„Industriearchitektur als Touristenmagnet“ – Willkommen in Ostrau!

Foto: Jan Kukal

Diesmal ist alles anders: In der Industriestadt Ostrava / Ostrau, die zu Ende Januar sonst kaum von Touristen besucht wird, sind die Hotels derzeit ausgebucht. Der Grund ist die Europameisterschaft im Eiskunstlauf, die am Mittwoch beginnt.

Industriegebiet im Stadtteil Vítkovice  (Foto: Libor Kukal)
Es mag etwas seltsam klingen, aber in Ostrau gibt es auch einen „Hradschin“. Unter dieser umgangssprachlichen Bezeichnung verbirgt sich jedoch keine Burg wie in Prag, sondern das frühere Industriegebiet im Stadtteil Vítkovice mit Hochöfen, einer Kokerei und den Eisenwerken. Beim Blick aus der Ferne erinnert die monströse Industriearchitektur mit ihrer Silhouette tatsächlich an den Prager Hradschin.

„Es sei ein Kaff in jeder Hinsicht, so lebe man bei uns im Norden,” singt der Liedermacher Jaromír Nohavica und das Ostrauer Publikum lacht und klatscht begeistert. Die Einwohner von Ostrau nehmen es ruhigen Gewissens hin, dass ihre Stadt nicht die allerschönste ist. Sie fügen jedoch selbstbewusst hinzu: „Na und.“ In jeder Stadt, selbst in Prag, gibt es hässliche Ecken. Das Konzert mit Jaromír Nohavica, von dem die Aufnahme stammt, fand in einem ehemaligen Gasbehälter statt, der nach dem gewagten Entwurf von Architekt Josef Pleskot umgebaut wurde. Der Architekt wurde dafür mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Auf dem Podium hinter Nohavica saßen die Philharmoniker der Stadt. In Ostrau gibt es auch ein Opernhaus, weitere fünf Theater, eine Stadtgalerie und eine Universität. Nicht jede Industriestadt mit 300.000 Einwohnern hat so viele kulturelle Institutionen. Zudem ist Ostrau bekannt für seine einzigartige, sehr raue Atmosphäre. Marina Feltlová arbeitet in der Kulturredaktion des Tschechischen Rundfunks. Sie lebte vier Jahre lang in der Industriestadt:

Marina Feltlová  (Foto: Tomáš Vodňanský,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Meine ersten optischen Eindrücke waren nicht gerade positiv. Mit einer Straßenbahn in der Dämmerung zu fahren, ist nicht ohne. Dafür sollte man schon etwas abgebrüht sein, insbesondere bei der Fahrt durch einige Stadtteile. Später aber habe ich meine Meinung stark korrigiert.“

Marina Feltlovás Kollege beim Tschechischen Rundfunk, Daniel Jäger, arbeitete früher am Prager Nationaltheater. Danach wechselte er für fünf Jahre nach Ostrau.

„Als ich zum ersten Mal nach Ostrau kam, um einen Arbeitsvertrag im Mährisch-Schlesischen Nationaltheater zu unterschreiben, habe ich mir die Frage gestellt: ,Willst du wirklich hier sein?‘ In einer Stadt, die auf mich keinen besonderen Eindruck machte und wo die Atmosphäre nicht gerade angenehm war. Meine Mutter lebte einst in Ostrau, weil sie dort Verwandtschaft hatte. Sie sagte mir damals: ,Entweder wirst du Ostrau lieben oder hassen, dazwischen gibt es nichts.´ Sie hatte Recht. Ich hatte das Glück, dass ich mich in die Stadt verliebt habe.“

Jaromír Nohavica  (Foto: Archiv des Tschechischen Zentrums Madrid)
Jaromír Nohavica hat auch gesungen bei der Eröffnung der instandgesetzten Industriehalle, die unter der Bezeichnung Trojhalí Karolinka bekannt ist. Fast jedes Jahr wird in Ostrau ein renoviertes Industriegebäude wieder eröffnet. Die Stadt wurde Jahre lang als das „schwarze Ostrau“ bezeichnet. Während der kommunistischen Zeit wurde Ostrau ebenso das „Stahlherz der Republik“ genannt. Berühmt geworden ist die Stadt durch den Bergbau und die Stahlproduktion. Die Eisenwerke von Vítkovice wurden schon 1828 gegründet. Gegenwärtig macht die Industrie eine gewisse Transformation durch, aber von der sogenannten „Stahlstadt“ Vítkovice wird Ostrau vermutlich auch weiterhin leben. Der Dirigent und Komponist Petr Kotík lebt seit den 1970er Jahren in den USA. Er ist Begründer des Festivals der zeitgenössischen Musik „Ostravské dny“. Über die Stadt sagte der Künstler:

Foto: Agnés Zátorský
„Sie hat eine bestimmte Dimension, die nicht klein ist. Die Eisenwerke von Vítkovice sind wie Betlehem Steel, sie reichen bis ins Endlose. Es gibt da eine bestimmte Großzügigkeit, und auch die Menschen in Ostrava sind großzügig.“

Marina Feltlová ist davon überzeugt, dass Ostrau auch dank seiner Industrie eine starke Verwandlung erfahren hat.

„Die Industriearchitektur ist zur Visitenkarte von Ostrava geworden. Viele der Gebäude wurden instandgesetzt. Der Stadt ist es gelungen, daraus einen Touristenmagneten zu machen.“

Petr Kotík findet Ostrau phantastisch. Man werde dort von keinen historischen Baudenkmälern gestört, meint der Musiker. Man müsse nur den Sinn haben für die Poesie der Hässlichkeit, sagt Kotík.

Die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten in Ostrau sind mit dem Industrieerbe verknüpft, wie das Bergbaumuseum, in dem man sich unter der Erde umsehen kann. Ganz oben auf einem früheren Hochofen stößt man in 80 Meter Höhe auf ein verglastes Café. Viele der Fabriken wurden im industriellen Jugendstil erbaut. Für die meisten Tschechen sind auch die Einwohner der Stadt sehr außergewöhnlich - aufgrund ihrer schnellen Mundart und einer schockierenden Offenheit. Marina Feltlová:

Daniel Jäger  (Foto: Vojtěch Havlík,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Die Bewohner von Ostrau sind sehr spezifisch. Aber ich mag solche Menschen, denn sie sind sehr offen. Sie sagen direkt, was sie denken, auch wenn sie dabei oft eine gröbere Wortwahl haben. Sie tragen das Herz auf der Zunge.“

Daniel Jäger hält die Offenheit der Menschen für gesund:

„Sie lösen alles ohne den schönen Schein, ohne Ballast und ohne Schmeicheleien. Dies ist einerseits erfreulich, kann einen aber zugleich auch verunsichern. Denn die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Menschen in Ostrau sind sehr direkt, und ich schätze sie dafür sehr.“

Ostrau und seine Menschen – beides ist sehr speziell. Doch gerade darum ist die Stadt einen Besuch wert.

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