Zweites Leben in der Schweiz

Foto: Klára Stejskalová
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Eine Ausstellung dokumentiert das Schicksal von 25 Tschechen und Slowaken, die nach dem August 1968 in die Schweiz emigriert waren. Anlass dazu sind der 100. Geburtstag der Tschechoslowakei und der 50. Jahrestag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen ins Land.

Helena Kanyar Becker  (Foto: Klára Stejskalová)
Helena Kanyar Becker ist 1969 in die Schweiz gekommen. Damals war sie 26 Jahre alt. Zuvor hatte sie als Redakteurin bei einer Zeitschrift und Journalistin in Prag gearbeitet.

„Ich kam mit dem Zug in der Schweiz an und bin zu meinen Freunden gefahren. Dann habe ich angefangen, bei Swiss Air am Laufband zu arbeiten. Etwa nach drei Wochen bekam ich ein offizielles Schreiben von der Fremdenpolizei: ‚Geehrtes Fräulein Becker, Sie müssen die Schweiz verlassen.‘ Ich habe angefangen zu weinen, weil ich nicht wusste, wohin ich gehen soll. Und weil es in der Schweiz eine humanistische Tradition gibt, haben fremde Leute für mich einen Anwalt bezahlt, der das ganze Verfahren stoppen konnte. Er hat mich bis zur Erteilung des Asylrechts im Frühling 1970 betreut. Inzwischen konnte ich die Sprachprüfungen an der Uni ablegen und mein zweites Studium starten.“

Fiona Ziegler  (Foto: Klára Stejskalová)
Es dauerte dreieinhalb Jahre, bis sich Helena Becker in der Schweiz heimisch fühlte. Sie studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Kunstgeschichte. Danach arbeitete sie in der Forschung, als Publizistin und als Fachreferentin der Universitätsbibliothek in Basel.

13.000 Tschechoslowaken in der Schweiz

Helena Becker ist eine von 25 Tschechen und Slowaken, die in der Ausstellung und Dokumentation „Second Life“ porträtiert sind. Die Fotografin Iren Stehli hat Bilder der Menschen gemacht und mit ihnen Interviews für ein Buch geführt, die Filmerin Fiona Ziegler hat eine Doku über sie gedreht. Den Anstoß dazu gab der ehemalige Schweizer Botschafter in Prag, Markus-Alexander Antonietti, wie Fiona Ziegler sagt:

Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Er hatte die Idee, diese Ausstellung und diese Dokumentation zu machen. Damit sollte auch auf diplomatische Weise eine Debatte über die gegenwärtige Situation in Tschechien und die Flüchtlingskrise in Europa angeregt werden, um in einem kritischen Diskurs daran zu erinnern, dass viele Tschechoslowaken einst Emigranten waren und vor einem politischen Regime in ein anderes Land geflüchtet sind.“

Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 nahm die Schweiz etwa 13.000 Emigranten aus der Tschechoslowakei auf. Wo fühlen Sie sich heute zuhause? Das war eine der wichtigsten Fragen, die die Fotografin Iren Stehli 25 von ihnen gestellt hat.

„Die häufigste Antwort war, dass sie sich nun in der Schweiz heimisch fühlen, aber doch im Herzen noch Tschechoslowaken sind.“

Foto: Hans Braxmeier,  Pixabay / CC0
Fiona Ziegler bekam vier verschiedene Antworten auf ihre Frage:

„Eine lautete: auf der Arbeit. Eine zweite Antwort war: Ich habe voll in der Schweiz gelebt, aber war in gewisser Weise immer außen vor. Das heißt, das Zuhause ist Prag. Die dritte Antwort war: Er lebe als tschechischer Künstler in der Schweiz, also fühle er sich in der Schweiz zuhause. Aber er sagte auch, die metaphysische Heimat werde immer das Tschechische sein und auch der Humor natürlich. Und die vierte Antwort ist, dass das Zuhause, die glückliche Zeit seines Lebens, die Schweiz sei. Aus ökonomischen Gründen ist dieser Herr jedoch nach Prag zurückgegangen, er spürt aber sehr stark, dass er die Zeit der Emigration nicht hier gewesen ist. Und dementsprechend ist das wahrscheinlich wie ein drittes Leben.“

Man kann nicht mehr zurück…

Schweiz  (Quelle: eikira,  Pixabay / CC0)
Niemand der Befragten habe seinen Gang in die Emigration bedauert, sagen jedoch sowohl Fiona Ziegler als auch Iren Stehli. Gibt das Projekt eine allgemeine Antwort darauf, was für einen Flüchtling in seiner neuen Heimat am schwierigsten ist?

FZ: „Ich hatte sehr stark das Gefühl, dass das Schwierigste war, dass man nicht mehr zurückgehen kann. Man macht einen Schritt, und das ist eine endgültige Entscheidung. Man weiß etwa, dass man nicht zurück kann, wenn etwa die Eltern krank werden oder es einen Todesfall gibt. Dieser Verlust, dieses Auseinanderfallen der Familie, das habe ich in den Gesprächen mit den Leuten als das empfunden, was mich am meisten bedrückt hat.“

Denkmal,  gewidmet der ersten Frauenabstimmung in der Schweiz  (Foto: Wici,  CC BY-SA 3.0)
Die beiden Dokumentaristinnen haben Ihre Gesprächspartner auch gefragt, wie sie die Schweiz wahrnehmen. Die Antworten waren für Schweizer zum Teil überraschend.

FZ: „Ich fand den Blick auf die 1960er Jahre in der Schweiz von einem weiblichen Standpunkt her sehr spannend. Denn Frauen hatten damals in der Schweiz kein Stimmrecht, die Abtreibung war illegal, der Mann konnte der Frau verbieten arbeiten zu gehen. Das war durchaus verbreitet. Auch an den Universitäten haben kaum Frauen studiert. Diese Sachen weiß meine Generation gar nicht mehr. Ich fand es sehr erfrischend, dass das jemand gesagt hat, weil ich das Gefühl hatte, meine Mutti zum Beispiel spricht nicht sehr gerne darüber. Ich fand es kritisch und wichtig.“

Erwähnt haben die Tschechen auch das Nicht-Perfekte in ihrer Heimat im Unterschied zur Schweiz und die Sauberkeit in der Schweiz. Fiona Ziegler nennt ein amüsantes Beispiel:

„Ein Protagonist sagte, als er 1968 den Zug in die Schweiz nahm, habe er gedacht, dass man dort nicht mehr arbeiten müsse, weil das ein funktionierender Wohlfahrtsstaat sei. Das war der jungenhafte Blick eines aus der Tschechoslowakei kommenden Mannes. Es hat mich überrascht, dass man die Schweiz damals in Zentraleuropa so wahrnehmen konnte.“

Alexander Dubček | Foto: Archiv des Abgeordnetenhauses des Parlaments der Tschechischen Republik
Die schweizerische Solidaritätswelle nach der Besetzung der Tschechoslowakei war sehr stark. Worauf ist das große Interesse der Eidgenossen für das Geschehen in dem Land hinter dem Eisernen Vorhang zurückzuführen?

FZ: „Man hat natürlich sehr sympathisiert mit Dubček und mit dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Und auch schon 1956 mit Ungarn. Und ich denke, es war eine Angst vor dem Kommunismus, die auch propagiert und angezettelt wurde. Und die Tschechoslowaken, die geflüchtet sind, waren demnach die Opfer dieser verteufelten politischen Richtung.“

IS: „Was noch dazukommt, ist vielleicht auch das schlechte Gewissen der Schweiz, weil sie im Zweiten Weltkrieg sehr viele Menschen abgewiesen hat. Wie ich jetzt auf einer Pressekonferenz erfahren habe, wurden 30.000 Juden nicht aufgenommen, die dann direkt in die Konzentrationslager gebracht wurden. Das ist in diesen Jahren 1956 und 1968 vielleicht ein bisschen hochgekommen. Und auch dass es gegen den Kommunismus gerichtet war, hat sehr zu dieser Offenheit, zu diesem fast euphorischen Entgegenkommen der Leute beigetragen.“

Skepsis in Tschechien

Iren Stehli  (Foto: Klára Stejskalová)
Auch heute, 50 Jahre später und angesichts der Flüchtlingskrise in Europa, sehen die beiden Schweizerinnen eine große Offenheit in ihrem Land.

IS: „Oft wird vergessen, dass die Schweiz mit ihren acht Millionen Einwohnern zwei Millionen Ausländer hat. Das ist jeder fünfte Bewohner, und in den Städten ist es jeder vierte. Eigentlich, muss ich sagen, verhält sich die Schweiz beispielhaft.“

FZ: „Wenn ich von Prag nach Zürich komme, höre ich viel mehr Sprachen und sehe mehr Farben. Das ist wirklich nicht vergleichbar mit dem, was ich hier beobachte. Es ist eine sehr vielschichtige Gesellschaft. Klar, man fühlt Spannungen, Differenzen und Misstrauen teilweise auch in der Schweiz, aber es gibt auch einen sehr regen Austausch.“

Die Gesellschaft in Tschechien empfindet Fiona Ziegler als sehr geteilt:

„Es gibt die Tschechen auf der einen Seite und auf der anderen die Expats. Sie haben höhere Löhne, sie leben ein schönes Leben in Prag, aber ein direkter Austausch oder ein Interesse aneinander scheint mir zu fehlen. Dazu spüre ich bei den Menschen hier eine große Skepsis gegenüber allem, was von außen kommt. Da gibt es kein Sich-Öffnen und ein Interesse dafür, vielleicht neue Anregungen zu erhalten.“

Iren Stehli sieht zudem eine Art Entwicklungsvorsprung in der Schweiz:

IS: „Es hat einfach eine längere Tradition, das muss man auch sagen. Ich vergleiche das zum Beispiel mit der Situation, als ich in der Schweiz zur Schule gegangen bin. Da kamen die italienischen Gastarbeiter an, diese ‚Tschinggen‘. Man sagte, das ist ein ‚Tschingg‘, und das war völlig abschätzig. Man hat mit diesen Leuten überhaupt nicht gesprochen. Ich denke, das ist auch eine Frage der Zeit.“

Ausstellung Second Life  (Foto: Klára Stejskalová)
FZ: „Ich denke einfach, dass die Leute hier, geschichtlich gesehen, Erfahrung mit dem gemacht haben, was von außen kam. Das hat sich doch sehr in einem kollektiven Bewusstsein festgesetzt. Das zu durchbrechen, ist viel komplexer und psychologisch schwieriger, als man annehmen könnte. Dafür habe ich auch Respekt, das verstehe ich auch. Ich denke, die Angst kann man wirklich nur durchbrechen, indem man das Andere kennenlernt und einen offenen Diskurs darüber führt.“

Einer der Beiträge zum Diskurs ist auch die die Ausstellung Second Life. Sie ist in der „Galerie der Kritiker“ im Adria-Palais in Prag zu sehen, und zwar bis zum 22. April. Anschließend wird sie auch nach Zlín, Brno / Brünn und Plzeň / Pilsen weiterwandern.