"Die böhmische Großmutter" - Dietmar Grieser auf den Spuren Kakaniens

Die böhmische Großmutter

Die Babicka, die treu sorgende böhmische Großmutter, ist Legende: Bozena Nemcova hat ihr den berühmtesten Roman der tschechischen Literatur gewidmet, und spätestens Karel Gott hat mit seinem gleichnamigen Schlager dafür gesorgt, dass das Wort "Babicka" auch im Deutschen verstanden wird. Und schaut man auf die nordböhmische Abkunft von Kinderbuch-Autor Otfried Preußler, dann darf man sogar sicher sein, dass auch die Großmutter mit der musizierenden Kaffeemühle aus dem Räuber Hotzenplotz eine echt böhmische Großmutter ist. Auf die Spuren der böhmischen Babicka und der böhmischen Wurzeln Österreichs hat sich der Wiener Autor Dietmar Grieser in seinem jüngsten Buch gemacht. Der Titel, wie könnte es anders sein: Die böhmische Großmutter. Mit dem Autor sprach Thomas Kirschner für eine Feiertags-Ausgabe von Forum Gesellschaft zum Jan-Hus-Tag in Tschechien:

"Reisen in ein fernes nahes Land", heißt Dietmar Grieser Buch im Untertitel. Der populäre Wiener Literaturspaziergänger begibt sich darin auf Wanderschaft durch Tschechien, um den böhmischen Wurzeln Österreichs nachzuspüren. Fern ist das Nachbarland gleich zweifach: Die 40-jährige Trennung durch den Eisernen Vorhang ist im Zusammenleben zwischen Österreichern und Tschechen auch 16 Jahre nach der Wende nicht vollständig überwunden, und die Jahrzehnte, in denen für Österreicher Böhmen jenseits der betretbaren Welt lag, haben dafür gesorgt, dass die böhmischen Erzählungen der Alten, die Erinnerungen an die gemeinsame Monarchie ihre Realität verloren haben - eine Realität allerdings, die anderer Orten noch greifbar vorhanden ist: Vrtala und Vyplacil, Vrzala und Vystlacil - schon der berühmte Blick ins Wiener Telefonbuch, etwa mit Georg Kreislers klassischer Telefonbuch-Polka, macht deutlich, wie nahe es Wien zu den slawischen Ländern und insbesondere nach Böhmen und Mähren hat. In seinem Buch "Die böhmische Großmutter" hat Dietmar Grieser einige dieser Verbindungen exemplarisch nachgezogen - und das nicht nur da, wo man sie erwarten würde:

"Das durchgehende Thema ist die Tatsache, dass zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie ein Riesenheer von Menschen aus den Kronländern Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien in die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien gezogen ist, um dort das Glück zu finden. Das waren nicht nur, wie einem das zuerst einfällt, die Ziegeleiarbeiter, die Schneider und Schuster, die Köchinnen und Haushaltshilfen, sondern auch sehr viele große Geister, von Adalbert Stifter bis Sigmund Freud. Also diese ganz starken Verbindungen zwischen den beiden Nachbarn, die ja nun auch noch durch die EU miteinander verbunden sind - das ist ein weites Feld, und das habe ich halt beackert."

An Ort und Stelle ist Dietmar Grieser den vielfältigen Spuren und Bezügen nachgegangen: Karl Kraus ist in Böhmen geboren und hat später auf Schloss Janowitz unweit von Prag die Heimat seiner Seele gefunden, Kaiser Franz Joseph I. ist in Olmütz gekrönt worden, Grillparzer schöpfte den Stoff für seine "Ahnfrau" aus Mähren, wo auch die Wiege von Opernstar Leo Slezak stand. Und ganz in der Nähe, unweit von Mährisch Schönberg, heute Sumperk, ist bis heute ein in Stein gehauener "Christus im Ölberg" zu sehen, gestiftet von Carl Schubert, dem Großvater des Komponisten Franz Schubert. Mit dem hat Dietmar Grieser auch seine Nachforschungen über das ferne nahe Böhmen begonnen, auf einem Umweg allerdings:

"Der Anstoß zu dem Buch ist interessanterweise nicht in Wien erfolgt, wo ich seit 48 Jahren lebe, sondern der kam aus einer kleinen Bücherei in dem westfälischen Soest, wo eines Tages, wie man mir berichtet hat, ein Benutzer erschienen ist und nach einem Buch über die Wurzeln von Franz Schubert gefragt hat: Er hätte gehört, dass seine Vorfahren auch aus der mährischen Gegend kommen würden und er würde gerne mehr dazu wissen - ob man da etwas passendes für ihn hätte?! Man hatte nicht, aber man kannte meine Bücher und meine Art zu recherchieren. Also hat man mich angerufen und gefragt, ob ich denn nicht vielleicht dieses fehlende Buch schreiben würde. Und da haben sich dann zu Franz Schubert schnell eine Fülle weiterer Namen gesellt - von Gustav Mahler bis hin zu dem berühmtesten österreichischen Fußballspieler aller Zeiten, Matthias Sindelar aus dem mährischen Dorf Kozlov. Und so kamen dann diese 26 Kapitel der Reihe nach zusammen."

Und zu jedem der Kapitel gehört der Lokalaugenschein, die Frage, was von der Historie heute noch zu finden ist. Oft wird das Erbe der Geschichte gepflegt, gelegentlich aber sind die Spuren des Gewesenen im heutigen Alltag nur noch mühsam zu finden. Gerade die Konfrontation von Geschichte und Gegenwart ist für Dietmar Grieser das Reizvolle an seinen literarisch-historischen Reisen:

"Ich war auf die einzelnen Kapitel durch meine Studien in den Wiener Bibliotheken vorbereitet. Dagegen standen dann die Befunde vor Ort. Wenn man, wie ich, in Wien lebt, dann kennt man Tschechien natürlich von Ausflügen, aber dann doch wieder nicht so genau. Und dieser Zusammenprall von Historie und heutiger Wirklichkeit, das war das eigentlich Reizvolle. Und besonders reizvoll war das natürlich an einem Ort wie Kladruby, woher zur Zeit der Monarchie die prestigereichsten Pferde kamen. Alle kennen wir die Lipizzaner, das sind die Showstars, aber von diesen Zugpferden, die von dem nach wie vor bestehenden ehemaligen k.k. Hofgestüt kommen, da weiß man wenig. Dabei sind das die viel wichtigeren Tiere gewesen, in einer Zeit, in der es kaum Autos gab, aber umso mehr Kutschen und Kaleschen, für die man Zugpferde brauchte. Wenn man zum Beispiel ein Bild von dem Leichenbegängnis von Kaiser Franz Joseph I. zu Hand nimmt, und dort den Katafalk mit 12 vorgespannten Pferden sieht, dann sind gerade das eben Rappen aus Kladruby."

Aber nicht überall ist es wie in Kladruby, wo die altösterreichischen Traditionen fortgeführt werden. Oft haben Krieg, Vertreibung und sozialistische Plattenbau-Realität die Spuren zur Unkenntlichkeit verwischt - auch das eine Erfahrung, die Dietmar Grieser bei den Recherchen machen musste. Und das gerade bei dem Kapitel, das eigentlich am Buntesten hätte werden sollen:

"Was mich ein bisschen enttäuscht hat, war ein Kapitel, dass ich eigentlich mit besonderem Enthusiasmus angegangen bin, nämlich das über Hotzenplotz, das heutige Osoblaha, diesen kleinen Ort im äußersten Nordosten der Tschechischen Republik, dicht an der polnischen Grenze. Nicht nur, dass der heutige Zustand des Ortes im höchsten Grad zu wünschen übrig lässt - die Gegend war 1945 Frontgebiet, und in Hotzenplotz ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Davor hat sich der Ort bis heute nicht erholt. Für mich, der ich mich auf die Spuren von Otfried Preußlers Räuber Hotzenplotz machen wollte, kam dann noch erschütternd hinzu, dass in Osoblaha kein Mensch weiß, dass der Ort in die Literatur eingegangen ist. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Preußlers der Räuber Hotzenplotz im Gegensatz zu weniger bekannteren Werken von ihm nicht ins Tschechische übersetzt worden ist. Also davon hat man dort gar keine Kenntnis."

Schade, denn die patente Großmutter von Kasperl und Seppel, die nicht nur eine musizierende Kaffeemühle hat, sondern auch immer einen warmen Pflaumenkuchen auf dem Fensterbrett, die wäre ganz bestimmt auch nach dem Geschmack der Menschen in Hotzenplotz / Osoblaha, denn schließlich ist sie ohne Frage eine echt böhmische Babicka.

Übrigens ist auch die berühmteste Künderin der böhmischen Großmutter in Dietmar Griesers Buch vertreten, nämlich Bozena Nemcova, deren Roman "Babicka" als eines der Hauptwerke der tschechischen Nationalliteratur gilt. Geboren wurde Bozena Nemcova in Wien - ein weiterer Beleg für die engen Beziehungen zwischen den beiden Kronländern im alten Österreich. Geprägt aber wurde das junge Mädchen von der böhmischen Großmutter daheim in Skalice, so wie über Generationen hinweg zahllose andere Kinder von ihren böhmischen Großmüttern. Wer aber sich nun aber von dem Buch von Dietmar Grieser eine Phänomenologie der böhmischen Großmutter erhofft, den muss der Autor enttäuschen:

"Die böhmische Großmutter, das ist ein Buchtitel, und auch nicht mehr. Das ist eine Chiffre für Beziehungen jedweder Art - um dem ganzen eine gemütliche Note zu geben, habe ich eben die Großmutter ausgewählt. Bei den zahlreichen Lesungen erlebe ich aber immer wieder, dass die Leute kommen und sagen: Ich habe nicht nur eine böhmische Großmutter, sondern gleich zwei! Also sie fühlen sich davon sehr angesprochen."

Und das kann Dietmar Grieser von seinen Lesungen her bestätigen: Es gibt sie noch, die böhmische Großmutter, zumindest im Angedenken ihrer Enkel:

"Es gibt sie in der Erinnerung unzähliger Österreicher und in etwas geringerem Maße sicherlich auch in Deutschland. Hier in Wien ist das eine feste Größe, und dazu gehören noch ganz konkreten, manchmal etwas klischeehafte Erinnerungen: die gute Küche, das Treusorgende der Großmutter, die Festtage, wenn es zu Besuch in ihre Heimat ging, die Ferien in Böhmen, die vielen Röcke - das alles verdichtet sich dann in den Klischees. Manchmal aber kommen in der Erzählungen auch ganz starke und erschütternde Schicksale zum Vorschein, oft auch Geschichten der Vertreibung. Das ist also ein sehr komplexes Thema, das ich in meinem Buch nur habe antippen können. Mir wird aber berichtet, dass sich inzwischen viele Leute sich mit dem Buch unter dem Arm auf den Weg machen und es als Anlass nehmen, sich auf Spurensuche nach der eigenen Großmutter machen. Und davon erzählen Sie dann auch mir wieder - also mit dem Buch ist schon etwas losgetreten worden."

Fazit: Griesers Buch ist eine nicht nur geographisch wunderbar breit gestreute Auswahl an Essays zu den böhmischen Wurzeln Österreichs. Wer im altösterreichischen und modernen Böhmen bewandert ist, der wird Bekanntes wieder finden und einige neue Hinweise erhalten. Manchmal allerdings wird der Autor zu sehr selbst zum Touristen und vernachlässigt den Literatur-Detektiv, etwa, wenn er seine Einkäufe im Egon-Schiele-Museumsshop in Cesky Krumlov schildert, sich bei der Suche nach dem Wohnhaus Schieles aber mit Unbestimmtem begnügt. Denen aber, die sich erstmals auf Spurensuche in das unbekannte Nachbarland und in die verworrene Geschichte der tschechisch-österreichischen Verbindungen begeben, denen wird der Band mit seinen routiniert und flott geschriebenen Miniaturen ein kundiger Reisebegleiter sein.

Das Buch "Die böhmische Großmutter" von Dietmar Grieser ist im Wiener Amalthea-Verlag erschienen und kostet rund 20 Euro.