Das Tschechische auf dem Weg von der Bibelsprache in die globalisierte Welt von heute

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag

Die Sprache ist ein Kulturgut jedes Volkes. Für Tschechen hat sie früher sogar eine existenzielle Rolle gespielt. Heute, in unserer globalisierten Welt, sind Sprachen generell Einflüssen jeder Art ausgesetzt, die man früher nicht gekannt hat. Auch das Tschechische erlebt seit 20 Jahren einen permanenten Wandel. Welcher Bogen wurde dabei seit dem Beginn der modernen Sprachentwicklung geschlagen?

„Tschechisch-Deutsches Wörterbuch“ von Josef Jungmann | Foto: Archiv des tschechischen Kulturministeriums
Gemessen an der Zahl der Sprecher gehört Tschechisch zu den sogenannten kleinen Sprachen. Doch dies scheint nicht der Grund zu sein, warum viele Tschechen über die jüngste Entwicklung ihrer Muttersprache beunruhigt sind. In den öffentlichen Debatten der letzten 20 Jahre ist nicht selten auch von einer Zerstörung des Tschechischen die Rede.

In der Sprache sei die Nationalität enthalten, schrieb seinerzeit der bekannte tschechische Philologe Josef Jungmann. Sein „Tschechisch-Deutsches Wörterbuch“ mit 120.000 Stichwörtern erschien in den 1830er Jahren. Es gilt als einer der Grundsteine für die moderne tschechische Schriftsprache. Markéta Pravdová vom Institut für tschechische Sprache in Prag:

Markéta Pravdová  (Foto: Marián Vojtek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Während der sogenannten nationalen Wiedergeburt wollte man sich als eine neuzeitliche Nation etablieren. Eine eigene Muttersprache war dafür eine der Voraussetzungen. Ohne dass ich die damalige Bewegung glorifizieren oder als minderwertig abtun möchte, glaube ich: Man würde heute hierzulande Tschechisch und Deutsch sprechen oder sogar nur Deutsch, wenn es diese Bewegung nicht gegeben hätte.“

Schriftsprache hinkt 200 Jahre hinterher

Karel Oliva  (Foto: Annette Kraus)
Die Geburt der neuzeitlichen Sprache ist allerdings von einem eigenartigen Spezifikum gekennzeichnet. Nach Meinung von Karel Oliva, Leiter des „Instituts für tschechische Sprache“, lag von Anfang an eine Kluft zwischen der Umgangs- und der Schriftsprache. Und dies hätten die Protagonisten der nationalen Wiedergeburt den Tschechen eingebrockt. So der Sprachexperte in einem Interview für die Tageszeitung „Lidové noviny“.

„Am Beginn der Wiedergeburtsbewegung war Tschechisch vor allem die Kommunikationssprache der sozial schwächeren Bevölkerungsschichten im ländlichen sowie urbanen Raum. Die Sprache wurde deswegen – vielleicht auch zu Unrecht – als heruntergekommen empfunden. Man suchte daher nach einer Hochsprache und fand sie in der sogenannten Kralicer Bibel – im 16. Jahrhundert also. In der Sprachentwicklung bedeutete dies aber einen Schritt um zweihundert Jahre zurück. Die mündliche Sprache war damals schon viel weiter fortgeschritten. Diese Lücke zu schließen, ist bis heute nicht gelungen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die tschechische Schriftsprache selbstverständlich verändert, aber parallel dazu hat sich auch die Umgangssprache weiterentwickelt. Und so ist die Kluft bestehen geblieben.“

Illustrationsfoto: greeblie,  CC BY 2.0
Die größten Veränderungen betreffen dabei den Wortschatz. Laut Sachkennern entstehen jährlich rund 700 neue Wortbildungen im Tschechischen. Größtenteils sind es Entlehnungen aus anderen Sprachen, insbesondere aber aus der englischen Globalsprache. Teilweise werden die Lehnwörter mehr oder weniger an das Tschechische angepasst, viel häufiger werden sie aber in originalgetreuer Form übernommen. Die mit diesen Wörtern gespickte Managersprache ist längst auch in die Umgangssprache eingedrungen. Das betrifft die Medien und selbstverständlich auch die Jugend. Viele Tschechen, insbesondere die älteren, verfolgen diese Entwicklung mit großem Missmut.

Rockgruppe Chinaski  (Foto: YouTube)
„Ich bin der Leiter, ich bin der King, ich will euer „fídbek es sůn es posibl“, (feedback as soon as possible, Anm.d.R.). So parodiert die beliebte Rockgruppe Chinaski in einem Lied die vielen Anglizismen und den „coolen“ Jugendslang.

Klagen über den Niedergang der Sprache

Auf die häufige Kritik an der Verwendung von Fremdwörtern nicht nur in der Fachsprache reagiert der Leiter des Instituts für tschechische Sprache gelassen:

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
„Es handelt sich um eine eher laienhafte Betrachtungsweise. Die Sprache ist, fachlich gesehen, ein gesellschaftliches Phänomen, und als solches absorbiert sie auch neue Impulse von außen. Während in der Zeit vor der politischen Wende alles irgendwie eingefroren war, ist nach 1989 alles in Bewegung geraten. Im Schritt mit technologischen Neuerungen und dem gesellschaftlichen Wandel entwickelt sich logischerweise auch die Sprache. Über neue Prozesse, Arbeitsmethoden, Produkte und Informationen will man auch hierzulande sprechen können. Dafür brauchen wir neue Begriffe. Es wäre natürlich möglich, tschechische Wortneubildungen zu verwenden. Meiner Meinung nach ist es aber besser, den jeweiligen Begriff aus der Fremdsprache zu übernehmen und erst dann eventuell ein geeignetes tschechisches Pendant zu bilden.“

Kontroverse „Fremdwörter“  (Illustrationsfoto: Cory Doctorow,  CC BY-SA 2.0)
Die kontroversen „Fremdwörter“ sind allerdings nur eines der viel diskutierten Themen hierzulande. Ein anderes sind zum Beispiel die Vulgarismen, die inzwischen auch Eingang in die öffentliche Kommunikation gefunden haben – inklusive der Politszene. Einen allgemeingültigen Schluss über die Qualität der tschechischen Sprache will Sprachwissenschaftlerin Radová aber nicht ziehen:

„Im öffentlichen Diskurs besteht in der Tat auch die grob beleidigende Ausdrucksweise. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass die Sprache als solche besser oder schlechter geworden ist. Was sich verändert, ist hingegen das kulturelle Niveau der jeweiligen Sprecher. Noch vor 20 oder 30 Jahren war es kaum möglich, sich grob oder sogar vulgär in der Öffentlichkeit zu äußern. Nach der politischen Wende kam es hierzulande in den 1990er Jahren zu einem Wandel der Gepflogenheiten. Das betraf auch die Beziehung zur Sprache sowie die Vorstellung davon, was man in der Öffentlichkeit sagen kann und was nicht – oder aber welche gesellschaftlichen Normen eingehalten werden sollten.“

Sprachwissenschaftler raten von häufigen Reformen ab

Großschreibung der geografischen Bezeichnungen  (Foto: ČT24)
Viele Tschechen berufen sich auf die Notwendigkeit, bestimmte Sprachregeln zu kodifizieren. In diesem Kontext äußerte sich Karel Oliva in einem Online-Austausch mit Lesern der Tageszeitung Mladá fronta Dnes kurz und bündig:

„Nur keine Gewalttaten und keine künstlichen Sprachexperimente, bitte!“

Seine Worte deuten auch auf die Rechtschreibreform von 1993. Unter anderem ging es um die Großschreibung der Namen von Institutionen und geografischen Bezeichnungen. Die Reform hat das ursprüngliche Chaos nämlich nicht beseitigt. Und selbst Menschen mit höherer Bildung knabbern weiter schwer daran, wie sich im vergangenen Jahr bei einer breitangelegten Umfrage herausgestellt hat. Als radikalen Einschnitt in die Rechtschreibung wurde auch die neue Schreibweise von Wörtern empfunden, die sich bis dahin wahlweise mit ‚s‘ oder ‚z‘ im Wortstamm schreiben ließen. Seit 1993 ist nur noch eine der beiden Varianten zulässig, und das führte zu Unmut in der Öffentlichkeit. Ein Jahr später kam es schon zu einer Neuregelung, die die vorherige Änderung etwas relativierte.

Nach Meinung von Karel Oliva sollten die Regeln der tschechischen Schriftsprache nur einmal pro Generation geändert werden.

Modernes Tschechische als Stein des Anstoßes

Foto: Verlag Karolinum
2010 erschien hierzulande ein Lehrbuch mit dem Titel „Modernes Tschechisch“ (Mluvnice současné češtiny) von Václav Cvrček. Der Sprachwissenschaftler und heutige Leiter des tschechischen Textkorpus´ an der Prager Karlsuniversität bietet auf 350 Seiten einen Einblick in mehrere Bereiche der tschechischen Sprache. Auf der Basis umfassender Recherchen im schriftlichen Sprachkorpus befasst er sich auch mit dem Unterschied zwischen der gesprochenen und der schriftlichen Sprache. Seine Auffassung, in der Sprache existiere „weder das Schlechte noch das Richtige“, stieß allerdings auch auf negative Reaktionen eines Teils seiner Leser. Sie fanden seine Ausführungen zu liberal. Václav Cvrček:

„Die Behauptung, dass die jüngste Entwicklung in der tschechischen Sprache auf den Untergang zusteuere, ist meiner Meinung nach zumindest verfrüht. Es lässt sich keine genaue Hierarchie aller Faktoren, die die Sprache beeinflussen, festlegen. Unsere Muttersprache reagiert flexibel auf die Wandlungen der Außenwelt, und das ist ein großer Vorteil. Für mich ist es ein positives Zeichen dafür, dass die Sprache immer noch lebt und in der Lage ist, sich an die Kommunikationsbedürfnisse der heutigen Nutzer anzupassen.“

Václav Cvrček  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Wie das Tschechisch in 100 Jahren klingen wird, das weiß nicht nur Václav Cvrček nicht. Und wer weiß, was der weltbekannte tschechische Schriftsteller Karel Čapek über das heutige Tschechisch sagen würde. 1927 veröffentlichte er in der Tageszeitung „Lidové noviny“ sein Essay „Lob der tschechischen Sprache“. Es ist ein Liebesbekenntnis:

„Ich müsste hundertfach leben, um dich völlig kennenzulernen; niemand hat bislang erfasst, was du bist; noch liegst du vor uns, geheimnisvoll, überbordend und voller weitreichender Ausblicke, das künftige Bewusstsein der emporsteigenden Nation.“