"Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur"

"Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur". Schon der Titel und der Untertitel des Buches, das wir Ihnen nun vorstellen möchten, deuten an, was man darin wohl finden kann. Genauer erfahren Sie das im Kultursalon, den Markéta Kachlíková für Sie gestaltet hat.

"Wien - keine beliebige Großstadt, sondern bis 1918 auch Hauptstadt der Tschechen mit einem hohen Anteil von Einwohnern aus den böhmischen Ländern und nach 1968 für viele Tschechoslowaken Ort des Exils - war seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich der Zustrom tschechischer Arbeitskräfte verstärkte, ein in der tschechischen Literatur wiederkehrendes, dessen ungeachtet aber sporadisches und oft nur gestreiftes Thema." Mit diesen Worten leitet die österreichische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Christa Rothmeier ihr Buch namens "Die Entzauberte Idylle" ein, das in dem gerade ausgehenden Jahr im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde. Was man im Sammelband findet, danach haben wir die Herausgeberin selbst gefragt:

"Diese Anthologie heißt im Untertitel '160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur'. Inzwischen sind das sogar 170 Jahre, denn die Anthologie beginnt bei Karel Hynek Mácha und endet bei Jirí Grusa, der bekanntlich Botschafter der Tschechischen Republik in Wien war. Die Anthologie, die aus einem Forschungsprojekt der österreichischen Akademie der Wissenschaften hervorgegangen ist, rekonstruiert das Bild Wiens in der tschechischen Literatur in literarischen Texten, ausgenommen das Theater. Das wäre dann zu lang geworden. Auch so ist die Anthologie zumindest doppelt so umfangreich als geplant."

Die Anthologie, die mehr als 700 Seiten umfasst, trägt den Namen "Die entzauberte Idylle". Was findet man Idyllisches in der Darstellung der Donau-Metropole in tschechischen Literaturtexten und wo kommt es zur Entzauberung? Wie hat sich eigentlich das Bild Wiens im Laufe der Jahrzehnte entwickelt?

"Der Titel rührt daher, dass besonders im 19. Jahrhundert in den Kronländern der Monarchie, und dadurch eben auch in den böhmischen Ländern, die Fama von Wien als einem Eldorado, also als einer Glück verheißenden Stadt verbreitet war und zahlreiche Menschen, die relativ unbemittelt waren, angelockt hat. Sie haben sich von Wien Arbeit und Wohlstand erhofft, und wurden dann meistens durch die sozialen Zustände in der Großstadt entzaubert. Was aber die Tschechen besonders entzaubert hat, waren nationale Vorurteile. Daher habe ich das Buch 'Die entzauberte Idylle genannt'."

Karel Klostermann: Dem Glück nach

"'Gevatter', ließ der erste sich wieder vernehmen, 'Sie zürnen mir hoffentlich nicht, wenn ich Sie frage, ob Sie nicht irgendein Wirtshaus kennen. Wir sind heute von Jedlesee herüber marschiert, wir sind ganz durchfroren, am meisten die Kinder. Sie wissen schon, es soll nicht teuer sein - ein bisschen Suppe, das ist alles. Brot haben wir noch aus Böhmen. Wissen Sie, wir suchen Arbeit. Angeblich wird hier viel gebaut, man erzählt, es wird was zu verdienen. Bei uns schuftet...'

'Natürlich', antwortete der Schäbige, `zu verdienen gibt es hier genug. Wenn noch tausendmal soviel von Euch kämen, alle werden ihr Euer Auskommen finden. Ich sag´ Euch: Man ist ein Böhme und Patriot, aber Wien ist Wien.`"

In der Anthologie wird weiter verfolgt, ob sich eine derartige Entzauberung auch im 20. Jahrhundert belegen lässt.

"Ich stelle verschiedene historische Wien-Bilder dar, anhand von ausgewählten Texten und signifikanten Passagen aus diesen Texten. Im 19. Jahrhundert und vor allem um die Jahrhundertwende, und besonders bei dem Dichter Josef Svatopluk Machar, der 30 Jahre in Wien gelebt hat, hat sich geradezu eine Abneigung gegen Wien, die Stiefmutter entwickelt."

Josef Svatopluk Machar: Sonett über mein Fegefeuer

Josef Svatopluk Machar  (Foto: CTK)
Bedrückend, ungemütlich, bang ist´s dem Poeten

In dieser Heimstatt plumper Banalität,

von deren Odem alles hier beseelt, die missrat´nen

Monumente, der Dome ironische Majestät.

Hunderte Titulaturen, Karrieristen allerlei

Und arme Wichte, Börsenspekulanten sie beherbergt,

dumm aufgeblasen in den Gesten, so beredt,

und nirgends auch nur eine Spur von Herzlichkeit...

In eine stille Gasse hier verdammt,

hab'in einer eisig kalten, grauenhaften Kammer

ich meine Nächte ... den grässlich langen Winter zugebracht...

Vom Fenster klang der Telephondraht ins Zimmer mir herein,

an den Mauern rüttelte wütend der Wind mit seinem Gejammer,

und das Gaslicht draußen warf einen gelblichen Schein...

Nach 1918, nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik wurde Wien konzilianter bewertet, und zwar in zurückblickenden Memoirenwerken. Zu einem wirklich einschneidenden Wandel ist es aber erst später, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gekommen.

"Das sieht man bereits 1960 an der Erzählung von Jan Werich, die den deutschen Titel 'Wien bleibt Wien' trägt, und in der die einstigen Hassgefühle oder besser die einstige Abneigung und die Vorurteile gegenüber der Stadt relativiert werden."

Jan Werich: Wien bleibt Wien

"Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach der Abtrennung von der Stiefmutter Wien, kann mich niemand einer österreichisch-monarchistischen Gesinnung verdächtigen, wenn ich erkläre, dass Wien und Prag vieles gemeinsam haben, und ich eben deswegen Wien mag. Die gemeinsame Zunge. Durchaus nicht die, mit der man spricht. Die, mit der man schmeckt. Beuschel auf Wiener Art, kennen Sie das? Oder Wienerschnitzel, Wiener Gulasch? Und das Theater, die Oper, die Kaffeehäuser und die Weinlokale. Und wenn es Leute gibt, denen ein gutes Essen nichts sagt, dann sollen sie sich einen Tafelspitz mit Essigkren gönnen, statt einer Mehlspeise mit der Tramway über die Mariahilfer Straße fahren, wo man mit dem Schaffner tschechisch reden kann. Das ist bei mir kein Ausland mehr, das ist Wien, nämlich eines von vielen Wien, denn es gibt mehrere Wien, damit haben wir begonnen."

Christa Rothmeier hat auch eine Erklärung für diesen Wandel in der Darstellung Wiens:

"Das hing auch damit zusammen, dass damals ein intensiver Kulturaustausch zwischen Österreich und der Tschechoslowakei sich angebahnt hat, vermittelt von österreichischen kulturellen Institutionen wie der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, so dass viele tschechischen Literaten und Kulturtreibende nach Österreich und vor allem nach Wien kamen. Hrabal war darunter, aber das bekannteste Beispiel sind Josef Hirsal und Bohumila Grögerová, die das auch in ihren Memoiren 'Let let' (auf Deutsch 'Im Flug der Jahre') dokumentieren."

Josef Hirsal, Bohumila Grögerová: Im Flug der Jahre August 1968

Josef Hirsal  (Foto: CTK)
"- die Hilfe, die uns die Österreichische Gesellschaft für Literatur angedeihen ließ, war wirklich großzügig. Dr. Wolfgang Kraus, der Leiter, bot mir ein monatliches Stipendium in der Höhe von 2.500 Schilling an. In der Herrengasse 5 stellte man uns Tschechoslowaken ein Büro mit Schreibmaschinen und Telefon zur Verfügung. - Heidi Döhl sagte mir, Reinhard sei auf dem Weg nach Wien. Nach ein paar Stunden kam er in der Gesellschaft von Jandl und Mayröcker. Döhl versuchte, uns zu überreden, nach Stuttgart mitzukommen, und versprach uns finanzielle Hilfe. Sein Angebot konnten wir aber nicht annehmen, was würde aus unseren Familien werden? ... Eines Tages erhielten wir die Nachricht, alle tschechoslowakischen Staatsbürger mögen sich in einer Halle in der Nähe der Universität einfinden. Der Saal war voll, und das Fernsehen versuchte, sensationelle Aufnahmen zu ergattern. Aber niemand, nicht einmal der prominente Schauspieler Jan Werich, wollte vor die Kamera. Das hätte uns in der Tschechoslowakei so manche Schwierigkeiten einbringen können, also zogen wir unverrichteter Dinge wieder ab -"

"Das letzte Bild Wiens schließlich hat sich in der Gruppe der 68er Emigranten, besser gesagt der Exilanten aus dem Umkreis der Charta 77. Ich würde sagen, dass man auch dort feine Entfremdungsgefühle, die von der Stadt ausgelöst wurden, verspürt, dass aber doch die Dankbarkeit vorherrscht, dass sie einen Fluchtort in Wien gefunden haben. Man könnte fast sagen, dass die Entzauberung bei ihnen in der Heimat stattgefunden hat. Während im 19. Jahrhundert die Heimat für die Leute die Idylle, sobald sie erst einmal in Wien waren.. D.h. ich vermute, dass die Abneigungsgefühle gegenüber Wien entstanden sind aus einer zu großen Nähe. Und das relativiert dann diese Gefühle bereits wieder, denn solche Abneigungsgefühle aus zu großer Nähe entstehen auch innerhalb des eigenen Volkes."

Jirí Grusa: Glücklich heimatlos

"Wir sind uns also ähnlich, mehr als uns lieb ist. Aber die Nähe trennt! Ein `ceský Nemec`, ein Böhme also namens Karl Kraus, der später in Wien berühmt wurde, gefragt, was die Deutschen von den Österreichern trennt, hat erwidert: die gemeinsame Sprache. Ich bin bemüht, diesen Satz zu variieren: Was trennt die Österreicher von den Tschechen? Der gemeinsame Charakter."