an seine Kunst. Sein Werk ist geprägt von Veränderungen, denn seine Motive sind durchweg im Wandel. Manchmal finde er es auch schade, dass einige Zyklen unwiederbringlich abgeschlossen seien, wie seine Reihe über den Abzug der sowjetischen Truppen aus der Tschechoslowakei, so Cudlín. Umso glücklicher ist er um Motive, die kein Ende finden, wie beispielsweise das Leben im Kaukasus, das er ebenfalls dokumentiert. Angst vor neuen Techniken in seiner Kunst-Disziplin hat Karel Cudlín indes nicht:

Zurzeit sind Bilder von Karel Cudlín in der Prager Galerie Václava Špály zu sehen. Die Ausstellung läuft noch bis Ende August.

„Für mich war die digitale Fotografie ein kompletter Umbruch, und ich musste mein Handwerk eigentlich noch einmal neu erlernen. Die Einfachheit der digitalen Fotografie macht sie ja gerade kompliziert: Auf einmal hat man Milliarden von Bildern in der Hand. Im Grunde ist die technologische Entwicklung aber fantastisch.“