„Eine Herausforderung für die Gesellschaft“ – Bischof Václav Malý über den Umgang mit Obdachlosen

Václav Malý

Der Prager Magistrat hat mit seinem Plan, Obdachlose in ein Lager am Stadtrand abzuschieben, eine heftige Debatte ausgelöst – Radio Prag hat berichtet. Heftige Kritik an dem Projekt kam sowohl von der Rathaus-Opposition als auch besonders von Bürgerinitiativen und von Seiten der Kirche. Inzwischen ist die Obdachlosenproblematik zum Wahlkampfthema geworden – Ende Oktober finden in Tschechien Kommunalwahlen statt. Der Prager Bischof Václav Malý erläutert im Gespräch mit Radio Prag, warum ein würdevoller Umgang mit Obdachlosen wichtig für die tschechische Gesellschaft ist.

Václav Malý
Herr Bischof, der Prager Magistrat plant, Obdachlose, die sich nicht integrieren wollen, an den Stadtrand abzuschieben. Was halten Sie von diesem Plan?

"Ich bin grundsätzlich nicht damit einverstanden – aus mehreren Gründen. Die Obdachlosen leben unter uns und sind für uns eine Herausforderung, ihre Notlage zu verstehen und unsere Kraft darauf zu verwenden, ihnen zu helfen. Ich weiß, das ist nicht so leicht. Aber die Gesellschaft meint – etwas verallgemeinert – jeder Obdachlose ist ein potenzieller Verbrecher. Das ist nicht wahr. Die Obdachlosen haben eine persönliche Geschichte und nicht alle sind so, dass sie nicht arbeiten wollen. Es wäre sehr kompliziert, die Breite ihres Lebens zu beschreiben. Aber grundsätzlich gilt: Jeder Obdachlose ist immer ein Mensch, ist immer ein Partner. Und deshalb bin ich dafür, sich mehr mit diesen Menschen zu beschäftigen. Sie gehören leider zum Bild unserer Städte – nicht nur in Prag, sondern in allen größeren Städten, in ganz Europa."

Foto: Europäische Kommission
Was wäre denn Ihr Vorschlag – der Plan eines solchen Lagers am Stadtrand ist ja unter den Prager Politikern umstritten und wird auch von Hilfsorganisationen heftig kritisiert. Wie könnte denn so eine Lösung aussehen, die Sie angedeutet haben?

"Ich habe keinen genauen Plan, aber es ist notwendig, mehr Sozialarbeiter und Psychologen unter die Obdachlosen zu schicken. Ihnen Gelegenheitsjobs anzubieten, Gesundheitspflege und billige Übernachtungen. Teilweise gibt es das schon, aber noch nicht genug. Man muss das Geld dafür suchen."

Foto: Piotr Ciuchta / Stock.XCHNG
Was sind denn die Probleme, warum ist es denn bis jetzt nicht ausreichend, was in diesem Bereich getan wird?

"Meiner Meinung nach liegt das in der Mentalität der heutigen Zeit. Man schätzt nur den Erfolg, nur diejenigen, die sich durchsetzen können, etwas haben, etwas bedeuten. Man darf aber nicht nur die erfolgreichen Karrieren sehen, sondern auch diejenigen, die nicht gelungen sind. Und meiner Meinung nach sehen das die Prager Politiker nicht und wollen sich die Lage dadurch erleichtern, dass sie die Obdachlosen an den Stadtrand abschieben. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass es nicht immer angenehm ist, zum Beispiel mit Obdachlosen zusammen in der Straßenbahn zu fahren. Ich benutze ein unschönes Wort, pardon: Sie stinken. Aber deshalb muss man sie nicht verachten und keine Persönlichkeiten in ihnen sehen. Hier muss sich unsere Mentalität verändern."

Obdachlose  (Illustrationsfoto: Kristýna Maková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
Nun sagt man von den Tschechen, dass sie sich eigentlich gerne mit Verlierern solidarisieren, auch aus der Geschichte kennt man das – das ist ja eigentlich ein Widerspruch, wenn Sie sagen, nur der Stärkste setzt sich heute durch, oder?

"Ja, das ist die ganze Mentalität dieses neuen Systems. Das ist in meinen Augen nicht nur Sache der Tschechen, sondern aller Europäer. Und diese Mentalität muss man langsam und geduldig verändern. Wir sind eine kleine Gesellschaft und bis jetzt haben wir ein wenig Misstrauen gegenüber Ausländern und allen, die eine Last für uns sind. Aber jede erfolgreiche Gesellschaft – und wir gehören zu den erfolgreichen Gesellschaften – muss auch die Verlorenen ertragen und mit sich tragen. Das ist eine Frage der Solidarität. Ich meine keine Solidarität ohne Grenzen, sondern eine reflektierte Solidarität. Aber man muss auch die unangenehmen Phänomene unserer Gesellschaft ertragen."

Welche Rolle kann denn die Kirche hier spielen? Sie haben es ja schon angedeutet: mehr Sozialarbeit. Welche Möglichkeiten hat die Kirche hier?

"Vor allem die Caritas kann etwas für sie machen. Einige Klöster bieten Essen und Kleidung an. Zum Beispiel existiert in Prag eine katholische Gruppe: San Egidio. Und sie kümmern sich um die Obdachlosen und Bettler und haben gegen das Bettler-Verbot im Prager Stadtzentrum protestiert. Also, einige kirchliche Aktivitäten existieren, man muss das verbreiten. Aber vor allem kann die Kirche helfen, die Mentalität der Gesellschaft langsam zu verändern. Auch ein Bettler, auch ein Obdachloser hat seine menschliche Würde."

Die Obdachlosenproblematik ist zum Wahlkampfthema geworden. Im Stadtteil Prag 5 haben die Sozialdemokraten Wahlplakate mit dem Slogan aufgehängt: Weg mit Drogenabhängigen und Obdachlosen. Kann man mit solchen Sprüchen in Tschechien Stimmen fangen? Sind die Tschechen wirklich besonders intolerant gegenüber Obdachlosen?

Prager Wenzelsplatz...
"Meiner Meinung nach verstehen die Tschechen Obdachlose als eine Last, als ein Joch, und viele haben kein Mitgefühl mit ihnen. Aber zu sagen – und dazu noch vor den Wahlen: Weg mit jemandem – das ist schrecklich. Und das beschädigt den guten Ruf der Tschechen und unserer Gesellschaft."