Der lange Weg zu Freiheit - vor 38 Jahren endete der Prager Frühling unter Panzerketten

The Soviet invasion in October 1968

38 Jahre sind vergangen, seit in den letzten Augusttagen des Jahres 1968 Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei den Prager Frühling niedergewalzt haben. Aus dem Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu errichten wurde für zwanzig lange Jahre wieder die hässliche Fratze der Diktatur. Wie erinnert man sich in Tschechien heute an den 21. August 1968? Eine neue Ausgabe der Reihe Forum Gesellschaft mit Thomas Kirschner.

21. August 1968
Der 21. August 1968 - ein nationales Trauma. In der Nacht zuvor, gegen 23 Uhr, hatten russische Panzer die tschechoslowakischen Grenzen mit Kurs auf Prag überschritten. Ihre Aufgabe: die angebliche Konterrevolution zu stoppen, die in der Tschechoslowakei und in ganz Europa hoffnungsvoll als Reformbewegung und als "Prager Frühling" begrüßt wurde. Die meisten Tschechen erfuhren erst am Morgen aus dem Rundfunk von der Okkupation. Während aus dem Radio das Unfassbare tönte, konnten die Prager über ihren Köpfen bereits die russischen Transportmaschinen hören, die im Minutentakt schweres Kriegsmaterial zum Flughafen Ruzyne brachten.

"Im Radio haben sie gesagt, dass wir überfallen worden sind. Das habe ich nicht glauben wollen - ich habe zwar gehört, wie die russischen Flugzeuge über Prag geflogen sind, aber trotzdem. Ich war neugierig, und da bin ich also zu Fuß Richtung Arbeit gegangen, hier am Rundfunk vorbei. Und da kamen von da oben schon die russischen Soldaten."

So erinnert sich der Rentner Antonin Mauric an den Morgen des 21. August 1968. Rund 90 Tschechen kamen in den ersten Wochen der Okkupation ums Leben, allein 58 davon am ersten Tag. Wie bereits im Mai 1945 stand auch 1968 das Gebäude des Tschechischen Rundfunks im Zentrum des Widerstands. Drei Tschechen wurden hier von Soldaten erschossen, zwei weitere Menschen starben nach einem Sprung aus dem Fenster, zwölf Todesopfer forderte die Explosion eines Munitionswagens. Die schrecklichen Szenen vor dem Rundfunkgebäude hat auch Antonin Mauric bis heute vor Augen:

21. August 1968 vor dem Prager Rundfunkgebäude

"Auf der anderen Straßenseite Tote und Verletzte! Die Bahnen sind nicht mehr gefahren. Also bin ich zu Fuß weiter gelaufen und habe geschaut, wo die Besatzungstruppen überall sind. Gegen Mittag war ich dann auf der Arbeit, ganz bespritzt mit Blut."

"Mir haben sie hier vor dem Rundfunk meinen Mann erschossen. Mein Sohn war damals 14 Jahre alt, ich habe wirklich schreckliche Erinnerungen an den Tag. Seitdem komme ich jedes Jahr hierher und lege hier immer eine rote Rose nieder - die ganzen 38 Jahre lang."

Seit dem Ende des kommunistischen Regimes ist Jaroslava Sadlikova nicht mehr allein mit ihrem Gedenken. An Ihren Ehemann, den damals 44-Jährigen Vaclav Sadilek und die anderen Opfer der Okkupation wird seitdem mit einer feierlichen Kranzniederlegung immer zum Jahrestag der Okkupation vor dem Rundfunkgebäude an der Vinohradska-Straße erinnert. Noch bis vor kurzem waren dabei an den Fassaden auf der anderen Straßenseite die Einschusslöcher vom August 1968 zu sehen, erinnerte der Generaldirektor des Tschechischen Rundfunks, Vaclav Kasik:

1968
"Eine Häuserfassade zu reparieren, das ist relativ einfach. Schlimmer ist, dass mir in den Gedanken immer und immer wieder der Film dieser Augusttage abläuft. Aber vielleicht ist es auch gut, sich diese Erinnerungen von Zeit zu Zeit wachzurufen, denn gerade hier, durch diese Straßen rund um den Rundfunk, ist abermals die Geschichte unseres Landes geschritten."

Eine Geschichte, die nicht vergessen werden darf. Das meint auch die Gymnasiallehrerin Milena Macurkova:

"Es ist wirklich wichtig, sich zu erinnern! Die Okkupation hat mich 20 der besten Jahre meines Lebens gekostet. Ich meine, dass die Tschechen mehr für die Erinnerung an diese Ereignisse tun sollten. Das ist wie in Deutschland, wo der Neonazismus aufblüht - dort sollte man auch mehr an das erinnern, was schlecht und was gut ist."

Im Augenblick unterrichtet Milena Macurkova Tschechisch an der Internationalen Sommerschule der Karlsuniversität. So hat sie gleich einige ihrer ausländischen Studenten mit zu dem Gedenkakt gebracht. Wie fast alle Tschechen, die diesen Tag bewusst erlebt haben, kann auch sie sich noch genau an den Morgen des 21. August 1968 erinnern:

August 1968 auf dem Wenzelspaltz in Prag
"Ich habe das sehr sonderbar erlebt, denn wir waren damals mit dem Zelt im Urlaub in Jugoslawien. Gleich morgens am 21. hat ein jugoslawischer Nachbar bei uns ans Zelt geklopft und gesagt: ´Die Russen besetzen euer Land!´ Und das war wirklich einer der schlimmsten Tage meines Lebens, denn dann haben wir im jugoslawischen Fernsehen gesehen, wie die Panzer auf dem Wenzelsplatz standen, das zerschossene Nationalmuseum - das alles war wirklich traurig für mich."

Fremde Panzer auf dem Wenzelsplatz - für die älteren Tschechen war es nach dem deutschen Einmarsch 1939 bereits das zweite Mal, dass sie machtlos mit ansehen mussten, wie ausländische Truppen das Land besetzen. Aber auch für die junge Generation waren die Ereignisse traumatisch. Daran erinnerte bei dem Gedenkakt am vergangenen Montag in Vertretung für Regierungschef Jiri Paroubek der tschechische Vizepremier Jiri Havel, Jahrgang 1957. Der Jahrestag der Okkupation ist für ihn stets ein Anlass zum Innehalten:

"Das hat vielleicht damit zu tun, dass dieses Datum im August eine besondere Bedeutung für mich persönlich hat. Ich habe am 20. August Geburtstag, und Premierminister Jiri Paroubek übrigens gerade heute am 21. August. Wir beide - ich als 11- und er als 16-Jähriger, haben diesen Tag als Lebenstrauma empfunden. Wir haben die sich überschlagenden Ereignisse voll miterlebt, und wir mussten gar nicht wissen, dass wir Zeugen der größten Militäroperation in Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren, um zu wissen, dass sich unser Leben von einem Tag auf den anderen unwiederbringlich ändern würde."

August 1968 auf dem Wenzelspaltz in Prag
Zu den Leidtragenden der nachfolgenden "Normalisierung", der Wiederherstellung von dem, was die Kommunisten unter geordneten Verhältnissen verstanden, gehört auch der heutige tschechische Verteidigungsminister Karel Kühnl, Jahrgang 1954. Mit 24 Jahren wurde er aus politischen Gründen von der Universität ausgeschlossen, kurzzeitig saß er auch in Haft. Zwei Jahre später, 1980, konnte Kühnl nach Österreich emigrieren. Was heißt es für ihn, heute als Minister einer demokratischen tschechischen Regierung auf die Ereignisse zurückblicken zu können?

"Zum einen bedeutet das die Erinnerung an die Leute, die hier ihr Leben verloren haben, und zum zweiten ist es eine Mahnung, dass die Freiheit ihren Weg immer findet, auch wenn es manchmal lange dauert. Ich bin sehr froh, dass wir heute in der Tschechischen Republik in der Freiheit leben können."

Eine Freiheit, die aber von allen Bürgern geschützt und verteidigt werden muss. Zweimal in den letzten Jahrzehnten, 1939 und 1968, hat sich in Tschechien die Freiheit als ein zerbrechliches Gut erwiesen. Kein Wunder, dass die alten Menschen im Lande skeptisch sind, ob die jetzige Freiheit von Dauer sein wird:

"Ich glaube da nicht so recht dran. Wenn man schaut, was sich heute in der Welt so tut, dann weiß man nicht, was noch alles kommen kann! Möge uns der Herrgott vor allem Übel beschützen!"