Männliche Prostitution: Tabuthema in Prag

Männliche Prostitution: ein Tabuthema, das dem Bild einer Stadt schaden kann – und das auch Prag betrifft. Deshalb versucht der Magistrat seit Jahren, die Anschaffenden von den für Touristen zugänglichen Orten zu verdrängen. Der Regisseur Houchang Allahyari will nun in einem neuen Filmprojekt zeigen, welche sozialen Abgründe sich teilweise hinter der glitzernden Fassade von Moldau und Prager Burg befinden. Im Mittelpunkt seines neuen Dokumentarfilms steht dabei das Streetwork-Projekt Šance (Chance), das sich an männliche Prostituierte wendet.

Prag
Prachtvolle Bauten und eine große Historie: Ohne Zweifel, Prag ist ein Touristenmagnet. In Reiseführern stellt sich die Hauptstadt gerne als eine moderne und vor allem auch saubere Großstadt dar. Faktoren, die dieses Antlitz trüben könnten, sind dem Stadtmarketing dementsprechend ein Dorn im Auge. Dazu zählen auch jene Männer, die ihr tägliches Brot einst um den Prager Hauptbahnhof eintrieben. Wurde einst geduldet, dass sie in leerstehenden Wagons schlafen konnten, müssen sie heute meist ohne jegliche Unterkunft auskommen und ihr Geschäft mit einer internationalen Kundschaft im Verborgenen abwickeln. Die Rede ist von männlicher Prostitution. Trotz der Vorkehrungen von offizieller Seite bleibt sie in Prag ein großes Geschäft. Gerade der Versuch, dieses Problem zu vertuschen und vor der Öffentlichkeit zu verbergen, hat den Regisseur Houchang Allahyari dazu angeregt, über dieses Thema einen Dokumentarfilm zu drehen. Dabei sieht er Prag als Beispiel für die Situation in der gesamten EU.

„Es wird versucht, zumindest oberflächlich alles in Ordnung zu bringen. Nehmen sie das Beispiel des Hauptbahnhofes hier: Die Kinder haben hier gelebt und geschlafen, in der Nacht konnten sie zumindest auch in Waggons wohnen oder wenigstens übernachten – das alles ist jetzt polizeilich verboten. Das heißt, oberflächlich sieht alles schön sauber aus. Kein Mensch traut sich mehr, seine „Geschäfte“ öffentlich zu abzuwickeln. Im Hintergrund ist aber alles so geblieben, wie es war, wenn es nicht sogar noch schlimmer geworden ist. Die Leute haben teilweise gar nichts mehr, dazu kommen Drogen und Erkrankungen wie Aids.“

Houchang Allahyari  (Foto: Manfred Werner,  Creative Commons 3.0)
Elend, Armut und Krankheiten - dazu kommt das Problem, dass von staatlicher Seite kaum Hilfe, geradezu nur Ignoranz zu kommen scheint. Den geringen Anteil an Sozialhilfe erhalten zudem nur diejenigen, die im Besitz einer tschechischen Staatsbürgerschaft sind, so der Regisseur, der schon seit langem intensive Recherche für sein Projekt betreibt. Dies ist jedoch oft schwer und kompliziert:

„Es ist ein Milieu, in das man nur sehr schwer eindringen kann. Mindestens genauso schwierig ist es auch, das Gesehene, Gehörte und allgemein Wahrgenommene in Bilder zu fassen.“

Haus der Chance  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Das vom Streetworker László Sümegh geleitete Projekt Šance steht im Mittelpunkt des Dokumentarfilms. Sümegh, der einst als normaler Streetworker anfing, sah, dass es für männliche Prostituierte in Prag keine wirkliche Anlaufstelle gab - weder zur gesundheitlichen Vorsorge noch als Hilfe für jene, die aus der Szene aussteigen wollten. Deshalb gründete er 1995 das Projekt, das heute aus einer Arbeitswerkstatt, dem „Haus der Chance“ im zehnten Prager Stadtbezirk und einem Streetworkzentrum in der Innenstadt besteht. Hier wird wortwörtlich „erste Hilfe in Notlage“ geleistet. Das Angebot reicht dabei von Vorsorgeuntersuchen bis hin zu Einmalspritzen für die Drogenabhängigen.

„Beim Streetworking suchen wir Jugendliche auf, die auf der Straße leben. Wir bemühen uns um Aufklärung: Gerade die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten ist dabei ein großes Thema. Auch wollen wir versuchen, die Jugendlichen von der Straße zu holen. Wir bieten ihnen viele verschiedene Möglichkeiten: Eine ist, unser Streetwork-Zentrum in der Innenstadt zu besuchen. Hier stehen sanitäre Anlagen wie eine Waschmaschine und eine Dusche zur Verfügung. Dort können sie sich auch Post zustellen lassen, da sie ja als Straßenkids keine Adresse haben. Diejenigen, die Eltern haben, können sich bei uns mit ihnen treffen.“

Foto: Archiv des Projekts Šance
Gerade der letzte Punkt ist für den Sümegh wichtig, denn ein großer Teil der Straßenkinder, die in das Milieu abrutschen, kommt meist aus verrütteten Familienverhältnissen. Dieser Hintergrund der Jugendlichen spielt für Sümegh bei seiner Arbeit eine zentrale Rolle.

„Es ist wichtig zu wissen, dass 70 Prozent unserer Klienten aus nicht funktionierenden Familien oder Kinderheimen stammen. Wenn sie ihren Aufenthalt in einem Kinderheim beenden, sollten sie eigentlich nach Hause zurückkehren, aber wenn sie dort seit der Kindheit nicht mehr waren, landen sie meist auf der Straße. Das Problem ist dabei, dass die Jugendlichen natürlich teils bis zu ihrem 18. Lebensjahr an die Hilfe einer solchen Institution wie ein Kinderheim gewöhnt sind. Deshalb können sie sich auf der Straße meist nicht durchsetzen. Und wenn sie dann keine Menschen treffen, die ihnen helfen wollen, verkaufen sie schließlich ihren Körper, ohne sich den Folgen dieses Geschäfts wirklich bewusst zu sein. In diesem Moment wird der Kunde dann sozusagen als Erlöser wahrgenommen, denn ansonsten hätten die Jungs nichts zu essen und würden auf irgendeiner Bank erfrieren. Das ist das, was wir fast von jedem Jugendlichen hier hören.“

Foto: Archiv des Projekts Šance
Außerdem werden Gelbsucht- und HIV-Tests geboten, auch ein Psychologe steht für die Jugendlichen bereit. Ein großes Problem ist jedoch nach wie vor, dass für Hilfsprojekte wie Sümeghs Projekt Šance nur selten eine Krone aus öffentlicher Hand kommt. Auch bei der Politik stößt man mit der Arbeit mit einem solch empfindlichen Thema nicht unbedingt auf Gegenliebe: Als der Streetworker 2008 eine Arbeitswerkstatt im fünften Bezirk eröffnen wollte, erhielt er einen Brief des Stadtrats, in dem die Räumlichkeiten seines Projekts fristlos aufgekündigt wurden. Seitdem schwelt ein Rechtsstreit zwischen der Stadt und den Projektverantwortlichen, die Räumlichkeiten wurden dementsprechend vorübergehend und notgedrungen in den neunten Stadtteil verlagert. Dazu kommt, dass die Zahlen der betroffen Jugendlichen zuzunehmen scheinen – offizielle Statistiken sind zu dem Thema jedoch kaum zu finden, was die öffentliche Aufklärung erschwert. Sümegh selbst kann jedoch auf die Zahlen seines Streetworkzentrums zurückgreifen.

Foto: Archiv des Projekts Šance
„Unsere statistischen Zahlen sind alarmierend. Gewalttaten und Repressionen nehmen unter Jugendlichen auf der Straße zu, immer mehr von ihnen werden in die Illegalität getrieben. Das Problem ist auch: Was der Bürger nicht sieht, das existiert für ihn auch nicht. Die Jugendlichen sind jedoch den Krankheiten und allen möglichen anderen Übeln ausgeliefert. Sie sind oft gezwungen, unter den Obdachlosen und Drogenabhängigen zu leben - auch diejenigen, die sonst nicht obdachlos oder drogenabhängig geworden wären. Anstelle einer konsequenten Prävention werden die Jugendlichen somit kriminalisiert. Vor zwei Jahren kamen rund 1600 Menschen in unser Zentrum, 2011 waren es schon 2400.“

Für das männliche Gewerbe gibt es - anders als bei der Prostitution von Frauen - nur ein sehr geringes Bewusstsein in der Öffentlichkeit. Das könnte sich durch das Filmprojekt des iranisch-österreichischen Regisseurs Allahyari ändern, hofft Sümegh. Auch baut er darauf, dass durch das Projekt Druck auf die Leitung der Stadt entsteht und Šance wieder in die alten Räumlichkeiten zurückkehren kann.

„Wenn man in Tschechien das Problem der tschechischen Straßenkinder präsentiert, interessiert das niemanden. Die Tschechen hören auf das, was sie aus dem Ausland kennen. Anstelle sich Gedanken darüber zu machen, warum Menschen auf der Straße leben, versucht man eher, alles Problematische hinter die Grenzen der Hauptstadt zu treiben und so zu vertuschen. Wir hoffen, dass es uns hilft, wenn im Ausland darüber gesprochen und somit Druck auf den Stadtrat ausgeübt wird, damit wir nicht eines Tages unser Projekt aufgeben müssen. Denn jetzt befinden wir uns in einem Asyl, von dem wir wahrscheinlich wieder in eine andere Notunterkunft umziehen müssen. Wenn es dieses Asyl jedoch nicht gäbe, würden die Kinder, die wir hier betreuen, wieder auf der Straße oder im Gefängnis landen, was wiederum vom Steuerzahler bezahlt werden müsste. Denken die tschechischen Bürger überhaupt daran, dass das für sie teurer und für die Kinder viel unsinniger wäre?“

Foto: ČT 24
Allahyari blickt jedoch nicht nur auf die kommunale, sondern auch auf die EU-Ebene und hofft, dass sich durch eine wachsende öffentliche Aufmerksamkeit auch dort etwas bewegen könnte. Zugleich ist er noch unsicher, wie das Publikum auf das Thema seiner Dokumentation reagieren wird.

„Ich versuche immer, Probleme zu zeigen, die sich um mich herum abspielen, dort wo ich lebe. Und ich lebe in Wien, in Europa, deshalb finde ich, dass diese Problematik auch gezeigt werden sollte. Schließlich sind wir keine Heiligen, und diese schrecklichen Tatsachen sind ja nicht nur auf ein entferntes Land beschränkt. Darauf will ich hinweisen, da diese Problematik gerne verdrängt wird.“