28. Oktober 1918: Reflexionen zum Staatsfeiertag

Es war ein Montag, der 28. Oktober 1918, der als Gründungstag der Tschechoslowakei in die Geschichte eingegangen ist. Den tschechoslowakischen Staat gibt es inzwischen nicht mehr. Doch immer wieder wird bei unterschiedlichsten Gelegenheiten auf das Vermächtnis der einstigen Tschechoslowakei zurückgegriffen. In dem nun folgenden Sonderprogramm nimmt Jitka Mladkova den 28. Oktober 1918 zum Anlass, mithilfe von persönlichen Geschichtsreflexionen zweier renommierter Historiker eine Brücke zwischen "damals" und "heute" zu schlagen.

Tschechoslowakische Wappe vom Jahre 1920
Wohl über keinen anderen Tag der tschechischen Geschichte ist mehr geschrieben worden als über diesen Tag des Jahres 1918. "Ein düsterer, nebliger Montag...", "Ein schöner sonniger Tag...", "Es war ein trüber Morgen des großen Tages..." - diese und viele andere nicht immer widerspruchsfreie Charakteristiken des historischen Tages gab es in der Berichterstattung der tschechischen Presse oder in den späteren Schilderungen von Zeitzeugen zu lesen. Doch nicht auf das Wetter kommt es bei der Entstehung eines neuen Staates an.Viel wichtiger waren natürlich die Umstände, unter welchen die Tschechoslowakei entstehen konnte. Um den Zeitpunkt ihrer Gründung, aber auch überhaupt um ihre Existenz ranken sich bis heute viele Mythen und Legenden, die von den einen gepflegt und von den anderen hingegen im realen Licht beleuchtet beziehungsweise niedergerissen werden. Allerdings mühsam, wohl gemerkt!

Bereits vor neun Jahren, als ich für eine Sendung zum damals bevorstehenden 80. Gründungsjubiläums des tschechoslowakischen Staates recherchiert hatte, stieß auf das gerade frisch herausgegebene Buch "Der Kampf um die Burg". Sein Autor Antonin Klimek verfolgte darin den Werdegang von Tomas Garrigue Masaryk zum Staatspräsidenten und das Geschehen vor dem Hintergrund seiner langen Regierungszeit auf der Prager Burg. Nicht nur für mich war es damals ein neues, in mancher Hinsicht auch überraschendes Bild des Mannes, der, je nach Epoche und politischer Überzeugung, entweder auf ein hohes Piedestal gestellt oder aber totgeschwiegen wurde.

Noch mehr beeindruckt hat mich allerdings das persönliche Treffen mit Antonin Klimek, der mich mit seinen enzyklopädischen Kenntnissen und analytischen Ausführungen buchstäblich überschüttete. Von dem Gespräch mit dem 2005 verstorbenen herausragenden Kenner der Ersten tschechoslowakischen Republik habe ich leider nur ein paar Seiten von Notizen aufbewahrt, trotzdem will ich versuchen, Ihnen einige seiner Gedanken zu vermiteln.

"Die Aufgaben, vor denen Masaryk stand, scheinen - vor allem aus der historischen Sicht gesehen - titanisch zu sein. Denkt man an seine Maxime, nach der die Staaten aufgrund der Ideen bestehen bleiben sollten, auf denen sie einst begründet wurden, so wollte der Präsident den Staat auf einigen falschen Grundsteinen aufbauen, wenn auch nach bestem Wissen und Gewissen."

Soweit ein Zitat aus dem erwähnten Buch "Der Kampf um die Burg". Dies sei merkwürdigerweise der meist zitierte Satz von allem, was er je geschrieben habe, sagte mir Antonin Klimek mit einem Schuß Übertreibung. Er bestand aber auf seiner Behauptung und erläuterte: Masaryk sei von einigen Fehlprämissen ausgegangen, allen voran von der Existenz einer einheitlichen tschechoslowakischen Nation, die es aber nicht gab.

Die zweite Prämisse Masaryks basierte laut Klimek darauf, dass die tschechoslowakische Nation Erbe der Traditionen der Reformation ist. Dabei hat das katholische Element in Mähren und noch mehr in der Slowakei absolute Oberhand gewonnen. Der Nation wurde also eine Tradition angeboten, auf die sie sich aber nicht stützen konnte. Auf einem Seminar zum Thema "Nationale Identität der Tschechen", veranstaltet von der Zeitschrift "Stredni Evropa" (Mitteleuropa) sprach Klimek davon als einem bis dahin nur wenig diskutierten Problem der Ersten Republik:

"In der Ersten Republik und eigentlich schon in der Zeit der so genannten nationalen Wiedergeburt wurde dieses Problem auf eine ungewöhnliche Art und Weise aufgegriffen. Und zwar so, dass man der Nation, die überwiegend katholisch war, die hussitische Tradition als Identitätsgrundlage aufgestellt hatte. Jedoch nicht als ein religiöses, sondern ein nationales Prinzip. Dadurch entstand eine seltsame Situation, die vielleicht auch durch die traditionell laue Haltung der Tschechen zur Religion ermöglicht wurde."

Ob man es will oder nicht, so Klimek in seinen Ausführungen, habe der tschechoslowakische Staat seine Traditionen deformiert. Insbesondere dann ...

"Wenn der erste Präsident und unbestrittene Chefideologe des Landes, Tomas Garrigue Masaryk, dessen Wort für die Bevölkerungsmassen als heilig galt, die historische Entwicklung interpretierte als einen Kampf zwischen der protestantischen, sprich angelsächsisch-romanischen Demokratie gegen die reaktionäre, im Prinzip katholische germanische Theokratie. Die Wurzeln der tschechoslowakischen Nation suchte er in der Reformationszeit, namentlich unter den Böhmischen Brüdern."

Jan Hus
Die Tradition der böhmischen Premyslidenkönige oder die Karls IV. passten nicht in dieses Konzept und wurden als feudal, sprich katholisch, eingestuft und daher auch abgelehnt. Diese Einstellung der ausschlaggebenden politischen Repräsentation des Landes zur nationalen Geschichte hat aber dem Historiker Antonin Klimek zufolge schon vor der Entstehung der Tschechoslowakei ihren Ausruck gefunden. Ein Beispiel:

"Das hat sich schon während des Ersten Weltkrieges gezeigt, als Masaryk und seine Anhänger die in Russland kämpfenden Bataillons tschechoslowakischer Einheiten, die vorher zum Beispiel die Namen des Heiligen Wenzel oder der Heiligen Kyrill und Method trugen, auf Jan Zizka, Jan Hus und Georg von Podebrady umbenannt haben."

Am 28. Oktober 1918, als der neue Staat der Tschechen und Slowaken ausgerufen wurde, weilte Tomas Garrigue Masaryk in den USA. Dass er durch Akklamation zum Präsidenten gewählt wurde, erfuhr er am 16. November in New York beim feierlichen Mittagessen, veranstaltet ihm zu Ehren von der dortigen Slawischen Gesellschaft. In einer Reaktion auf diese Information soll er gesagt haben:

"Wenn man sich dessen bewusst wird, das Oberhaupt eines neuen Staates zu sein, darf einem wohl gut zumute sein. Man ist glücklich. Ich weiss nicht, ob ich glücklich bin und kann meine Gefühle nicht beschreiben. Ich habe das Gefühl der Verantwortung. Ich würde sagen, dass ich keine Zeit habe, mich darüber zu freuen. Ich weiss, dass ich vor einem großen Problem stehe und ich bin mir nicht nur vor meiner Nation, sondern vor allen Nationen der Verantwortung bewusst. Niemand von uns darf versagen. Das ist, was ich fühle."

In der Tat! Masaryk hatte offenbar nicht viele Gründe, sich zu freuen. Er stand an der Wiege eines neuen Staates, in dem es zwar Reminiszenzen auf die als ruhmreich empfundene Vergangenheit der historischen böhmischen Länder der St.Wenzelskrone gab, dem es aber an modernen Traditionen mangelte. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung war es aber auch ein Staat ohne sichere Grenzen, ohne gut aufgebaute Armee, zugleich aber im Gebietsstreit mit fast allen Nachbarn, mit Minderheiten, die Anspruch auf nationale Souverenität ehoben und nach Abtrennnung riefen. Und außerdem verarmt und wirtschaftlich dezimiert durch den Ersten Weltkrieg.

Wie gesagt, auf konkrete Konstellationen kommt es an, wenn ein neuer Staat entsteht oder zerfällt. Die Zeichen für die Gründung der Tschechoslowakei scheinen aus der heutigen Sicht jedoch von Anfang an nicht gut gestanden zu haben. Trotzdem sagte mir Antonin Klimek bei unserem Treffen: Die Sternstunde der tschechischen Nation sei zu einem Zeitpunkt gekommen, der sich in der Geschichte nur selten wiederholt. Er sah auch eine Ähnlichkeit mit den historischen Umständen um das Jahr 1989.

Seit 1993 ist Tschechien im Prinzip ein nationaler Staat. Im Vergleich zur Ersten Republik leben hier heutzutage zahlenmäßig wesentlich kleinere Minderheiten. Immerhin, seit 2004 gehört das Land der EU an. Was ist also mit dem Nationalstaat passiert? Stellen sich die Menschen die Frage, wer sie sind? Die Frage nach ihrer Identität also. Dazu die Meinung eines anderen tschechischen Historikers:

Dusan Trestik  (Foto: CTK)
"Der Nationalstaat, so wie er im 19. Jahrhundert gegründet wurde, etwa nach dem Vorbild der französischen Republik, hat den Menschen eine Identität aufgezwungen. Genauso aber auch verschiedene Lebenssituationen. 1938 zum Beispiel musste jeder wissen, ob er ein Tscheche oder ein Deutscher ist und warum er das oder jenes ist. Das ist vorbei. Heutzutage stehen die Fragen anders und niemand wird in dieser Hinsicht zu etwas gezwungen und es gibt auch keine Gehirnwäsche mehr, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war. Es gibt aber einen existentiellen Bedarf. Die Menschen wollen wissen, wer sie sind, und nicht nur sie selbst, sondern die gesamte Gemeinschaft, zu der sie gehören."

Das sagte im Frühjahr dieses Jahres der vor kurzem verstorbene Historiker Jan Trestik gegenüber dem Tschechischen Rundfunk. Nun, wie ist es jetzt, unter den neuen Umständen, um das tschechische Identitätsbewusstsein bestellt? Seit der Annahme des Christentums im 9. Jahrhundert gelten die Tschechen als Europäer, meinte der renommierte Mittelalterkenner. Er hatte er aber auch Verständnis für den Bedarf seiner Landsleute, an nationalen Symbolen festzuhalten. Zum Beispiel am traditionellen Landespatron, dem Hl. Wenzel, zu dem das Land nach der zwangsweisen Unterbbrechung der historischen Kontinuität durch das kommunistische Regime zurückfindet. Laut Trestik wird dabei in der Regel die wahre historische Substanz des Symbols von den Menschen überhaupt nicht reflektiert:

"Ein Symbol widerspiegelt nicht die Wirklichkeit. Es geht um ein rein ideelles oder emotives Konstrukt. Seine Beziehung zur Wirklichkeit ist nicht relevant. Ob der Heilige Wenzel fromm war oder nicht, ist in diesem Sinne egal. Ob er gegen die Feinde kämpfte oder nicht, auch egal. Wichtig ist, was aus ihm geworden ist. In seinem Fall war es schon im 12. Jahrhundert passiert, als ihm dieses Land geweiht wurde. Und wenn man heute zu ihm zurück findet, ist es nicht, weil man sich im 12. Jahrhundert ausgedacht hat, Wenzel sei ein ewiger Herrscher im Himmel, dem dieses Land gehört, sondern weil es einen innerlichen Bedarf gibt, sich zu ihm zu bekennen."

Geben wir abschliessend noch einmal Antonin Klimek das Wort. In der tschechischen Geschichte sah er eine ganze Reihe von Momenten, die einer gründlichen Diskussion bedürfen um ins wahre Licht gerückt zu werden. Klimek war sich aber der bestehenden Hindernisse bewusst:

"Es ist allerdings nicht leicht, hierzulande ein neues Thema aufzugreifen. Ich habe es ein paar Mal versucht, und glauben Sie mir, es war kein schönes Gefühl, als mir gesagt wurde: Man überlege bereits, ob ich an den Pranger oder direkt auf den Scheiterhaufen gehöre."